23. September 2013 Joachim Bischoff / Richard Detje: Die Bundestagswahl 2013
Erschütterung der »Berliner Republik«
Die Bundestagswahl 2013 stellt eine Zäsur in der politischen Entwicklung der Bundesrepublik dar (eine ausführliche Analyse des Wahlergebnisses haben Joachim Bischoff, Hasko Hüning und Björn Radke inzwischen in Heft 10-2013 vorgenommen; siehe die Leseprobe).
Das Moment der Kontinuität unter der Kanzlerschaft Angela Merkels täuscht. Die Unionsparteien haben nach vier Jahren ökonomisch-sozialer Krisenpolitik bei leicht gestiegener Wahlbeteiligung über 3,5 Millionen Stimmen hinzugewonnen (ein Plus von 7,7%).
Die griffige Formel, Merkel habe sich der Parole von Adenauer aus dem Jahr 1957 – »Keine Experimente« – bedient, trifft die Verschiebung in den politischen Kräfteverhältnissen nicht. Die Union wurde unter der Führung von Angela Merkel in den zurückliegenden Jahren modernisiert; unter der Formel »Maß und Mitte« hat sich die Union weiter in die »Mitte« der Gesellschaft vorgeschoben, ihren nationalkonservativen Flügel verkümmern lassen und die Verteidigung der neoliberalen Deregulierungspolitik den Liberalen zugeschoben, denen das möglicherweise ihre politische Existenz kostet.
1.
Wahlsieger wurden die Christdemokraten mit 41,5%. Mit gut 18 Mio. WählerInnen ist es der CDU/CSU-Führung erstmals wieder gelungen, das bürgerliche Lager weitgehend in ihren Reihen zusammenzuführen. 2005 gelang die Absetzung von Rot-Grün nur mit dem schlechtesten Wahlergebnis der Nachkriegszeit (1949 ausgenommen) – die zweite große Koalition war ihr Rettungsanker. 2009 sicherte dann die FDP die Regierungsgeschäfte, während CDU/CSU über ein Drittel der WählerInnen – weit entfernt von einer strukturellen Mehrheitsfähigkeit in einem Land, in dessen 65jähriger Geschichte sie 44 Jahre den Regierungschef stellte – nicht hinaus kamen.
Dahinter steht mehr als politischer Swing, mehr als Wähleraustausch. Wenn es mittlerweile nicht recht abgegriffen klingen würde, müsste man von der Verschiebung von Hegemonialverhältnissen sprechen. Ohne Zweifel: Mit Privatisierung, Flexibilisierung und Umverteilung zu Lasten der bedürftigen und lohnabhängigen Klassen – man werfe nur einen Blick auf die Lohn- und Sozialleistungsquote – wurde das deutsche Wettbewerbsregime optimiert.
Dennoch haben CDU/CSU einen – innerparteilich zum Teil heftig umstrittenen – Modernisierungsprozess durchlaufen. Abschaffung der Wehrpflicht, Ausstieg aus der Atomenergie, Mindestlöhne, Mietendeckelung, öffentliche Kinderbetreuung, Teilausstieg aus dem gegliederten Bildungssystem, gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind Themen, in denen sich die Merkel-CDU gesellschaftlichen Mehrheiten angepasst hat, gegen die der organisierte Konservatismus in Deutschland noch vor Jahren verbissen zu Felde gezogen war. Viel davon kann man als nachholende Modernisierung bezeichnen.
Ursächlich sind weniger ideologische Kurswechsel (»Sozialdemokratisierung der CDU«), als vielmehr reale Problemlagen. So ist Deutschland noch eines der wenigen Länder in Europa, das keinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn hat (oder ein entsprechend funktionelles Äquivalent wie eine hohe Tarifbindung beispielsweise in Österreich). Nahezu ein Viertel der Lohnabhängigen arbeitet im Niedriglohnsektor – in der EU nur noch übertroffen von Litauen. Die Folge: Wachsende Lohnspreizung und Konkurrenz bringen soziale Unsicherheit und Ängste auch für relevante Teile der so genannten Mittelklassen. Auf deren Unterstützung kann eine politische Kraft mit hegemonialem Anspruch aber nicht verzichten.
Die politische Strategie der Merkel-CDU läuft darauf hinaus, sich diesen auch mentalen Veränderungen anzupassen. Und nur in dem Maße, indem sie dies tut, ist sie in der Lage, politische und gesellschaftliche »Sicherheit« als Botschaft zu kommunizieren. Verschiedentlich ist dies als mitfühlender Konservatismus (»compassionate conservatism«) bezeichnet worden. Man mag über den Begriff streiten, steht doch dahinter keine neue »Weltanschauung« im Sinne Gramscis, kein neues Programm eines integrierten Bürgerblocks. Merkels Methode der politischen Arbeit ist eine andere: pragmatisches Abarbeiten von Problemen und Widersprüchen, die einem »muddling through« im Wege stehen. Darin steckt auch Anpassung an die Krise der politischen Repräsentation. Dass von der politischen Klasse umfassende Lösungsangebote nicht mehr erwartet werden, macht gerade die Stärke ihrer Methodik des Durchwurschtelns aus.
Damit wiedersprechen wir Auffassungen, die das Wahlergebnis als Ausdruck sozialer und ökonomischer Befriedung deuten. Sowohl in eigenen Befragungen[1] als auch in demoskopischen Befunden wird vielmehr erhebliches Unbehagen artikuliert. Um eine jüngste Umfrage zu zitieren: »Deutschland wird als ein bedrohtes Paradies erlebt, in dem Werte wie Gerechtigkeit langsam erodieren. Die Zukunft ist für die Wähler derzeit nicht mit verheißungsvollen Vorstellungen verbunden, sondern sie erscheint hauptsächlich als finstere Drohkulisse und Krisenszenario. Das Schreckgespenst der Krise lauert immer noch vor den Grenzen Deutschlands.«[2]
2.
Colin Crouch‘s Deutung des »Neoliberalismus« mit der in der Krise noch gewachsenen Macht von Banken und transnationalen Unternehmen erklärt in dieser Situation wenig. Der Absturz der FDP auf 4,8% der WählerInnen und damit unter die Hürde der nationalen parlamentarischen Existenz spricht gegen das »befremdliche Überleben des Neoliberalismus«. Eine Funktionspartei, die nur noch in einem Bundesland in einer Regierungskoalition steckt (Sachsen), erübrigt sich. Und mehr Rollen als die eines Mehrheitsbeschaffers und Klientelversorgers verstand die Parteiführung nicht zu spielen. Mit neoliberaler Ankündigungspolitik samt rabiaten Steuersenkungen, breitflächiger Privatisierung und Gewerkschafts-Bashing ging sie unter.
Dass Organisationen wie der Bundesverband der Deutschen Industrie dies bedauern, ist nachvollziehbar. Möglicherweise reichen deren Möglichkeiten zur Parteienfinanzierung aus, um den wirtschaftlichen Kollaps der FDP aufzuhalten – die Wahlkampfkostenerstattung fällt jedenfalls niedrig, die Wahlkampfverschuldung umso höher aus, Abgeordnetengelder entfallen. Doch mit der Auswechselung der Führungsmannschaft müsste schon eine neue Leitidee des »organisierten Liberalismus« verknüpft sein, die derzeit – auch in Zeiten eines globalen Geheimdienstnetzwerks, das einem Liberalismus a la Gerhard Baum jede Menge Munition geliefert hätte – nur schwer zu erkennen ist.
Nun sortiert sich das rechtsbürgerliche Lager neu. Mit der »Alternative für Deutschland« (AfD) hat eine in größeren Teilen rechtspopulistische Mannschaft in kürzester Zeit (seit Mai/Juni 2013) starken Zulauf erhalten und ist nur knapp mit 4,7% (über zwei Millionen WählerInnen) am Einzug in den Bundestag gescheitert. Der AfD-Vordenker Gauland kommentiert wohl zu Recht: »Wenn die FDP in der schwarz-gelben Koalition ihre Versprechen gehalten hätte, dann gäbe es die AfD heute nicht, wir sind gewissermaßen die politischen Erben der FDP.«
Die AfD stellt die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen ins Zentrum, sie zementiert das nationalstaatliche Gehäuse (von der Währung bis zur Staatsbürgerschaft), gleichgültig wie die europäischen Nachbarstaaten ihre massive Krise bewältigen. Einwanderung ja, aber nur ohne Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen und sozialem Ausgleich. Diese radikalisierte Haltung, die sich schon in der CSU-Parole von einer Maut für Ausländer artikulierte, bietet Stoff für rechtspopulistische Programmatik.
Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai kommenden Jahres sehen die Chancen für AfD noch besser aus, zumal, wenn es erneut gelingt, die populistischen Kräfte aus der Rumpf-FDP abzuziehen. Eine äußerst brisante Neuformierung – um den Begriff der »Normalisierung« zu vermeiden – des bürgerlichen Lagers zeichnet sich damit in Deutschland im Anschluss an Verhältnisse wie beispielsweise in Österreich ab.
3.
Arithmetisch hätte Mitte-Links eine knappe Mehrheit. Doch das ist nicht mehr als ein Rechenexempel – zumal 9,5% FDP-/AfD-Stimmen unter den Tisch fallen. Die rechnerische Mehrheit ist keine politische.
Dabei war und ist die Ausgangslage für eine soziale Linke selten günstig. »Soziale Gerechtigkeit« ist der zentrale Topos der gesellschaftlichen und politischen Stimmungslage in Deutschland. Darin mischt sich zweierlei. Zum einen nach wie vor vergleichsweise entspannte Lebensverhältnisse jenseits der prekarisierten Schichten der bundesdeutschen Gesellschaft; die eigene private Existenz ist zwar nicht unerschütterlich, aber stellt sich trotz wachsender Erschöpfung in der Arbeitswelt als einigermaßen sicher und gestaltbar dar. Zum anderen jenes bereits angesprochene Unbehagen, das zum Ausdruck kommt, wenn man an die gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Perspektiven denkt.
Der SPD-Vorsitzende Gabriel hatte den programmatischen Erneuerungsprozess der Sozialdemokratie – der nach der desaströsen Niederlage 2009 eröffnet wurde – auch mit Blick auf die Kritik an der neoliberalen Deregulierungs- und Privatisierungspolitik gebündelt: Die »Bändigung des Kapitalismus« sei mehr denn je Aufgabe der SPD und europäischen Sozialdemokratie. »Heute wissen wir, Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit setzen sich nicht einfach als ›geschichtliche Notwendigkeit‹ durch. Es kommt immer wieder vor, dass einst mühsam erkämpfte Errungenschaften in Gefahr geraten. Ich hoffe aber, dass wir nicht mal mehr zehn Jahre brauchen, um unser aktuelles größtes Problem in den Griff zu bekommen: die Bändigung des Finanzkapitalismus. Das ist unsere aktuell wichtigste Aufgabe.«
Neuausrichtung hieße demnach: die Macht der Finanzmärkte zu brechen, die überbordende Staatsverschuldung zu senken, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich wieder zusammenzuführen und die ökologische Frage, also die ungebremste weltweite Erwärmung unseres Planeten, zu beantworten.
Die SPD hat sich bewegt. Durch Korrekturen in der Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik soll die unter dem Druck der ökonomisch-sozialen Verhältnisse zerbröselnde gesellschaftliche Mitte stabilisiert werden. Gleichwohl, die WählerInnen haben ihr das nur partiell abgenommen. Der untergründige Stolz der SPD-Führung auf die Agenda 2010 hat viele Stimmbürger abgehalten, zur Sozialdemokratie zurückzukehren. Jetzt wird die SPD ohne Denkpause wiederum in eine Koalition eingebunden, mit der die Bändigung des Finanzkapitalismus auf längere Zeit vertagt wird.
Die SPD hat bereits am Wahlabend zu Erkennen gegeben, dass für sie eine große Koalition mit CDU/CSU das Mehrheitsmodell der neuen Legislaturperiode sein wird. Die Crux: Eine Aufarbeitung darüber, weshalb es dieser 150 Jahre alten Partei nicht mehr gelingt, Mehrheiten zu organisieren, und was die Gründe dafür sind, dass sie bei einem Viertel der WählerInnen verharrt (25,7%), bleibt ihr mit dem schnellen Einstieg in die neue Regierung Merkel versagt.
Dabei ist offenkundig, dass ihre vermeintliche Integrationsformel von »wirtschaftlicher Dynamik« (Agenda 2010) und »sozialer Teilhabe« (Neuaustarierung sozialer Regulierung, Beispiel Leiharbeit und Mindestlohn) abgegriffen und durch soziale Zumutungen entwertet ist. Ihr Programm ist formelhaft geblieben, blass im Hinblick auf Krisen- und Zukunftsherausforderungen – und ihr Personaltableau verleiht dieser Blässe nur Ausdruck. Für die Gesamtlinke absolut kein Anlass zur Häme: Ohne eine erneuerte Sozialdemokratie bleibt die Idee einer politischen Mehrheit für die Linke Illusion.
4.
Das Wahlergebnis der Grünen überrascht nicht wirklich. 10,7% markierten in der Bundeswahl von 2009 den Aufstieg in die parteipolitische Spitzenliga. Vor zwei Jahren, unter dem Eindruck des Atom-GAUs in Fukushima, stiegen sie noch im Stimmungshoch. Sicher, Zustimmungswerte von über 20% waren eine Überzeichnung, die auf mittlere Sicht keinen Bestand haben konnte. Allerdings sahen die Demoskopen die Grünen im Frühjahr 2013 noch bei 15-16% und in der grünen Partei hatte sich eine Hochstimmung breitgemacht: Es schien ein Ergebnis erreichbar, das deutlich über dem von 2009 lag.
Im Gegensatz zum parteioffiziellen Optimismus hatte aber in den letzten Monaten vor der Wahl ein kontinuierlicher Sinkflug eingesetzt. Im Ergebnis sind die Grünen mit 8,4 % unter ihrem Wahlergebnis von 2009 angelangt. Verprellt wurden rund eine Million StimmbürgerInnen oder 20% der UnterstützerInnen von 2009.
Nach der Wahlniederlage rumort es in den Parteigremien; die Parteiführung hat einen inhaltlichen und personellen Neuanfang angekündigt. Wohin allerdings die Reise gehen soll und wer den grünen Bus steuert, bleibt im Ungefähren.
5.
DIE LINKE hat ein überraschend gutes Wahlergebnis erzielt. Sie wurde drittstärkste Partei vor Grünen und CSU. Sie hat zwar gegenüber 2009 knapp 1,5 Millionen Stimmen weniger mobilisieren können, aber die 8,6% im Bund und der Wiedereinzug in den hessischen Landtag hätten ihr auch parteiintern vor Wochen nur wenige zugetraut. Selbst in den westlichen Bundesländern kam sie wieder über 5%, was ihre Rolle als bundespolitische Partei unterstreicht. Die Linkspartei hat den drohenden Niedergang seit dem Göttinger Parteitag 2012 abgewendet, was sicherlich eine politische Leistung der neuen Fraktions- und Parteiführung ist.
Die Linkspartei hat sich in Absetzung von den langjährigen ideologischen Grabenkämpfen für eine Überwindung neoliberaler Politik eingesetzt. Die Kriegsrhetorik der Westmächte im syrischen Bürgerkrieg verdeutlicht die Position der LINKEN, dass die zurückliegenden Kampfeinsätze im Irak oder Afghanistan keinen Fortschritt in der Lösung der Konfliktkonstellationen gebracht haben. Das Argument, dass mit militärischen Mitteln gravierende gesellschaftliche Fehlentwicklungen und Bürgerkriegssituationen nicht zu lösen sind, hat deutlich an Zustimmung gewonnen.
Die Linkspartei wird keinem Druck der Koalitions- und Regierungsbildung ausgesetzt sein. Im Unterschied zur Sozialdemokratie könnte der Wahlerfolg zu einer weiterführenden, selbstkritischen Entwicklung der Organisation und Verstärkung der politischen Strategie genutzt werden, auch was die Aufarbeitung von deutlicheren Verlusten in ostdeutschen Bundesländern anbetrifft. Eine selbstbewusste Linke wird sich darüber klar werden müssen, dass mit Eingriffen in die Verteilungsverhältnisse Rückwirkungen auf die Produktionsstrukturen entstehen. Eine Reformkraft muss daher bestrebt sein, auch Kompetenzen für Wirtschaft und Arbeit zu erwerben, um ein parteiübergreifendes Projekt gesellschaftlicher Transformation mehrheitsfähig zu machen.
[1] Richard Detje u.a.: Krisenerfahrungen und Politik. Hamburg 2013.
[2] Befragung des rheingold institut, die zwischen dem 30.8 und dem 2.9. repräsentativ durchgeführt wurde.