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Strategische Fragen linker Politik in Zeiten von Krieg und Krise
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Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
Den Krieg verlernen
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Heiner Dribbusch
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Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

31. Dezember 2022 Redaktion Sozialismus.de: Wahlgeschenke eines Autokraten

Erdoğans Kampf um die Verlängerung seiner Macht

In der ersten Hälfte des Jahres 2023 werden die Wahlberechtigten in der Türkei über ein neues Parlament abstimmen und ein Staatsoberhaupt wählen. Normalerweise stände die Wahl im Juni an, aber der genaue Termin ist noch offen, weil der bisherige Präsident Recep Tayyip Erdoğan sie aus verfassungsrechtlichen Gründen vorziehen will.

»Laut Verfassung kann ein Staatspräsident nur zweimal in Folge gewählt werden«, schreibt der türkische Journalist Bülent Mumay in der FAZ vom 29.12.2022, deshalb werde Erdoğan »das Parlament zu vorgezogenen Wahlen drängen und damit das Verbot der Bewerbung für eine dritte Amtszeit aushebeln«, und dabei für sich und seine islamisch-konservative AKP erneut eine Mehrheit erreichen. Der Wahlkampf läuft jedenfalls bereits (siehe dazu unseren Beitrag »Unappetitlicher Wahlkampf in der Türkei« auf Sozialismus.deAktuell vom 20.12.2022).

Der 68-Jährige steht seit 2003 an der Spitze des Staats, zunächst als Regierungschef, dann als autokratisch regierender Präsident (zuvor war er von 1994 bis 1998 Oberbürgermeister von Istanbul). Seit einer Verfassungsreform 2018 verfügt er über erweiterte Befugnisse und regiert nicht mehr in einem parlamentarischen, sondern in einem Präsidialsystem.

Die Regierungspartei Adalet ve Kalkınma Partisi (»Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung – AKP) steht aufgrund der Wirtschaftskrise und insbesondere angesichts einer riesigen Preissteigerungsrate erheblich unter politischem Druck. Die Inflation ist zwar im November leicht gesunken – auf 84,4%, nachdem sie im Oktober den höchsten Stand seit 24 Jahren erreicht hatte. Und folgt man aber den Statistiken der türkischen Gewerkschaften sind die Preise für Waren des täglichen Bedarfs in den von Erdoğan empfohlenen staatlichen Discountern sogar um 270% gestiegen.

Meinungsfragenumfragen zeigen einen deutlichen Rückgang in der Beliebtheit der AKP und ihres Spitzenkandidaten. Nach einer Umfrage über die Wahlabsichten würde die Partei des Präsidenten nicht mehr stärkste Partei werden und mit 24% deutlich weniger Stimmen erhalten als bei der letzten Wahl 2018, als sie von 42,5% der türkischen Bürger*innen gewählt wurde. Zusammen mit dem rechtsextremen Koalitionspartner MHP (momentan bei 5,9%, halb so viel wie 2018) käme die derzeitige Regierung auf nicht einmal 30%, würde also die absolute Mehrheit verlieren. Denn drei Viertel der Bevölkerung schätzen die wirtschaftliche Lage als katastrophal ein und 84% geben dem Präsidenten die Schuld daran. Die Regierung hat das Vertrauen der Mehrheit der Bürger*innen verloren.

Die Oppositionsallianz aus sechs Parteien um die landesweit stärkste Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei – CHP) setzt Erdoğan unter Druck. Nach einem durchaus möglichen Wahlsieg wollen sie mit Verfassungsänderungen die Befugnisse eines Staatspräsidenten deutlich einschränken, denn seit der Volksabstimmung 2017 kennt Erdoğans Machtausübung keine demokratisch gesetzten Grenzen mehr. Inzwischen hätten die Menschen genug von ihm. »Sie sagen, es reicht. Du bist müde geworden, zieh dich zurück. Es wird eine neue Ära beginnen«, schätzt der CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu die aktuelle Stimmung ein.

Der Großteil der türkischen Medien berichtet regierungsnah, kritische Medien geraten unter Druck, Journalisten werden verhaftet. Die Justiz fällt tendenziöse Urteile, so zuletzt gegen den populären Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu (ebenfalls CHP) und aussichtsreichsten Herausforderer des jetzigen Präsidenten, der in einem ominösen Prozess wegen angeblicher Beleidigung von Beamten der Wahlbehörden zu einer Haftstrafe von zweieinhalb Jahren und einem Politikverbot verurteilt wurde. Allerdings ist das Urteil noch nicht rechtskräftig.

Ob sich die Opposition gegen das Regierungsbündnis durchsetzen wird und eine Rückkehr zur Demokratie einleiten kann, hängt auch von den kurdischen Wählern ab. Die Kurden-Partei HDP gehört zwar nicht zur Oppositionsallianz, ihre Wähler könnten aber das Zünglein an der Waage sein. »Wenn die Kurden für die Opposition abstimmen, wird Erdoğan verlieren. Wenn sie nicht an die Wahlurne gehen, dann hat Erdoğan eine Chance zu gewinnen«, schätzt der Leiter des Zentrums für angewandte Türkeistudien, Günter Seufert, ein. Die aktuellen türkischen Angriffe in den Nachbarländern wirken wie ein Brennglas auf die Arbeit des Oppositionsbündnis. Wie es sich zu diesen Angriffen positioniert, ist entscheidend für das Wahlverhalten der Kurden. Den Präsident jedenfalls schreckt das Wählerpotenzial der HDP von mindestens 10% und er versucht, die Partei durch ein Verbot auszuschalten.


Ökonomischer Aufstieg mit AKP-Politik

Erdoğan, der seit fast 30 Jahren die politische Entwicklung seines Landes prägt, hatte mit der AKP zunächst die Abkehr von der kemalistischen Ordnung der Türkei durchgesetzt. Der Kemalismus ist seit 1931 zentraler Bestandteil des Parteiprogramms der von Atatürk 1923 gegründeten und heutigen größten Oppositionspartei CHP. Er war Produkt und zugleich Weiterentwicklung eines Nationalisierungsprozesses, der seine Wurzeln im Osmanischen Reich und Ideen aus Europa hatte.

Daraus formten Atatürk und die türkische Staatselite eigene nationale Vorstellungen und setzten diese in politisches Handeln um. Der Kemalismus sollte die Transformation zur Republik vollziehen und den Islam als »gesellschaftlichen Kitt« durch einen starken türkischen Nationalismus ersetzen. Seit der Machtübernahme der islamistischen AKP im Jahre 2002 ist jedoch eine Re-Islamisierung und ein Zurückdrängen des Kemalismus feststellbar.

Mit dem Verfassungsreferendum von 2017, das mit 51,4% knapp gewonnen wurde, festigte Erdoğan seine Machtstellung und ermöglichte den Umbau in ein autokratisches Präsidialsystem. Das knappe Ergebnis dokumentierte zugleich, dass die türkische Gesellschaft mit Blick auf den Präsidenten tief gespalten ist. Seine Anhänger feiern ihn frenetisch, seine Gegner sind vielerlei Repressionen ausgesetzt. Ob er weiterhin das Schicksal der Türkei bestimmen kann, hängt nicht zuletzt von der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes ab.

Denn der politische Aufstieg der AKP und der Ausbau zu einem autokratischen Herrschaftssystem war eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung der Türkei verbunden. Im Jahr 2003, als Erdoğan erstmals Ministerpräsident wurde, lag das Bruttoinlandsprodukt der Türkei nach Zahlen der Weltbank bei 314 Mrd. US-Dollar. Bis 2013, dem vorletzten Jahr seiner Zeit als Ministerpräsident stieg es rasant auf 957 Mrd. US-Dollar an. In zehn Jahren verdreifachte es sich, entwickelt sich seither aber stetig zurück und betrug 2020 nur noch 720 Mrd. US-Dollar. Die Arbeitslosigkeit blieb in diesem Zeitraum trotzdem relativ hoch und lag zwischen 8,4% und 13,7%. Zu Beginn des Jahres 2021 betrug sie 13,4%. Die Jugendarbeitslosigkeit (15 bis 24 Jahre) liegt seit vielen Jahren über 20%, häufig sogar näher an 30.


Wahlgeschenke: Erhöhung des Mindestlohns & Rentenreform

Dem autokratischen Präsidenten ist durchaus klar, dass die Folgen von Arbeitslosigkeit und Inflation vor allem seine Stammwähler*innen der unteren und mittleren Bevölkerungsschickt zu spüren bekommen, und zieht in der Vorwahlperiode alle Register. Laut Meinungsforschern nagt die Wirtschaftskrise »zwar an Erdoğans Zustimmungswerten, aber sie allein führt nicht dazu, dass sich die Menschen politisch umorientieren«.

Er hat für die Unterschichten eine Reihe an Wahlgeschenken parat: die Erhöhung des Mindestlohns, eine weitreichende Rentenreform, die Begrenzung der Preise für Lebensmittel und Medikamente und ein großes Wohnungsbauprogramm, mit denen seine Regierung die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise für die Bürger*innen zu lindern suche.

Der Mindestlohn wird Anfang Januar um 55% von 5.500 auf 8.500 Lira (das entspricht 431 Euro und liegt nach Aussagen der Gewerkschaften trotzdem nur knapp oberhalb der Armutsgrenze) angehoben. Etwa 40% der Beschäftigten in der Türkei werden nach dem staatlich festgelegten Mindestlohn bezahlt. Wie bei den beiden vorherigen Anhebungen dürften solche für Rentner und Beamte folgen. Erdoğan reagiert damit auf die galoppierende Inflation.

Der neueste Coup des unter dem Druck hoher Inflationszahlen und schlechter Umfragewerte stehenden Präsidenten: Änderung des Rentensystems. Bislang galt in der Türkei ein Mindestalter von 60 Jahren für Männer und 58 für Frauen. Nun wird das Mindestalter aufgehoben, damit haben mehr als zwei Millionen Bürger*innen die Möglichkeit, sofort in den Ruhestand zu gehen. Notwendige Voraussetzung dafür seien eine sozialversicherungspflichtige Berufstätigkeit von 20 bis 25 Jahren sowie ein Arbeitsbeginn vor September 1999, als die Ruhestandsregeln verändert worden waren.

Wieviel Berechtigte von der neuen Möglichkeit Gebrauch machen können oder aber weiterarbeiten müssen, um ihr Einkommen zu sichern, ist schwer einzuschätzen. Auf jeden Fall bildeten sich nach der Ankündigung Erdoğans türkischen Medienberichten zufolge lange Schlangen vor den Büros der Sozialversicherungsanstalt, derzeit gibt es in der Türkei 13,9 Millionen Rentner. Während der Präsident die Zusatzkosten nicht beziffern wollte, zitieren Agenturen Regierungskreise, wonach das Projekt im ersten Jahr rund 250 Mrd. Lira (12,5 Mrd. Euro) kosten werde. Der Betrag wird sich in den kommenden Jahren wahrscheinlich erhöhen, da die Zahl derjenigen, die davon profitieren, auf fünf Millionen ansteigen dürfte. Der türkische Staatshaushalt für das neue Jahr 2023 sah bisher Ausgaben von 4,47 Billionen Lira (224 Mrd. Euro) vor.


Die Risiken für türkische Wirtschaft steigen

Die OECD erwartet für 2023 noch ein Plus des türkischen Bruttoinlandprodukts von 3% nach 5,3% in diesem Jahr. »Die Risiken sind hoch und dürften eher zunehmen« urteilt sie in ihrem jüngsten Konjunkturbericht zur Türkei. Unter anderem heißt es dort: »Weitere erhebliche Mindestlohnerhöhungen könnten ebenfalls zusätzlichen Lohn- und Preisdruck auslösen.« Die schwierige wirtschaftliche Lage wird vom Verfall der türkischen Lira begleitet, die im vergangenen Jahr fast 30% ihres Wertes verloren hat.

Ein »negativer Vertrauensschock« aufgrund wachsender makroökonomischer Ungleichgewichte könnte zu einem chaotischen Anpassungsprozess führen, der wiederum eine stärkere Lira-Abwertung und einen Anstieg der Inflation auslösen könnte. Um das zu vermeiden, seien strukturelle Reformen und ein höherer Leitzins notwendig. Das aber kollidiert damit, dass sich die türkische Notenbank im Gegensatz zu vielen anderen Zentralbanken auf Geheiß Erdoğans nicht mit Zinsanhebungen gegen die Teuerung stemmt. Vielmehr senkte sie ihren Leitzins zuletzt mehrmals.

Der Staatspräsident hat es der Notenbank untersagt, die Inflation mit hohen Leitzinsen zu bekämpfen. Stattdessen hat er sie genötigt, den Leitzins auf 9% zu senken. Mit billigem Geld will er die Exportindustrie ankurbeln und das Wachstum befeuern (siehe dazu ausführlicher Redaktion Sozialismus.de: »Die Inflation gerät außer Kontrolle. Die Türkei ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen« auf Sozialismus.deAktuell vom 9.6.2022 sowie Joachim Bischoff: »Erdoğan als wendiger Politiker« auf Sozialismus.deAktuell vom 27.7.2022).

Außerdem feilt Erdogan an seinem internationalen Image. Im Krieg gegen die Ukraine gibt er sich bei den blockierten Getreide-Lieferungen als Vermittler. Am längeren Hebel positioniert sich der türkische Präsident bei der Frage über den NATO-Beitritt von Schweden und Finnland. Zugleich droht er der Europäischen Union mit einem möglichen Flüchtlingsstrom. Und auch bei dem Konflikt mit Griechenland lässt er die Muskeln spielen und droht dem Nachbarland erneut mit einem Raketenbeschuss. Die beiden historisch verfeindeten NATO-Verbündeten Griechenland und Türkei streiten seit Jahrzehnten über die Hoheitsrechte und Wirtschaftszonen im östlichen Mittelmeer sowie um den militärischen Status von zwei Dutzend griechischen Ägäisinseln. Auch diese außenpolitischen Manöver zielen auf die anstehende innenpolitische Abstimmung.

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