19. November 2018 Bernhard Sander
Frankreich: Jupiter in Rauchschwaden
Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron möchte als Erneuerer der EU strahlen, doch sein Stern wird von 250.000 »Gelb-Westen« durch brennende Straßenbarrikaden verdunkelt.
Sie wehren sich nicht nur gegen neue Öko-Steuern auf Treibstoffe, sondern auch gegen die Ausweitung der Radar-Kontrollen und die Absenkung der Höchstgeschwindigkeiten auf Landstraßen. Man kann das als wildgewordenes Kleinbürgertum abtun. Aber hier verschafft sich Stress Luft, der entsteht, wenn man täglich 50 oder 80 Kilometer zur Arbeitsstelle fahren muss und auf das Auto angewiesen ist. Der ÖPNV in der Region wurde jahrelang gegenüber dem Hochgeschwindigkeitsnetz bei den Investitionen benachteiligt. Die Innenstädte der Provinzstädte veröden, weil sich Bahn, Post oder Krankenhaus aus dem Ort verabschiedet haben, weil »es sich nicht mehr rechnet«. Der inhabergeführte Einzelhandel und das Handwerk kapituliert vor den Einkaufszentren an den Ausfallstraßen, für die man ebenfalls ein Auto haben muss.
Einkommenszuwächse werden durch diese scheinbar ideologisch motivierten Steuererhöhungen aufgezehrt. Schon so fallen die niedrigeren Einkommensschichten in ihrer Kaufkraft zurück: Die Inflation erreicht eine Höchstmarke von 2,2%. Während die Arbeitslosigkeit seit dem 2. Vierteljahr 2016 von 10,5% auf offizielle 9,1% derzeit gefallen ist, scheint die Konjunktur eher zu schwächeln. Die Wachstumsraten des BIP sanken von 0,8% im ersten Halbjahr 2017 (im Vergleich zum Vorjahr) auf 0,4%.
So fühlt sich das »tiefe Frankreich« von Arras im Norden bis Arles im Süden abgehängt und »immer weniger integriert«. In diesen Gebieten sank über lange Zeit die Wahlbeteiligung deutlich. Hier konnte Le Pen seit den Regionalwahlen 2015 eine breite Verankerung erreichen. Im beginnenden Europawahlkampf versucht Macron immer öfter, den Graben zwischen dem progressiven Lager und den Nationalisten zu verdeutlichen, doch wenn er das durch seine steuer- und sozialpolitischen Maßnahmen »tiefe Frankreich« weiter benachteiligt, wird sich die Sehnsucht nach der »Grande Nation« weiter ausbreiten.
Die Zivilgesellschaft organisiert ihren Protest unabhängig von den Großorganisationen, die sich das zum Beruf machen, an den Rändern der großen Agglomerationen, in Kleinstädten und Dörfern, in wirtschaftlich benachteiligten Gegenden, wo man sich von der Politik vernachlässigt und abgehängt fühlt, und wenigstens noch das Internet funktioniert. Keine Partei, keine Gewerkschaft, kein Verband steht im Hintergrund, es gibt auch keine sichtbare Führung.
Sie wehren sich gegen einen Staat, der nach ihrer Wahrnehmung immer mehr fordert und immer weniger bietet, und ganz persönlich gegen Präsident Macron, der ihnen als »Präsident der Reichen« erscheint. Er hat sich unbeliebt gemacht mit Aussagen, die als überheblich und herablassend gegenüber dem gemeinen Volk empfunden werden, wie etwa seine Ermunterung an einen jungen Arbeitslosen: »Ich geh über die Straße, und ich finde Ihnen eine Arbeit.« Eine der Aktionsformen des Protests bestand also darin, die Fußgängerüberwege in wichtigen Kreisverkehren zu blockieren, in dem man »über die Straße geht und einen Job sucht«.
Da Macron auch diesmal, wie schon gegenüber den Gewerkschaften, angekündigt hat, dass er nicht beisteuern werde, wird sich der Konflikt möglicherweise politisieren. Macron verspricht, die TÜV-Gebühren zu senken und die Zuschüsse beim Kauf schadstoffärmerer Autos zu erhöhen, doch Neuwagen können sich nur bestimmte Wählerschichten Macrons leisten.
Bisher ist der Konflikt nicht nur an den Gewerkschaften, die sich traditionell für die Frage der Kaufkraft mobilisieren, sondern auch an den »Bewegungen« vorbei gegangen, die sich lautstark als die eigentlichen Sprecher des Volkes aufführen: Das »unbeugsame Frankreich« steckt ebenso wenig hinter dem Protest wie die »Nationale Sammlung« von Marine Le Pen. Für das »Unbeugsame Frankreich« kommt der Protest eher ungelegen, weil man dort stark auf die öko-soziale Wende und den Ausstieg aus dem Diesel setzt. Die Pariser Bürgermeisterin Hidalgo (PS) will ihre Stadt gar gänzlich autofrei machen.
Es ist die Zivilgesellschaft, die nicht nur das traditionelle Parteiengefüge der regierenden linken oder rechten Mitte abgestraft hat, und jetzt ein weiteres Mal deutlich macht, das sich der Bruch zwischen ihr und dem politischen System vertieft hat.
Die herrschende Klasse, die sich hinter Macron versammelt hat, täuscht sich in der Annahme, dass ein ruhiger wirtschaftlicher Verlauf schon ein ruhiges Regieren ermöglichen werde. Die von Macron angekündigten Reformprojekte (Rentenreform, Arbeitslosenversicherung usw.) waren auf die Zeit nach der EU-Wahl verschoben worden, um das allgemeine Grummeln der Unzufriedenheit nicht zu einem lauten Protest werden zu lassen. Jetzt bricht sich der Unmut auf einem unerwarteten Feld Bahn und wird sich wegen der überfahrenen Rentnerin und den Hunderten Verletzten nur schwer pazifizieren lassen.
Schon in den letzten Wochen lief das Regieren für Macron nicht rund. Die Regierungsumbildung hatte die Lage nicht beruhigt und der Präsident zog sich wegen akuter Erschöpfung für eine Woche ins Privatleben zurück, obwohl doch die Sommerferien gerade erst vorbei sind.
Macron hat angekündigt, den sozialen Wohnungsbau zu massakrieren, da sterben in Marseille acht Menschen beim Einsturz eines baufälligen Wohngebäudes im Stadtteil Noailles. Beim Trauermarsch von 8.000 Menschen bricht an einem weiteren Gebäude ein Balkon ab. Der Bürgermeister ist Republikaner. Das Viertel steht auf der Hitliste der Gentrifizierung ganz oben. Der Einsturz wurde ausgelöst durch ein kollabierendes Gebäude direkt daneben, das einer kommunalen Gesellschaft schon seit 10 Jahren gehört, ohne instand gesetzt zu werden. Staatlich leergeräumte Schrottimmobilien ziehen die Preise und Mieten nach oben. Ein internes Gutachten der regionalen Hygiene- und Gesundheitsaufsicht hatte bescheinigt, dass die Beamten die Schäden solcher Gebäude »systematisch unterschätzen« und ihre Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Bewohner*innen »herunterreden«.