21. März 2023 Bernhard Sander: Eskalation der Rentenproteste in Frankreich
»Es gibt nur eine Lösung für das Chaos: Das Volk«
Für Staatspräsident Emmanuel Macron gibt es nach den überstandenen Misstrauensanträgen gegen die von ihm berufene Ministerpräsidentin keinen Grund zur Kabinettsumbildung, Auflösung des Parlaments oder einem Referendum. In der Rentenfrage kennt er nach eigenem Bekunden »kein Bedauern und keine Skrupel«.
Zwei Drittel der Bevölkerung lehnen das Rentenprojekt laut Umfragen ab, Millionen sind seit Januar immer wieder mit den vereinigten Gewerkschaftsbünden auf die Straße gegangen und Hunderte sind bei Spontandemos verhaftet worden. Der Investmentbanker und Unternehmensberater Macron weiß, wie er den Seinen einen größeren Anteil am jährlichen Wertprodukt verschaffen kann, auch wenn die Transformation Kosten verursacht, krisenbedingte Erholungsprogramme die Staatsverschuldung in die Höhe treiben und die Produktivität stagniert.
Den Gesetzentwurf mit dem Kernelement der Erhöhung des Rentenaltes hat er dem Parlament nicht zur Abstimmung vorlegen wollen, weil nach den Debatten klar war, dass er keine Mehrheit finden würde. Die Opposition, die zwischen der vereinigten Linksfraktionen und dem sozial-nationalistischen Block des Rassemblement National (RN) gepalten ist, hätte die Rentenreform in diesem Fall niederstimmen können. Mit dem gewählten Kunstgriff über den Verfassungsparagraf 49.3 blieb nur das Misstrauensvotum gegen die amtierende Regierung. Davon gab es schlussendlich zwei.
Elisabeth Borne schwor, »nach Kompromissen zu suchen«, und kündigte bereits »neue Texte, die in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten im Parlament diskutiert werden« an. Die Premierministerin rief dazu auf, »aus den Posen herauszukommen«, und kritisierte die linke Opposition, die bereit sei, sich dem Antrag von Charles de Courson anzuschließen, der »ein bekannter Gegner der Ehe für alle ist und nicht für die Aufnahme der Abschaffung der Todesstrafe in die Verfassung gestimmt hat«.
Anstatt »barocke Allianzen zu bilden, sollten wir an die Interessen unseres Landes denken. Anstatt Blöcke ›gegen‹ zu bilden, sollten wir daran arbeiten, Mehrheiten› für‹ zu schaffen«, forderte Frau Borne, die »eine neue Seite unserer Demokratie aufschlagen« möchte. »Diejenigen, die den 49.3 als antidemokratisches Instrument karikieren, haben ein kurzes Gedächtnis. Sie vergessen, dass gerade die Schwächung des Parlaments und die Unfähigkeit, in Krisensituationen Gesetze zu erlassen, einige dazu veranlasst hat, die parlamentarische Demokratie oder die Demokratie überhaupt in Frage zu stellen«, sagte die Premierministerin.
»Der 49.3 ist nicht die Erfindung eines Diktators, sondern die zutiefst demokratische Entscheidung, die General de Gaulle getroffen hat und die vom französischen Volk gebilligt wurde«, fügte sie hinzu, bevor sie schloss: »Denn am Ende gibt es eine Abstimmung. Wir sind am Ende des demokratischen und politischen Weges dieser Reform angelangt. Wenn Sie die Regierung, die sie trägt, stürzen wollen, haben Sie nun die Möglichkeit dazu.«[1]
Macron und Borne haben die Abstimmungen gewonnen um den Preis der faktischen Spaltung der rechts-bürgerlichen Republikaner, auch wenn deren Vorsitzender Eric Ciotti das in Abrede stellt. 19 Mitglieder seiner Fraktion haben für das parteiübergreifende Misstrauensvotum gestimmt. Sein Stellvertreter, Aurélien Pradié, war von seinem Amt schon zu Beginn der Debatte in der Nationalversammlung zurückgetreten, in der entscheidenden Abstimmung fehlten der vereinigten Opposition nur neun Stimmen.
Der Fraktionsvorsitzende der Republikaner hatte vor der Abstimmung erklärt: »Wir werden uns nicht von einer extremen Linken mitreißen lassen, die sich dazu bekennt, die Institutionen der Fünften Republik zerstören zu wollen. Wir werden nicht Zeugen dieser barbarischen Hochzeit zwischen denen, die anerkennen, ein Chaos anrichten zu wollen, und denen, die schweigen und keine Vorschläge zur Rettung der Renten haben, sondern hoffen, von diesem Chaos zu profitieren.« Das eigentliche Problem sei nicht die Rentenreform, sondern ein Präsident, der sich offenbar nicht mehr an die Gelbwesten-Proteste erinnere.
Der Antrag von RN war mit 94 Stimmen (bei 88 Stimmen aus der RN-Fraktion) gescheitert. Deren Fraktionsvorsitzende Marine Le Pen bleibt gleichwohl bei ihrer Linie, sich der bürgerlichen Opposition als Partei der Ordnung und der Legitimität anzudienen: »Man muss man sich an die Legalität halten. Legalität bedeutet, dass wir Recht & Gesetz haben. Wir haben das Recht zu streiken, wir haben das Recht zu demonstrieren. Aber wir haben nicht das Recht zu blockieren. Die Regierung verweigert ein Referendum. Das bedeutet, dass sie wissen, dass sie gegen das französische Volk regieren. Und das, das sehen Sie, kann nicht ewig so weitergehen.«
Diese Marschrute greift die Argumentation der Ministerpräsidentin auf, die in ihrer Regierungserklärung davon sprach, dass sie sich »der Stimmung in unserem Land sehr wohl bewusst (sei), ebenso wie ich die Fragen und Sorgen kenne, die diese Reform aufwirft«, nachdem sie das Verhalten der parlamentarischen Opposition während der Prüfung des Textes und seit letztem Donnerstag gegeißelt hatte. Elisabeth Borne, verurteilte das Verhalten der Opposition.
Die Regierungschefin zählte vor der leeren Bank der Abgeordneten von La France insoumise (LFI) auf: »Gesänge, Schreie, Beschimpfungen, klappernde Pulte – das ist das Schauspiel, das sich einige Abgeordnete am Donnerstag in einem Ausbruch von Gewalt geliefert haben.« »Das war der Höhepunkt ganzer Wochen, in denen wir im Herzen des Parlaments den Antiparlamentarismus in all seinen Facetten am Werk gesehen haben.« Man habe »gesehen, wie die NUPES mit Methode, Beständigkeit und Entschlossenheit die gesamte Palette der Obstruktionstechniken einsetzte, mit dem einzigen Ziel, die Debatte zu verhindern.« Ihre Angriffe an die Adresse des RN waren kürzer und kritisierten eine »Sprachlosigkeit der extremen Rechten, die niemanden täuscht«.
Die Premierministerin geißelte im Gegenzug die »Alternativen« der Opposition, die sich »in zwei Worten zusammenfassen lassen: Steuerkeule«. Borne pries anschließend die Vorteile der Reform, die nach monatelangen sozialen Beratungen mit den Gewerkschaften, Vorschlägen des Präsidentenlagers (Horizons, MoDem, Renaissance) und parlamentarischen Verhandlungen, insbesondere mit der Rechten, erreicht worden sei.
Der zweite Misstrauensantrag war von einer fraktionsübergreifenden Gruppe um einen klassischen Liberalen-Abgeordneten gestellt worden, dessen Kleinstpartei UDF in vergangenen Jahrzehnten Koalitionspartner stellte. Der Abgeordnete Charles de Courson, dessen Großvater von Nazischergen ermordet worden war, bekennt sich noch zu dem Klassenkompromiss aus den Gründerjahren der Nachkriegsrepublik. Das von Macron gewählte Dringlichkeitsverfahren sei »Verweigerung der Demokratie«, zeuge von »intellektueller Arroganz« und von »Verachtung für Gewerkschaften und andere intermediäre Instanzen«. Die Rentenreform sei in sozialer Schieflage, wenn Geringverdiener die Lasten zu tragen haben, und das Versorgungsystem der höheren Ministerialbürokratie und der Abgeordneten unangetastet bleibe.
Die Fraktionschefin der Grünen (EELV) warnte die Macronie als Ganzes: »Ignorieren Sie sie nicht, verachten Sie sie nicht […] diese Millionen von Menschen, die marschiert sind und auch morgen noch marschieren werden, unterstützt von einem ganzen Land.« Frankreich lasse »sich nicht auf eine einfache produktivistische und finanzielle Logik reduzieren. Frankreich ist keine ›Start-up-Nation‹ und wird es auch nie sein«, sagte die Abgeordnete und meinte, dass »die Verlierer dieser Reform zahlreich« seien, und »die Geopferten immer dieselben«.
Die Reform sei »eine Ungerechtigkeit gegenüber Frauen, eine Ungerechtigkeit gegenüber Arbeitnehmern über 55 Jahren, die an den Rand des Arbeitsmarktes gedrängt werden, eine Ungerechtigkeit gegenüber Arbeitnehmerinnen in schweren Berufen, die trotz der Härte ihrer Arbeit bis 64 arbeiten müssen, eine Ungerechtigkeit gegenüber Arbeitnehmern, die sich abrackern, bevor sie überhaupt das Erwachsenenalter erreicht haben. […] Was legal ist, ist nicht unbedingt legitim«, geißelte die Fraktionschefin der Grünen dann und schloss: »Sie haben nicht mehr die Mittel, um ein Land zu regieren, das seit den ›Gelbwesten‹ von Misstrauen zerfressen ist.«
Der Vorsitzende der sozialistischen Fraktion, Boris Vallaud, prangerte die »Missachtung« der Regierung gegenüber »der parlamentarischen Debatte und dem sozialen Dialog« an und forderte die Reform als »politischen Kraftakt« zu verurteilen, »mitten in der Krise der hohen Lebenshaltungskosten« für die Französ*innen. »Das Land leidet und das Übel, das es zerfrisst, ist die Ungerechtigkeit.« Es handele sich »nicht um ein Fieber, das wieder abklingen könnte. Es geht nicht um das Schicksal des Präsidenten der Republik oder die Zukunft einer Premierministerin, die während der Rentendebatte auffällig oft von der Ministerbank abwesend war. Nein, die Frage, die uns beschäftigt, ist tiefer [...], es ist eine Sehnsucht, die Sie ignorieren. Gerechtigkeit, das ist eine Forderung, die Sie nicht hören wollen.«
Dieses Gesetz werde »durch keinerlei demokratische und parlamentarische Salbung gedeckt sein«, da die Versammlung nicht über den Text abstimmt. »Sie gehen das unbedachte Risiko ein, den sozialen Dialog und die Organisationen zu disqualifizieren und im ganzen Land die unorganisiertesten und wahrscheinlich auch brutalsten Formen des Protests gedeihen zu lassen… Der Präsident verhält sich heute wie ein Wahnsinniger und ein Verbissener, der nur noch mit sich selbst beschäftigt ist. Das ist kein Mut, das ist Unvernunft. Ziehen Sie diese Reform zurück oder stellen Sie sie den Französinnen und Franzosen zur Wahl, es wird weniger kosten als Ihre Sturheit.«
Der Vorsitzende der CFDT (größter Gewerkschaftsbund), Laurent Berger, forderte: »Der Präsident der Republik muss sprechen, um bei Null anzufangen und dass wir wieder eine Rentenreform machen, die diesen Namen verdient. Ich erwarte von ihm, dass er dieses Gesetz zurücknimmt, dass er es nicht verkündet.« Er fügte hinzu: »Wir sind dabei, die größte soziale Krise der letzten zehn Jahre und die größte politische Krise der letzten 30 Jahre stattfinden zu lassen: Das wird zu tiefen Ressentiments und Wut in der Arbeitswelt führen. Bisher gab es eine tiefe Entschlossenheit. Heute Abend besteht die Wahl darin, die Straße der Radikalität zu überlassen. Das ist gefährlich.«
Der Gewerkschaftsbund CGT verkündete, das knappe Ergebnis werde an der Entschlossenheit der Arbeiterschaft nichts ändern und rief zu den bereits anberaumten Kundgebungen am Donnerstag nach der Parlamentsabstimmung auf. »Welche moralische und politische Krise: Weder Legitimität beim Volk noch im Parlament. Sie haben das Land in eine Regimekrise gestürzt«, stellte Mathilde Panot, Fraktionschefin von LFI fest. Sie beschrieb eine »Regierung, die in den Augen der Franzosen bereits tot ist«, und eine Premierministerin, die »weder Legitimität noch Macht hat, um ihre Arbeit fortsetzen zu können, und die natürlich zurücktreten und ihre Reform mitnehmen muss […] Die Hunderttausenden von Menschen, die sich nun seit diesem Donnerstag und dem Durchbruch mit dem 49.3 jeden Tag im Land versammeln, werden nicht aufhören, weil dieser Misstrauensantrag so knapp mit neun Stimmen geschlagen wurde. Wenn Sie sich in einer Sackgasse wie dieser befinden, gibt es nur eine Lösung für das Chaos, sie heißt Volk: Entweder er zieht seine Reform zurück, um vernünftig zu sein, oder er appelliert an das Volk.«
Der einflussreiche Polit-Rentner ohne Amt, Jean-Luc Mélenchon, rief zu einem »Misstrauensvotum des Volkes« auf, gleich an welchem Ort und unter welchen Umständen. Bereits vor den Voten der Nationalversammlung hatte er von staatlicher Gewalt getwittert, der man mit gleicher Münze heimzahlen solle. Es müsse ein Volksbegehren (référendum d’initiative partagée, RIP) für ein Referendum durchgeführt werden, statt jetzt den Spruch des Verfassungsgerichts abzuwarten.
Im Ancien Regime regelte der König seine Geschäfte beim Ankleide-Zeremoniell. Emmanuel Macron empfängt die Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern, ebenso wie sein Kabinett, beim gemeinsamen Mittagessen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Ob er darauf spekuliert, dass sein Kurs »ohne Bedauern und ohne Skrupel« zwar zu einer Revolte im Volke führen mag, aus der seine politische Bewegung (wie weiland 1969 die Gaullisten nach dem Mai-Streik der 10 Millionen) als Sieger in der Wahl um einen neuen Staatspräsidenten hervorgehen wird, wissen wir nicht. Mit dem Rassemblement National wird ihm ein durch Zulauf aus dem bürgerlichen Lager gestärkter Feind gegenübertreten.
Anmerkung
[1] https://www.lemonde.fr/politique/live/2023/03/20/reforme-des-retraites-en-direct-la-seance-debute-a-l-assemblee-elisabeth-borne-va-affronter-deux-motions-de-censure-apres-son-recours-au-49-3_6166202_823448.html.Translated with DeepL.