Michael Brie
Projekt »Schönes China«
Die ökologische Modernisierung der Volksrepublik
Eine Flugschrift
120 Seiten | € 12.00
ISBN 978-3-96488-232-5

Peter Renneberg
Handbuch Tarifpolitik und Arbeitskampf
5., aktualisierte Ausgabe
232 Seiten | € 19.80
ISBN 978-3-96488-224-0

Christoph Nix
Gramscis Geist
Ein Sardisches Tagebuch
Mit Zeichnungen von Katrin Bollmann und Fotos von Sebastiano Piras
144 Seiten |  EUR 14.00
ISBN 978-3-96488-223-3

Hans-Jürgen Urban (Hrsg.)
Gute Arbeit gegen Rechts
Arbeitspolitik: Theorie, Praxis, Strategie – Ausgabe 2024
136 Seiten | EUR 10.00
ISBN 978-3-96488-225-7

Dieter Klein
Gemeinsame Sicherheit –
trotz alledem

Überlegungen für zeitgemäße
linke Strategien
Eine Veröffentlichung
der Rosa-Luxemburg-Stiftung
232 Seiten | EUR 16.80
ISBN 978-3-96488-213-4

Giuseppe Fiori
Das Leben des Antonio Gramsci
Herausgegeben von Christoph Nix
304 Seiten | EUR 19.80
ISBN 978-3-96488-218-9

Gine Elsner
Die Ärzte der Waffen-SS und ihre Verbrechen
144 Seiten | Hardcover| € 16.80
ISBN 978-3-96488-214-1

Torsten Teichert
Die Entzauberung
eines Kanzlers

Über das Scheitern der Berliner Politik | Eine Flugschrift
108 Seiten | EUR 12.00
ISBN 978-3-96488-216-5

Hajo Funke
AfD-Masterpläne
Die rechtsextreme Partei und die Zerstörung der Demokratie | Eine Flugschrift
108 Seiten | EUR 10.00
ISBN 978-3-96488-210-3

Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
Den Krieg verlernen
Zum Vermächtnis einer Pazifistin | Eine Flugschrift
120 Seiten | EUR 12.00
ISBN 978-3-96488-211-0

10. September 2024 Redaktion Sozialismus.de: Mit mehr Markt und mehr Schulden in eine bessere Zukunft?

»Es geht um Europas Existenz« (Ex-EZB Chef Draghi)

Mario Draghi, der langjährige Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), warnt vor einer »existenziellen Herausforderung« der EU. Ihr drohe »ein langsamer Todeskampf«, wenn sie nicht massiv investiere. Die europäische Wirtschaft brauche massive Investitionen und müsse deutlich innovativer werden, um im Wettbewerb mit den USA und China mitzuhalten.

Europa stecke in einer veralteten Industriestruktur und einer bürokratisierten politischen Willensbildung fest, konstatierte Draghi in dem jetzt vorgelegten Strategiepapier zur EU-Wettbewerbsfähigkeit.[1] Bei dessen Vorstellung erklärte er: »Europa muss ein Ort werden, an dem Innovationen gedeihen, insbesondere im Bereich der digitalen Technologie«

Die EU-Kommission hatte den früheren EZB-Chef und Ex-Regierungschef Italiens vor einem Jahr um einen Bericht gebeten, wie die EU ihre Wirtschaft wettbewerbsfähig halten kann. Jetzt fordert er eine »neue Industriestrategie für Europa« und zugleich die EU auf, Investitionen von 800 Mrd. Euro pro Jahr zu beschaffen, um radikale und schnelle Reformen zu finanzieren.

Zugleich soll eine signifikante Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik vorangebracht werden. Zu den wichtigsten Empfehlungen gehören eine Lockerung der Wettbewerbsregeln, um die Marktkonsolidierung in Sektoren wie Telekommunikation zu ermöglichen, die Integration der Kapitalmärkte durch Zentralisierung der Marktaufsicht, eine stärkere Nutzung der gemeinsamen Beschaffung im Verteidigungssektor und eine neue Handelsagenda zur Erhöhung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit der EU.

»Niemals in der Vergangenheit erschien das Ausmaß unserer Länder im Verhältnis zur Größe der Herausforderungen so klein und unzureichend«, schreibt Draghi in dem Bericht. »Die Gründe für eine einheitliche Antwort waren noch nie so überzeugend – und in unserer Einheit werden wir die Kraft zur Reform finden.« Draghi bestreitet, dass sein Bericht die Forderung »do or die« darstelle. Zugleich unterstrich er gegenüber Journalisten: »Tu das, oder es ist eine langsame Agonie, wir sind an dem Punkt angelangt, an dem wir ohne Taten entweder unser Wohlergehen, unsere Umwelt oder unsere Freiheit gefährden müssen.«

Der Bericht ist das zentrale Programm zur Erneuerung der EU, während sich die Kommission auf eine neue fünfjährige Amtszeit vorbereitet, die von wirtschaftlicher Stagnation, einem umfassenden Krieg an seiner Grenze und dem Aufstieg rechtsextremer Parteien im gesamten Block geprägt ist.

Ohne stärkeres Wachstum der Produktivität ließen sich die politischen Ziele der EU – wie Klimaschutz, wirtschaftliche Unabhängigkeit und sozialer Ausgleich – nicht erreichen. Draghi verlangt von den europäischen Ländern einen »radikalen Wandel«. Es brauche eine koordinierte Industriepolitik, einen vollständig integrierten Kapitalmarkt, zügigere Entscheidungen und massive Investitionen. Die Herausforderungen seien »existenziell«. Außerdem sei Europa hinter globalen »Konkurrenten« wie den USA immer stärker zurückgefallen. Allein seit 2000 sei dort das Pro-Kopf-Einkommen doppelt so stark gestiegen wie hierzulande.

Den Grund dafür sieht Draghi vor allem im Digitalbereich. Europa habe es versäumt, »aus der ersten digitalen Revolution, angeführt vom Internet, Kapital zu schlagen«. Doch es sei noch nicht zu spät. Von »zukünftigen Wellen digitaler Innovation« könne Europa immer noch profitieren, – etwa bei autonomer Robotik oder KI. Auch wenn Teile der Digitalwirtschaft für Europa bereits »verloren« seien, dürfe »Europa nicht auf die Entwicklung seines heimischen Tech-Sektors verzichten«.

Draghis Schlussfolgerung: Es seien »zusätzlich jährliche Mindestinvestitionen von 750 bis 800 Milliarden Euro« nötig. Das sei mehr als das Doppelte der Hilfen aus dem Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg. Dafür empfiehlt er die Aufnahme neuer Gemeinschaftsschulden wie zuletzt in der Corona-Pandemie, mit einem kreditfinanzierten Hilfspaket von 750 Mrd. Euro. Der ehemalige Zentralbanker fordert, dass innerhalb der EU jährlich 750 bis 800 Mrd. Euro zusätzlich in zukunftsweisende Technologien, aber auch in die Verteidigung, Dekarbonisierung oder länderübergreifende Energie-Infrastrukturen investiert werden. Das entspricht 4,4% bis 4,7% des EU-BIP. Zum Vergleich: Der Marshall-Plan, mit dem die USA Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf die Sprünge half, betrug 1% bis 2% des damaligen europäischen BIP.

Der Bericht von Draghi und seinem Team über die Wettbewerbsfähigkeit der EU enthält zugleich eine kritische Bilanz über die EU selbst. Diese Analyse und die Schlussfolgerungen werde die künftige EU-Politik wesentlich beeinflussen, sagt Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. So hat eine erste Version des Berichts bereits deren politischen Prioritäten geprägt, die im August vorgestellt wurden.

Trotz gemeinsamem Binnenmarkt ist die europäische Wirtschaft deutlich stärker fragmentiert, und die nationalen Interessen divergieren teilweise. Laut Bericht gibt es in der EU 34 verschiedene Mobilfunkbetreiber, während es in den USA und in China nur je eine Handvoll sei. Draghi plädiert dafür, dass die EU ihre Wettbewerbspolitik überdenkt und Fusionsbestrebungen künftig weniger streng beurteilt – ein wenig versteckter Seitenhieb an die abtretende Kommissarin Margrethe Vestager, die sich stets gegen eine zu große Marktmacht einzelner Firmen gewehrt hat.


Massive Investitionsoffensive und vertiefte EU-Integration

Draghi ist der Ansicht, dass die EU ihre Ausgaben drastisch erhöhen sollte, um mit US-Investitionen – auch im Rahmen des Inflationsbekämpfungsgesetzes – und mit Chinas subventionierten Industrien konkurrieren zu können. Er schlägt vor, »Horizont Europa«, das wichtigste EU-Förderprogramm für Forschung und Innovation, von 93,5 Mrd. Euro auf 200 Mrd. Euro mehr als zu verdoppeln. Außerdem soll es auf die Finanzierung disruptiverer Innovationen ausgerichtet werden. Halbleiter, Computer und künstliche Intelligenz (KI) gehören zu den Technologien, denen in dem Bericht große Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Gesenkt werden sollen die Kosten für den Einsatz von KI in der EU, indem aufbauend auf der Initiative für KI-Fabriken die Rechenressourcen für das Training von Modellen deutlich erhöht werden. Die Stärkung der Lieferkette für Halbleiter werde ebenfalls Ausgaben in Höhe von »Hunderten von Milliarden« erfordern. Zusammen mit der Sicherung kritischer Rohstoffe sei dies jedoch eine wichtige »Versicherungspolice« für die Zukunft der EU.

»Die Allgemeine Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) hat Schätzungen zufolge die Gewinne kleiner Technologieunternehmen um mehr als 15% geschmälert«, sagte Draghi auf der Pressekonferenz. Er forderte daher eine Vereinfachung der EU-Gesetze. Dazu gehörten eine EU-Harmonisierung der KI-Sandboxen, eine bessere Umsetzung der Datenschutzgrundverordnung und die Verabschiedung eines »EU-Gesetzes zur Entwicklung von Clouds und KI«, das die Anforderungen an die Cloud-Architektur harmonisieren soll.

Draghi schlägt sich damit auf die Seite der größten Telekommunikationsunternehmen, indem er die Deregulierung ihres Sektors verteidigte. Das Ziel dabei sei es, die Renditen für Investitionen in dieser kapitalintensiven Branche zu verbessern. Er befürwortet zugleich die Ziele des Absenderprinzips,[2] die sich nachteilig auf die US-amerikanischen großen Technologieunternehmen auswirken.


Gezielte Reformen auch in anderen Bereichen

Draghi räumte zwar ein, dass die EU in einigen Technologiebranchen wie dem Cloud-Computing im Rückstand sei. Dennoch ist er der Ansicht, dass die EU den heimischen Sektor weiterentwickeln sollte, damit sie im Krisenfall unabhängig bleiben würde. Darüber hinaus ist er der Ansicht, dass die Europäische Weltraumorganisation zu einer Zersplitterung der europäischen Raumfahrtindustrie führe. Er schlägt deshalb vor, die Regel der »geografischen Rückkehr« abzuschaffen, nach der Aufträge an inländische Unternehmen vergeben werden.

Talente in der EU würden nicht ausreichend genutzt, was zu wirtschaftlichen Problemen bei der Verbreitung und Nutzung digitaler Technologien führe. Draghi schlägt daher vor, die Ausbildungssysteme der Mitgliedstaaten zu überarbeiten und ein gemeinsames EU-Zertifizierungssystem einzuführen. Zudem solle die EU-Unterstützung im Bildungsbereich auf gezieltere Sektoren und Fähigkeiten ausgerichtet werden, etwa auf strategische Wertschöpfungsketten und Managementfähigkeiten.

Einen Teil der massiven Investitionen soll der Privatsektor tragen. Das wird aber nicht annähernd ausreichen. Für Draghi ist deshalb »eine gewisse gemeinsame Finanzierung für Investitionen erforderlich«, auch sollen etwa die Energiepreise gesenkt und die Abhängigkeit von anderen Ländern verringert werden. Mit Blick auf Sektoren mit hohem Treibhausgasausstoß wie Schwerindustrie und Verkehr rief Draghi die EU auf, ihre Klimapolitik besser zu justieren.

Wenn alle politischen Maßnahmen mit den Klimazielen übereinstimmten, sei es »sehr wahrscheinlich, dass die Dekarbonisierung eine Wachstumschance ist«, unterstrich Draghi vor Journalist*innen. »Aber wenn wir uns nicht abstimmen, besteht die Gefahr, dass die Dekarbonisierung der Wettbewerbsfähigkeit und dem Wachstum zuwiderläuft.«

Anmerkungen

[1] Mario Draghi, The future of European competitiveness – A competitiveness strategy for Europe. Wir kommen demnächst auf diese Analyse und die strategischen Schlussfolgerungen ausführlicher zurück.
[2] Dabei geht es darum, die Datenverkehrsbetreiber an den Netzkosten zu beteiligen.

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