Hajo Funke
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Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
Den Krieg verlernen
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Heiner Dribbusch
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Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

15. Mai 2023 Redaktion Sozialismus.de: Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei

Fortsetzung der Autokratie

In der Türkei wurden in Wahlen die bisherigen Machtverhältnisse bestätigt. Der Autokrat Erdoğan und die Allianz AKP/MHP verteidigen bei extrem hoher Wahlbeteiligung von 88% ihre Mehrheit.

Die Entscheidung über das Präsidentenamt fällt allerdings erst in einer Stichwahl in 14 Tagen. Für die geht der amtierende Präsident als klarer Favorit in die Ausscheidung. Rund 64,3 Mio. Türk*innen – darunter sechs Mio. Erstwähler*innen – waren zur Stimmabgabe aufgerufen.

Das Rennen um die türkische Präsidentschaft hat noch keinen Sieger hervorgebracht. Laut vorläufigen Ergebnissen hat keiner der drei Kandidaten die erforderliche absolute Mehrheit der Stimmen erhalten. Der Amtsinhaber, Recep Tayyip Erdoğan, kommt auf 49,34%, der Kandidat des größten Oppositionsbündnisses, Kemal Kılıçdaroğlu, auf 45,0% und der Außenseiter Sinan Oğan auf 5,23%. Das macht die Wähler*innen der nationalistischen Ata-Allianz zum entscheidenden Königsmacher für die zweite Runde am 28. Mai.

Mit einem Vorsprung von voraussichtlich 2,6 Mio. Stimmen auf seinen wichtigsten Herausforderer hat Erdoğan deutlich besser abgeschnitten, als die meisten Umfragen vorhergesagt hatten. Trotz der schweren Wirtschaftskrise und den schwerwiegenden Versäumnissen im Zusammenhang mit den Erdbeben vom 6. Februar schenkten mehr als 26 Mio. Türk*innen dem Präsidenten erneut ihr Vertrauen. Die kurz vor den Wahlen durchgesetzten Sozialreformen (Erhöhung des Mindestlohnes, Anhebung der Gehälter im öffentlichen Dienst, Verbesserung des Zutritts zur Altersrente) haben offenkundig den vorhandenen Unmut in Teilen der Bevölkerung besänftigen können.

Große Teile der Bevölkerung sind seit Monaten geplagt von der höchsten Inflation, seit Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vor 20 Jahren an die Macht gekommen ist. Heute ist das reale Pro-Kopf-Einkommen der Türk*innen geringer als vor zehn Jahren. Ein normaler Wocheneinkauf kostet heute so viel, wie eine Familie vor einigen Jahren im ganzen Monat ausgegeben hat. Insgesamt scheint die Krise aber weit weniger Auswirkungen auf das Wahlverhalten gehabt zu haben, als man hätte erwarten können, was auch die Ergebnisse der Parlamentswahl zeigen (siehe weiter unten).

Der Wahlkampf kann wegen der medialen Dominanz des Regierungslagers, der Instrumentalisierung des Justiz- und Staatsapparates sowie der Korruption bei der Vergabe öffentlicher Gelder sicherlich nicht als fair oder demokratisch angesehen werden. Gleichwohl stabilisiert die Abstimmung die Machtverhältnisse. Bei seinem Auftritt auf dem Balkon der AKP-Parteizentrale in Ankara zeigte sich Erdoğan zufrieden und siegesgewiss. Angesichts der hohen Wahlbeteiligung von fast 88% sprach er von einem »Fest der Demokratie«.

Kılıçdaroğlu erreichte in den meisten Großstädten sowie in den traditionell säkularen Küstenregionen der Ägäis und des Mittelmeers die Mehrheit der Stimmen. Hinzu kommt die starke Unterstützung in den kurdischen Regionen im Südosten des Landes. Die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), der die Regierung seit Jahren die Luft abzuschnüren versucht, hatte ihre Anhänger*innen aufgerufen, den Oppositionskandidaten zu wählen. In seiner kurdisch-alevitisch geprägten Heimatprovinz Tunceli (Dersim) gaben vier von fünf Wählern Kılıçdaroğlu ihre Stimme.

Erdoğan dominierte im anatolischen Hinterland und an der Schwarzmeerküste. Auch in den meisten Provinzen des Erdbebengebiets, wo der Unmut über die Regierung eigentlich sehr groß war, blieben der Autokrat und seine AKP in der Abstimmung vorne. In Kahramanmaras, wo sich das Epizentrum des ersten Bebens befand, erzielte er sogar eines der landesweit besten Ergebnisse. Im Werben bei der Stichwahl um die nationalistischen Wähler*innen des Drittplatzierten Oğan ist Erdoğan mit seinem ultrarechten Verbündeten MHP zudem im Vorteil.


Regierungsbündnis behält Mehrheit im Parlament

Auch die Machtverhältnisse im neuen Parlament stärken Erdoğans Position, auch wenn die AKP rund sieben Prozentpunkte verlor, während die Republikanische Volkspartei (CHP) von Kılıçdaroğlu drei Prozentpunkte hinzugewann. Erdoğans ultrarechter Koalitionspartner, die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), konnte ihren Anteil halten. Auch die kleineren Oppositionsparteien blieben praktisch konstant. Trotz Verlusten gegenüber 2018 bleibt die AKP die mit Abstand stärkste Kraft. Die Regierungsallianz aus AKP, MHP und der islamistischen Wohlfahrtspartei (YRP) hält mit voraussichtlich 321 der 600 Abgeordneten weiterhin eine deutliche Mehrheit.

Eine Kohabitation, mit der die Türkei keinerlei Erfahrung hat, galt immer als unpopuläres Szenario. Das Argument, dass Staatspräsidium und Parlament von denselben Kräften geführt werden sollten und deshalb Erdoğan der richtige Mann an der Staatsspitze sei, dürfte bei vielen Wähler*innen verfangen haben.

Abgesehen vom großen Zuspruch, den dieser von seinen Kernwähler*innen auch nach zwei Jahrzehnten an der Macht noch immer erfährt, bestätigen die Ergebnisse vom Sonntag auch die strukturelle Mehrheit nationalistischer und konservativer Kräfte in der türkischen Gesellschaft. Innerhalb des Oppositionsbündnisses stand besonders die Iyi-Partei, die sich um ähnliche Wählerschichten bemühte wie der Nationalist Oğan oder die MHP, der Kandidatur des Sozialpolitikers Kılıçdaroğlu lange skeptisch gegenüber.


Autokratische Machtverhältnisse werden ausgebaut

Zum Abschluss des Wahlkampfes hatte Erdoğan in aller Schärfe die Kernfrage dieser Abstimmung verdeutlicht: Er hat seine Anhänger*innen vor Repressalien gewarnt, sollte sein säkular ausgerichteter Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu an die Macht kommen: »Ihr werdet einen hohen Preis zahlen, wenn wir verlieren«, denn dessen Oppositionsbündnis sei von »Rache und Gier« getrieben. Dem Westen warf der Präsident vor, die Opposition zu instrumentalisieren, um der türkischen Gesellschaft seinen Willen aufzuzwingen.

Erdoğan erinnerte an den Juli 2016, als Teile des Militärs seine Regierung zu stürzen versuchten. Noch in der Nacht strömten seine Anhänger*innen auf die Straßen und retteten der AKP die Macht. Er hatte diesen Putschversuch genutzt, um in der Folge zentrale demokratische Grundrechte außer Kraft zu setzen und mit seinen Gegner*innen aufzuräumen. Unter dem Ausnahmezustand entließ Erdoğan über 150.000 angebliche Anhänger*innen des islamischen Predigers Fethullah Gülen, den er für den Putschversuch verantwortlich machte, sowie Zehntausende kurdische Oppositionelle und kritische Wissenschaftler*innen. Mehr als 1.000 Schulen wurden geschlossen sowie Dutzende Zeitungen, Fernsehsender und Vereine der Zivilgesellschaft verboten. Ein Großteil der angeblichen Putschisten, die in fragwürdigen Massenprozessen verurteilt wurden, sitzt noch immer in Haft.

Im Bündnis mit der ultrarechten MHP beschnitt der Präsident die Rechte der Kurd*innen und ließ Dutzende ihrer gewählten Bürgermeister absetzen. Mit der Verfassungsänderung von 2017 zementierte Erdoğan endgültig seine Macht, schwächte das Parlament und schränkte die Gewaltenteilung ein. Heute erscheint die Justiz als willfähriges Instrument der Regierung, die sie nach Belieben gegen ihre Kritiker*innen einsetzt.

Die Verwaltung ist nach der Entlassung tausender erfahrener Beamten geschwächt, während der alternde Präsident sich in seinem Palast mit Ja-Sagern umgeben hat, die ihm nicht zu widersprechen wagen – auch dann nicht, wenn er die irrige Theorie vertritt, dass die Inflation mit einer Senkung der Zinsen zu bekämpfen sei. Weder die Presse sind heute wirksame Korrektive der Macht noch die Gewerkschaften oder die berufsständischen Vereinigungen.

Der seit 20 Jahren regierende Vorsitzende der islamisch-konservativen AKP hat mit einer seine Anhänger*innen begeisternde Rhetorik erfolgreich den Machtverlust verhindert. Während Erdoğan polterte und drohte, hatte der Kandidat des Oppositionsbündnisses Kılıçdaroğlu, der kein starker Redner ist, sondern eher den Charme eines freundlichen Staatsbeamten ausstrahlt, das Volk dazu aufgerufen, sich zu versöhnen. Während Erdoğan frommer Sunnit ist, gehört Kılıçdaroğlu zur alevitischen Minderheit.

Letzterer hat mit einem Bündnis aus sechs Oppositionsparteien den Autokraten herausgefordert. Während eines Auftritts in Ankara sagte er vor Tausenden Anhänger*innen: »Seid Ihr bereit, Demokratie in dieses Land zu bringen? Frieden in dieses Land zu bringen? Ich verspreche Euch, ich bin auch bereit.« Im Falle seiner Wahl wolle er das von Erdoğan eingeführte Präsidialsystem wieder abschaffen, das Parlament solle wie früher den Regierungschef wählen und er stellte eine Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik in Aussicht. Dafür hätte die Opposition jedoch die Parlamentswahl gewinnen müssen.

Der Wahlkampf selbst kann nicht als fair bezeichnet werden, zu groß war die mediale Übermacht der Regierung, zu unverfroren der Einsatz öffentlicher Gelder im Parteiinteresse, zu offensichtlich die Instrumentalisierung der Justiz. Am Wahltag selber hatten die großen Parteien jedoch das Recht, in jedes Wahllokal einen Beobachter zu entsenden, was Manipulationen erschwerte.

Im Namen der Opposition und für unabhängige Organisationen waren am Sonntag Hunderttausende von Beobachter*innen im Einsatz. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hat ebenfalls Wahlbeobachter entsandt. Im Verlauf des Sonntags tauchten vereinzelte Berichte über Unregelmäßigkeiten auf. Kılıçdaroğlu wiederholte die Manipulationsvorwürfe gegen die AKP-Regierung. Erdoğans Partei habe Beschwerden gegen die Stimmenauszählungen vor allem dort eingelegt, wo die Opposition als favorisiert galt, etwa gegen »300 Wahlurnen in Ankara und 700 in Istanbul«.

Die prokurdische Oppositionspartei HDP hat sich ernüchtert über den vorläufigen Ausgang der Parlaments- und Präsidentenwahlen gezeigt. Die endgültigen Ergebnisse stünden noch nicht fest, »dennoch ist vollkommen klar, dass wir hinter unseren Zielen zurückliegen«, sagte Co-Parteichef Mithat Sancar in Istanbul. Bei den Parlamentswahlen war die HDP wegen eines Verbotsverfahrens unter dem Banner der Grünen Linkspartei angetreten. Bei den Präsidentenwahlen hatte sie zur Unterstützung von Oppositionsführer Kılıçdaroğlu aufgerufen.

Das Ergebnis der Wahlen läuft auf eine Bestätigung der Autokratie hinaus. Es ist davon auszugehen, dass Erdoğan den Wahlkampf auch in der Stichwahl weiter mit aller Härte führen wird. Er wird weiter versuchen, den Oppositionskandidaten zu diskreditieren und seine Glaubwürdigkeit herabzusetzen. Sollte der Präsident bei der Stichwahl am 28. Mai im Amt bestätigt werden, rechnen die meisten Beobachter*innen mit einer weiteren Verhärtung seines autokratischen Kurses. Die Türkei ist seit zehn Jahren auf dem Weg in ein autoritäres System und dieser Prozess wird weitergehen.

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