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376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
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1. August 2022 Otto König/Richard Detje: NRW-Klinik-Beschäftigte setzen Tarifvertrag »Entlastung« durch

Es lohnt sich zu kämpfen

Foto: ver.di

Nach 77 Tagen Streik an den Unikliniken in Nordrhein-Westfalen einigte sich die Gewerkschaft ver.di mit den Arbeitgebern auf Eckpunkte für einen Tarifvertrag »Entlastung« (TVE). Elf Wochen streikten in Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster nicht nur Pflegekräfte, sondern auch Beschäftigte aus Laboren, dem Krankentransport und den Betriebskindergärten.

Die Streikenden kämpften nicht für Geld, sondern für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen: für feste Personaluntergrenzen für ihre Schichten und Freizeitausgleich, wenn sie trotzdem unterbesetzt arbeiten müssen. »Der Anreiz, möglichst viele Patient*innen mit möglichst wenig Personal zu versorgen, hat Arbeitsbedingungen geschaffen, die unser aller Gesundheit gefährdet. Wir fordern daher eine gesetzliche Personalbemessung, die sich am Bedarf der Patient*innen bemisst, und ein Gewinnverbot mit unseren Krankenhäusern!«, formulierten Beschäftigte des Gesundheitswesens im »Schwarzbuch Krankenhaus«.

Die Tarifkommission hat dem TVE für die sechs Universitätskliniken mit »überwältigender Mehrheit« zugestimmt. Die Beschäftigten errangen einen »wichtigen Etappensieg gegen die Profitlogik des Krankenhauswesens«, sagte die zuständige ver.di-Landesfachbereichsleiterin Katharina Wesenick. Tatsächlich ist der in NRW erkämpfte Entlastungstarifvertrag ein weiterer Meilenstein. ver.di ist es zum ersten Mal gelungen, das Thema Entlastung in einem Flächentarifvertrag zu regeln. Vorreiter waren Streikende in Berlin. Im vergangenen Herbst erkämpften sich die Beschäftigten bei der Berliner Charité und beim kommunalen Betreiber Vivantes mit einem mehr als 30-tägigen Streik einen Entlastungstarifvertrag. Erstmals wurden Regelungen gegen die chronische Überlastung der Krankenhaus-Pflegekräfte vereinbart.[1]

Nach dem vereinbarten Eckpunktepapier ist vorgesehen, dass der TVE NRW Anfang 2023 in Kraft tritt. Er beinhaltet verschiedene Modelle, die die Beschäftigtengruppen im Klinikalltag wirksam entlasten sollen. Für große Teile der Pflege inklusive der psychiatrischen Stationen und der Notaufnahmen wird schichtgenau das Zahlenverhältnis von Beschäftigten und Patient*innen festgelegt.

Damit die Personalregelungen wirken, braucht es einen entsprechenden Mechanismus, der eine Überlastung der Beschäftigten ökonomisch unattraktiv macht. Dies soll durch den sogenannten Belastungsausgleich, der lange ein strittiger Knackpunkt in den Verhandlungen war, erreicht werden. Wird die tariflich festgelegte Sollbesetzung unterschritten oder kommt es zu anderweitig belastenden Situationen, erhalten die Betroffenen Belastungspunkte. Für jeweils sieben Punkte wird ihnen ein zusätzlicher freier Tag als Belastungsausgleich gewährt. Im ersten Jahr der Umsetzung können bis zu elf freie Tage zusammenkommen. Im zweiten Jahr sind es 14 und ab dem dritten Jahr maximal 18 zusätzliche freie Tage.[2]

Bundesweit erstmalig wurden in dem Tarifvertrag auch konkrete Entlastungsregeln für Auszubildende geschaffen. Unter anderem sollen Mindeststandards für die Praxisanleitung und die Zahl der Lehrkräfte festgeschrieben werden, bei deren Unterschreitung die Auszubildenden einen Belastungsausgleich erhalten.

In vielen Bereichen haben sich die Tarifparteien auf eine Verdopplung des Personals pro Schicht, teils sogar noch mehr, geeinigt. Die Tatsache, dass diese Verbesserungen notwendig sind, zeigt, unter welch katastrophalen Bedingungen die Pflegekräfte und andere Berufsgruppen im Krankenhaus das System bislang am Laufen gehalten haben. Tobias Wendker, der an der Uni-Klinik in Münster eine Ausbildung zum Pfleger macht, erklärte im Interview mit der taz (22.7.2022): »Die Perspektive auf Arbeitsbedingungen, die eine menschenwürdige Patientenversorgung zulassen, führt dazu, dass ich jetzt eine dieser Personen bin, die diesen Beruf nicht verlassen wird.«

Der Tarifabschluss ist ein Kompromiss. So konnten für alle Service, IT- und Technikbereiche sowie für die Ambulanzen lediglich der Aufbau von 30 zusätzlichen Vollzeitstellen pro Uniklinik vereinbart werden. »Das ist bitter und hat in den Belegschaften zu vielen Diskussionen geführt«, so ver.di-Verhandlungsführer Heinz Rech. Denn Krankenhausarbeit ist Teamarbeit und braucht überall ausreichend Personal.

Zufrieden zeigt sich der Gewerkschafter damit, dass bundesweit erstmals für viele Beschäftigtengruppen außerhalb der Pflege Mindestbesetzungen und Belastungsausgleiche vereinbart wurden. So werden unter anderem in der Radiologie, in den Betriebs-Kitas und bei Therapeut*innen bereichsbezogene Mindestvorgaben für den Personaleinsatz fixiert, deren Unterschreitung ebenfalls mit zusätzlicher Freizeit ausgeglichen wird. Fakt ist: Der Abschluss ist ein erster Schritt in Richtung grundsätzlicher Veränderung des Gesundheitswesens.

Über die katastrophalen Arbeitsbedingungen des Krankenhauspersonals und deren dramatische Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung in Deutschland wurde in den vergangenen Jahren vielfach öffentlich diskutiert. Geändert hatte sich jedoch wenig. Wie dramatisch sich beispielsweise die Unterbesetzung auf den Stationen auswirken kann, ist im »Schwarzbuch Krankenhaus« nachzulesen, in dem Beschäftigte der Unikliniken anonym von ihren Erfahrungen berichten.

Es sind Geschichten wie die von einer Mutter, die gerade ihr Kleinkind verloren hatte, für die niemand Zeit hatte. Von einem Corona-Toten, dem sie den Arm brechen mussten, damit er in den Leichensack passte, weil niemand dazu gekommen war, ihn auf den Rücken zu drehen, bevor die Leichenstarre einsetzte. Von einem Patienten, der nach einem Röntgentermin starb, weil niemand bemerkt hatte, wie sich seine Sauerstoffflasche leerte, während er auf den Transport wartete.[3]

Viele Klinikbeschäftigte sind sich einig, dass ihre Arbeitsbedingungen sich zunehmend verschlechtert haben, nachdem 2003 die »Diagnosis Related Groups« (DRGs) eingeführt wurden: Krankenhäuser erhalten für Patient*innen Pauschalen, die sich unter anderem aus deren Diagnose ergeben. Kalle Kunkel, der im Jahr 2015 die Streiks zu Personalbemessung an der Charité in Berlin mitorganisiert hat, schreibt dazu in Der Freitag (21.7.2022): »Durch die Finanzierung nach Fallpauschalen erhalten die Krankenhäuser nicht die realen Kosten erstattet, sondern nur einen fixen Preis pro Behandlung. Dies schafft einen beständigen Anreiz, Kosten durch Personalabbau zu senken und die Erlöse durch mehr und lukrative Behandlungen zu steigern.«[4]

Der Pflegenotstand ist ein Produkt dieser Politik. »Personalmangel tötet«, stand deshalb auf dem Banner, als Anfang Juli Streikende Berichte aus dem Schwarzbuch in einer voll besetzten Kölner Kirche vorgetragen haben.

Es war Anfang dieses Jahres, als die Beschäftigten an den Unikliniken in NRW beschlossen haben, für eine Verbesserung ihrer Situation selbst zu kämpfen. Die Tarifauseinandersetzung war, angefangen bei der Forderungsfindung bis hin zu Entscheidungen in den Verhandlungen, darauf ausgerichtet, die Beschäftigten einzubeziehen. Die Forderungen einzelner Teams wurden zusammengetragen, mit den Überlegungen der Teams anderer Kliniken abgeglichen und durch Delegierte in die Verhandlungen getragen.

Im Januar stellten sie ein 100-Tage-Ultimatum an die Landesregierung und die Arbeitgeberseite, mit ihnen über einen Entlastungstarifvertrag zu verhandeln, das diese jedoch verstreichen ließen. Nach Ablauf der Frist traten Anfang Mai die Beschäftigten in den Erzwingungsstreik. Die Klinikvorstände übten aufgrund der verschobenen Operationen Druck auf die Streikenden aus und versuchten das Streikrecht einzuschränken.

So unternahm die Uniklinik Bonn den Versuch, den Streik gerichtlich verbieten zu lassen: Die Forderungen der Streikenden seien nicht tarifierbar. Da sie von den Tarifparteien nicht geregelt werden dürften, wären die Streikmaßnahmen rechtswidrig, lautete ihre Begründung. Die Angriffe konnten vor den Arbeitsgerichten abgewehrt werden, mehr noch: Die Eskalation des Konflikts mobilisierte die Beschäftigten noch stärker und trugen zur Stabilisierung des Streiks bei, sodass selbst der verzweifelte Versuch der Arbeitgeberseite, durch einen Deal mit dem Beamtenbund dem Entlastungstarifvertrag zu entgehen, fehlschlug.

Den Streikenden und ihrer Gewerkschaft ver.di gelang es, die neu gewählte schwarz-grüne Landesregierung zu weitreichenden Zugeständnissen zu bewegen. So brachte die nordrhein-westfälische Regierung eine Gesetzesänderung auf den Weg, die den Tarifabschluss an allen sechs Unikliniken ermöglichte. Nach mehr als acht Wochen Streik sah sich NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) zu einer umfassenden Finanzierungszusage für den zu verhandelnden Tarifvertrag gezwungen, um eine Einigung herbeizuführen.

Natürlich ist die Bewegung der Klinik-Beschäftigten mit dem Tarifabschluss noch nicht am Ziel. Der Entlastungstarifvertrag ist nur ein erster Schritt, dem weitere folgen müssen. Er kehrt die jahrzehntelange Sparpolitik im Gesundheitssystem um und eröffnet Chancen für weitere, zukünftige Entlastungen. Dass dies möglich ist, beweist die neue Konfliktbereitschaft und Durchsetzungsfähigkeit der Beschäftigten im Gesundheitssektor. Den Klinik-Beschäftigten in NRW und zuvor bei der der Charité und Vivantes ist es gelungen, aufzuzeigen, was durch demokratische, kämpferische Gewerkschaftsarbeit möglich ist, um die Profitlogik aus dem Gesundheitssektor zu verdrängen.

Anmerkungen

[1] Entlastung für Krankenhauspflegekräfte Immer noch zu oft am Limit, taz vom 27.4.2022.
[2] »Entlastung: Großer Erfolg für Kliniken in NRW«, ver.di 20.7.2022.
[3] »Schwarzbuch Krankenhaus«: Pfleger*innen berichten von erschreckenden Zuständen in Kliniken, Buzzfeed 21.7.2022.
[4] Im Jahr 2018 reagierte der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn auf die Proteste in den Krankenhäusern mit einer Reform der Krankenhausfinanzierung. Ein bestimmter Teil der Pflege – die »Pflege am Bett« – wurde aus den Fallpauschalen herausgelöst und über ein extra »Pflegebudget« finanziert. Die Krankenhäuser bekommen für die Pflegekräfte in den bettenführenden Bereichen seitdem die tatsächlichen Kosten erstattet, die sie für das Pflegepersonal ausgeben. Diese Reform führte jedoch zu einer Spaltung die Belegschaft: Während die Pflegekräfte in den bettenführenden Bereichen nicht mehr unter dem finanziellen Druck der Fallpauschalen stehen, gilt dieser beispielsweise weiterhin für die Pflegekräfte in den Operationssälen oder der Anästhesie; auch alle anderen Berufsgruppen stehen weiter unter dem finanziellen Druck des Fallpauschalen-System. (Der Freitag, 21.7.2022)

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