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3. April 2021 Redaktion Sozialismus.de: Erneute Auswechslung des Notenbankchefs

Erratische Politik des türkischen Präsidenten

Foto: dpa

Die Absetzung von Notenbankchef Naci Ağbal und der Umbau der Kreditpolitik durch Präsident Recep Tayyip Erdoğan belastet die türkische Wirtschaft schwer – vor allem die Währung.

Der chronische Wertverfall der Lira bewirkt zum einen anhaltende Tendenz zur Erhöhung des Lebensunterhalts der breiten Bevölkerung, deren Einkommen hinter den Preissteigerungen zurückblieben. Auf der anderen Seite werden für Unternehmen die Tilgungen für die Fremdwährungskredite schwieriger. Die Auslandsschulden belaufen sich auf umgerechnet knapp 440 Mrd. US-$ (davon entfallen ein Drittel auf Haushalte und Unternehmen) – und davon nahezu 90% in US-$ oder Euro. Problematisch, wenn die eigene Währung zur Rückzahlung immer schwächer wird.

Noch Anfang März hatte der türkische Präsident ein umfangreiches Reformpaket angekündigt und wollte die Bekämpfung der Preissteigerungen sowie den Wertverlust der Lira ins Zentrum rücken. Die Regierung werde sich auf die Stabilisierung der öffentlichen Finanzen, die Inflationsbekämpfung, Stärkung des Finanzsektors, Bekämpfung des Leistungsbilanzdefizit und der Expansion der Beschäftigung konzentrieren, hieß es. Ziel des Umbaus in der Wirtschaftspolitik sei es, Investitionen, Produktion, Arbeitsplätze und Exporte anzukurbeln. Das Land könne Wachstumspotenziale durch eine höhere Produktionseffizienz ausschöpfen. Anzustreben sei eine Volkswirtschaft, die weniger importiere und mehr ausführe.

Damit rührte Erdoğan an ein von Ökonomen lange kritisiertes Grundmuster der türkischen Wirtschaft. Seit Jahren importiert sie mehr als sie ausführt. Voriges Jahr kam der Wert der exportierten Güter auf knapp 80% der Einfuhr – weshalb das Land auf einen hohen Zustrom ausländischen Kapitals zur Finanzierung angewiesen ist. Währungsabwertungen wie in den vergangenen Jahren helfen zwar Exporteuren, erschweren aber die Rückzahlung der in Dollar oder Euro aufgenommenen Kredite.

Abrupt und ohne weitere Begründung wurde diese neue Wirtschafts- und Währungspolitik Ende März abgesetzt. Erst im November 2020 war Ağbal als Notenbankchef ernannt worden und galt als Hoffnungsträger, dem eine Sanierung der türkischen Wirtschaft zugetraut wurde. In seiner fünfmonatigen Amtszeit hatte er mehrfach die Zinsen erhöht – zuletzt von 17% auf 19%. Diese straffere Kreditpolitik sorgte für eine kurzzeitige Werterholung der Lira. Doch auch Ağbal konnte dem Konflikt mit Erdoğan nicht ausweichen, der ein erklärter Gegner hoher Zinsen ist. Beobachter fürchten nach der personellen Neubesetzung der türkischen Notenbank eine deutlich schwächere Lira und steigende, inflationäre Preisbewegung.

Der erneute Kurswechsel der Wirtschafts- und Währungspolitik mit der Entlassung des Notenbankchefs ordnet sich in weitere konfrontative Maßnahmen der politischen Führung der Türkei ein:

  • Die Justiz reichte einen Verbotsantrag gegen die prokurdische HDP ein, die drittgrößte Partei des Landes.
  • Der Präsident verkündete den Austritt aus der Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen.
  • Die Regierung entzog der oppositionellen Stadtverwaltung Istanbuls die Kontrolle über den symbolträchtigen Gezi-Park.

Ein gewichtiges Problem für die Türkei ist aktuell die hohe Inflation, die im Februar bei 15,6% lag. Wegen der längeren Zeit sehr niedrigen Zinsen ist die Kreditvergabe in der ersten Jahreshälfte 2020 stark expandiert, wovon die Wirtschaft zunächst profitierte – zum Beispiel die Bauindustrie. Die Türkei gehörte zu den wenigen Ländern weltweit, deren Wirtschaft im Pandemiejahr 2020 gewachsen ist. Dies hat aber zu steigenden Preisen geführt. Zudem sind durch die Schwäche der Lira Importe aus dem Ausland deutlich teurer geworden.

Das Land leidet seit Jahren unter einer chronischen Finanz- und Währungsschwäche, ist aber dank staatlicher Stützungsmaßnahmen und der Ausweitung verbilligter Kredite vergleichsweise gut durch die Corona-Krise gekommen. Allerdings wurde das durch die rasante Geldentwertung erkauft, was auch zu einem Vertrauensverlust bei inländischen und internationalen Investoren führte. Die Arbeitslosenrate von gut 12% – die der jungen Generation ist doppelt so hoch – untergräbt das Vertrauen der breiten Bevölkerungsschichten in die Politik.

Erdoğan hat die Förderung von Investitionen, Erleichterung im Inlandshandel, eine Stärkung der Wettbewerbspolitik und Marktüberwachung versprochen. Für die 850.000 Kleinunternehmen brachte er niedrigere Einkommenssteuern ins Gespräch. Mit einem staatlichen Garantiefonds könnten Unternehmen, die selbst Anleihen begeben, unterstützt werden, kleine Betriebe würden staatliche Kredite bekommen, falls sie die Beschäftigung ausweiten. Die Reformen institutionell begleiten sollen ein Rat für wirtschaftliche Koordinierung unter Leitung von Vizepräsident Fuat Oktay sowie ein Finanzstabilitätsrat unter der des im November neu ernannten Finanzministers Lütfi Elvan.

Der erneute Wechsel an der Spitze der Notenbank hat den Hintergrund, dass die türkische Regierung einer drastischen Lira-Abwertung auf längere Sicht nicht tatenlos zusehen kann. Erdoğan wollte und will an der Grundorientierung der AKP festhalten: Mit günstigen öffentlichen Krediten soll die Infrastruktur weiter ausgebaut und so die Modernisierung der Gesamtwirtschaft entwickelt werden. Für eine solche Politik sind hohe Zinsen Gift.

Der nun neu ernannte Notenbankchef Şahap Kavcıoğlu ist auch ein Anhänger der niedrigen Zinsen. Sein Credo lautet: »Die Zinsen rund um die Welt sind nahe null. Eine Anhebung in der Türkei zu erwägen, wird unsere wirtschaftlichen Probleme nicht lösen.« Mit dem personellen Umbau an der Spitze der Notenbank und dem Kurswechsel in der Kreditpolitik ist zunächst der Versuch der währungs- und wirtschaftspolitischen Stabilisierung der Türkei abgebrochen. Was treibt den türkischen Autokraten zu dieser Stopp-und-Go-Politik?

Der türkische Modernisierungsprozess der letzten beiden Jahrzehnte unter der Regierung der AKP wurde getragen von einem expandierenden Bausektor, wobei aufwändige öffentliche Infrastrukturvorhaben die Basis darstellten. Diese Projekte dienten vielfach auch der Mehrung des Prestiges des Regimes und vor allem des immer autokratischer Agierenden Präsidenten Erdoğan. Insbesondere im Infrastrukturbereich schrieb der Staat zahlreiche Projekte aus, für die zwar durchaus ein Bedürfnis existierte und die allerdings auch der symbolischen Vision vom Aufbruch der Türkei folgten.

Angesichts der oft gewaltigen Dimensionen wurde deutlich, dass die großen Bauprojekte auch einer politischen Agenda dienten. Exemplarisch können hier genannt werden:

  • das Mega-Projekt des Großflughafen Istanbul, mit dem die Türkei zu einem der wichtigsten Drehkreuze der Luftfahrt werden wollte
  • der überdimensionierte Präsidentenpalast
  • die dritte Brücke über den Bosporus in Istanbul, eine der breitesten Hängebrücken der Welt
  • der auf 365 m Höhe geplante neue Fernsehturm
  • oder das in Planung befindliche Vorhaben eines parallel zum Bosporus verlaufenden zusätzlichen »Kanal Istanbul« zwischen dem Schwarzen und dem Marmarameer.

Finanziert wurden die Projekte meist durch Fremdwährungskredite. Im Zuge der dramatischen Lira-Abwertung wurden diese Verbindlichkeiten für jene Unternehmen, die ihre Einnahmen vor allem in der Türkei erzielen, viel teurer als kalkuliert. Darunter leiden heute viele Firmen.

Bei diesen politisch-symbolisch aufgeladenen Prestigeprojekten wurden offenkundig zugunsten der gewünschten Monumentalität oft Abstriche bei der Wirtschaftlichkeit gemacht. Um dennoch Investoren zu gewinnen, hat der Staat die Risiken für die Geldgeber verringert, indem er Mindesteinnahmen zusicherte, teilweise auch in harter Fremdwährung. Wenn angesichts der schwierigen Wirtschaftslage in der Türkei von einer Schuldenkrise gesprochen wird, ist damit in erster Linie die finanzielle Lage dieser Firmen gemeint. Der Staatshaushalt steht mit einer Verschuldungsquote von etwa 30% noch immer solide da.

Zu einem der aufwändigsten Vorhaben gehört der »Kanal Istanbul«, der bis zum 100. Jubiläum der Gründung der modernen Türkei im Jahr 2023 fertiggestellt sein soll. Er soll die wichtigste Wasserstraße der Türkei und bislang einzige Verbindung zwischen Marmarameer und Schwarzem Meer mit mehr als 40.000 Durchfahrten im Jahr entlasten. Die von der Regierung auf 75 Milliarden Lira, von unabhängigen Experten aber auf weit höhere Beträge veranschlagten Kosten für den Kanal werfen nicht nur ökologische, sondern auch Fragen nach dem wirtschaftlichen Nutzen auf.

Ökologen warnen vor verheerenden Folgen für die Umwelt, wenn eine zweite Verbindung den Wasseraustausch zwischen den beiden Meeren aus dem Gleichgewicht bringt. Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu sprach angesichts der wirtschaftlich-sozialen Notlagen im Land von einer »irrwitzigen Summe«. Der Politiker der Oppositionspartei CHP ist einer der prominentesten Gegner des Projekts, im November letzten Jahres hat die Staatsanwaltschaft wegen einer Plakatkampagne der Stadtverwaltung gegen den Kanal eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet. Der türkische Präsident dagegen ordnet den künftigen Kanal als Chance zur politischen Aufwertung der Türkei ein.

Erdoğan will in Fortsetzung der AKP-Politik das Jubiläumsjahr 2023 zu einem Höhepunkt der Modernisierung und der politischen Neuinszenierung der Türkei machen. Zugleich erschweren die ökonomischen Entwicklungslinien aber die Realisierung dieser Vision und es wird immer deutlicher, dass diese Zielsetzung vor wachsenden Hindernissen steht. Das hektische Hin und Her des Autokraten im Zusammenhang mit der Besetzung der Notenbankpräsidentschaft ist auch Ausdruck davon, dass er zu realisieren beginnt, wie dramatisch es um die türkische Wirtschaft steht und wie sehr die Unzufriedenheit darüber seine Macht gefährdet.

Das Leben wird für die Bürger teurer, Unternehmer können ihre Kredite nicht mehr bedienen. Die Zentralbank hat einen Großteil ihrer Reserven verbrannt, um die Währung zu stützen, und dennoch fiel der Wert der Lira immer weiter. Gleichzeitig wird es wegen der außenpolitischen Verwerfungen und der repressiven Rechtsverhältnisse immer schwieriger, Investoren ins Land zu holen. Auch die unverzichtbaren Deviseneinnahmen aus dem Urlaubstourismus mussten wegen der Corona-Pandemie drastisch abgeschrieben werden. Der Politikwechsel in den USA und die Reaktionen auf die Explorationsmanöver im Mittelmeer haben die Handlungsspielräume der Türkei weiter eingeschränkt. Der Türkei drohen wegen des Kaufs des russischen Luftabwehrsystems S-400 zudem schärfere Sanktionen.

Die politische Zielsetzung der AKP stützte sich in den letzten 20 Jahren immer auf einen Ausbau des Wohlstands für breitere Bevölkerungsschichten. Die wachsende Unzufriedenheit über die schwierige Wirtschaftslage und die Hindernisse bei dem Ausbau der öffentlichen Infrastruktur hat diese politische Formation spürbar an Unterstützung gekostet. Die nationalistische Mobilisierung während außenpolitischer Krisen und populistische Manöver wie die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee haben keine dauerhafte Trendwende in der verbreiteten politischen Skepsis gegenüber der AKP gebracht.

Die Bewegung AKP ist seit dem Übergang auf das Präsidialsystem auf ihren Koalitionspartner, der ultranationalistischen Partei MHP, angewiesen, um mehrheitsfähig zu bleiben. Die politische Führung der AKP zielt auf eine Ansprache der potenzielle Wähler der Mehrheit, insbesondere die religiös-konservativen und um nationalistische Milieus. Da im Jubiläumsjahr 2023 zugleich reguläre Wahlen anstehen, soll der Durchbruch zu einer neuen Zeit für die Türkei inszeniert werden. Unverzichtbar ist in der Sichtweise der jetzigen politischen Führung dafür ein kreditgetriebenes Wachstum, das durch öffentliche Infrastruktur-Projekte angetrieben wird, und das auf niedrigen Finanzierungskosten basiert. Das ist der Hintergrund von Erdoğans neuerlichem Weckruf: Die Türkei kämpfe gegen ein »Teufelsdreieck aus Wechselkursen, Zinssätzen und Inflation«.

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