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ISBN 978-3-96488-121-2

19. Juni 2020 Bernhard Sander

Frankreich: Nach der Pandemie der Protest

Foto: francediplomatie/flickr.com (CC BY-NC 2.0)

In seiner vierten Fernsehansprache seit Ausbruch der Virus-Krise verkündete Staatspräsident Emmanuel Macron seinen Landsleuten am 14. Juni die Rückkehr zu »unserem Leben, wie wir es kennen«. Er hatte bereits die schrittweise Rücknahme des »Lockdown« ab dem 11. Mai angekündigt, musste dies aber zurücknehmen.

Mit keinem Wort ging er auf die reale Tragweite des ökonomischen Zusammenbruchs ein. Die in Aussicht gestellten Lockerungen schließen ein, dass am 28. Juni die Stichwahl in den Gemeindewahlen angesetzt wird. Der Lockdown der vergangenen drei Monate stelle »eine humanistische Wahl dar, die Gesundheit über die Wirtschaft zu stellen«. Er habe 500 Mrd. Euro mobilisiert, »die wir nicht durch Steuererhöhungen finanzieren werden«, vor allem nicht durch die Wiedereinführung der Vermögensteuer.

Er will keinesfalls dem Diskurs des »Niedergangs« Nahrung geben, den rechte Intellektuelle seit einiger Zeit pflegen. Stattdessen betonte er den »historischen Wendepunkt« der deutsch-französischen Initiative zur gemeinsamen europäischen Schuldenaufnahme. Er wolle durch weiteren Staatsumbau aus den Werten Freiheit und Verantwortung den Motor für die kommenden Monate machen, analysierte Le Monde.

In den kommenden zwei Jahren (bevor die nächste Präsidentschaftswahl stattfindet) möchte er den Wirtschaftswiederaufbau vermehrt unter die Vorzeichen der nationalen oder europäischen Unabhängigkeit und der Nachhaltigkeit stellen. Von den Erwerbstätigen verlangt er dabei, »mehr zu arbeiten und mehr zu produzieren«; damit nimmt er die Linie der Arbeitgeberverbände ein.
Das müsse man tun, weil das Land nun mit vermehrten Konkursen, Sozialplänen und Entlassungen rechnen müsse. Der notwendige wirtschaftliche Wiederaufbau werde »ökologisch, (national) souverän und solidarisch« sein. Macron bemühte sich im Vorfeld der Stichwahlen, einen konsensuellen Weg aus der Gesundheits- und Wirtschaftskrise aufzuzeigen und sich zugleich als Chef vom Ganzen zu behaupten.

Zu Beginn der Krise hatte er quasi den Kriegszustand ausgerufen und in seiner Wortwahl an die Besetzung der nördlichen Landesteile durch die Deutschen Armeen im Ersten und Zweiten Weltkrieg angespielt. Jetzt wird in der rechtsbürgerlichen Presse darüber spekuliert, ob »die Deutschen« im Zuge der Pandemie dem kleinen Bonaparte ein neues Sedan zugefügt haben. Am Donnerstag vor der TV-Ansprache schrieb die konservative Tageszeitung Le Figaro, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron denke über einen Rücktritt nach, um vorgezogene Neuwahlen zu ermöglichen, als deren Sieger er sich sehe.

Soziale Unruhe

Das Land lässt sich nicht durch Spiegelfechtereien über Nutzen und Gefahren dieser oder jener Lockerungsübung beschäftigen, sondern ist über die seit den Gelbwesten-Protesten ausufernde Polizeigewalt nicht nur in den Vorstädten besorgt. Teile der Bevölkerung konfrontieren den Präsidenten empört mit der tiefen sozialen und rassistischen Spaltung des Landes. Die sozialen Gräben sind weder aus der Realität noch aus dem Bewusstsein verschwunden.

Ein zentraler Punkt seiner Rede war daher die überall im Land im Nachgang zu den US-amerikanischen »Black Lives Matter«-Demonstrationen herrschende Beunruhigung. Nach Polizeiangaben, die man seit Macrons Amtsantritt immer verdreifachen muss, um die reellen Dimensionen erfassen zu können, waren am Samstag vor Macrons Rede 15.000 Menschen in Paris auf die Straße gegangen, in Marseille 2.200, in Lyon 2.000, in Nantes 1.000 und in Bordeaux 500 – trotz des Demonstrationsverbots, das wegen der Pandemie verhängt worden war.

Im Zentrum der Diskussionen steht symbolisch immer wieder die Statue Jean-Baptiste Colberts (1619-1683), die vor der Nationalversammlung thront. Colbert hatte als Finanzminister unter König Ludwig XIV. die Kolonialpolitik begründet. Auf Colbert geht der »Code noir« zurück, ein Gesetz, das Schwarze entmenschlicht und die rechtliche Grundlage der Sklaverei auf Frankreichs Zuckerrohrplantagen bildete. Der Ehrenpräsident des Dachverbands schwarzer Organisationen in Frankreich nennt Colbert den »Feind der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit«. Aktivisten fordern, Colbert von seinem Podest zu stürzen.

Der Staatspräsident versprach gegenüber Rassismus und Antisemitismus »unnachgiebig« zu sein, wies jede Form von »Separatismus« aber ebenso strikt zurück und erwähnte die im Lande vorherrschende Islamfeindlichkeit nicht. Den Polizist*innen wiederum versprach er in wohldosierten Worten »die Unterstützung der staatlichen Autorität und die Anerkennung der Nation«. Wirkliche Lösungen präsentierte der Präsident aber nicht. Den Anerkennung oder Reue fordernden Nachkommen der Opfer des Kolonialismus beschied er provozierend: »Ich sage das sehr deutlich, liebe Landsleute, die Republik wird keine Spur und keinen Namen aus ihrer Geschichte tilgen. Die Republik wird keine Statuen vom Sockel stürzen.« Das zeigt, wie stark der Druck des rechtspopulistischen Rassemblement National von Marine Le Pen auf der Amtszeit Macrons lastet.

Die krassen Mängel in der Vorbereitung und Verzögerungen im Kampf gegen das Virus, gegen die der öffentliche Gesundheitsdienst schon lange vor der sogenannten Corona-Krise protestiert hat, erwähnte Macron nicht. Es seien Fehler vorgekommen. Sehr allgemein meinte er, aus den Engpässen oder organisatorischen Schwierigkeiten müssen die Lehren gezogen werden.

Da die Beschäftigten im Krankenhaus nicht erst seit Corona 14 Stunden am Tag und oft bis zur völligen Erschöpfung arbeiten, fordern sie eine Erhöhung der Monatsgehälter um 300 Euro für alle Berufsgruppen. Zusätzlich möchten sie die Einstellung neuer Kräfte in allen Bereichen des öffentlichen Gesundheitswesens, inklusive der nichtmedizinischen von Krankenhäusern und Pflegeheimen. »Das öffentliche Gesundheitssystem ist krank, und das seit sehr Langem, seitdem die Finanzierung neu organisiert wurde. Die rechten und linken Regierungen hatten nur ein Ziel: die Kosten zu senken. Jetzt will die Staatsführung weitermachen wie vor der Covid-Krise, als wenn nichts gewesen wäre!«, zitiert die TAZ einen Intensivmediziner.

Macrons Antwort fiel schon zu Beginn des »Lockdowns« arrogant aus und er wiederholte in der TV-Ansprache: »Ich werde nicht mehr Geld ausgeben, nur damit das System danach genauso weitermacht wie vorher«. Er werde Geld nur dann lockermachen, wenn sich in den Krankenhäusern »die Gewohnheiten ändern«. Als zwei Tage darauf die leidgeprüften Helden der Nation, die am Nationalfeiertag mit allerhand Orden dekoriert werden sollen, zu Zehntausenden auf rund 220 Kundgebungen und Veranstaltungen ihrem Unmut Ausdruck verliehen, antwortet ihnen die Polizei mit der üblichen Härte.


Europäische Solidarität und protektionistische Interventionen

Die letzten wirtschaftlichen Kennzahlen von vor der Krise versprachen noch einen positiven Trend: Ende 2019 verzeichnete Frankreich die tiefste Arbeitslosenrate seit elf Jahren, hatte im europäischen Vergleich die meisten Investitionsprojekte aus dem Ausland angezogen und blickte auf Wachstumsprognosen, die immerhin im Durchschnitt der Euro-Zone lagen. Auch die politischen Prioritäten haben sich verschoben. So soll etwa die beschlossene Reform der Arbeitslosenversicherung frühestens im Herbst in Kraft treten. Die umstrittene Rentenreform, die vom Parlament noch vor der Sommerpause hätte verabschiedet werden sollen, ist vorerst auf Eis gelegt.

Schon jetzt wissen die Armenspeisungen kaum noch, wie sie dem neuen Ansturm gerecht werden können. Die Nothilfeorganisation Secours Populaire hat bei ihren Essensausgaben allein zwischen Mitte März und Mitte Mai 45% mehr Menschen versorgen müssen als zuvor. Die Tatsache, dass ihre Kinder nicht mehr in der Schule verpflegt werden konnten, wurde für eine sichtbare Zahl von Familien zum existenziellen Problem. Um an diesem Frontabschnitt wieder Ruhe einkehren zu lassen, werden Pläne zur Einführung einer Pflegeversicherung in der Öffentlichkeit ventiliert.

Auf dem Höhepunkt der Krise hatte Macron das Ziel formuliert: »Unsere Priorität ist es heute, mehr in Frankreich und in Europa zu produzieren.« (FAZ, 3.4.2020) Der überzeugte Freihändler Macron reagiert damit nicht nur taktisch auf die national-protektionistischen Angriffe seiner einzig relevanten politischen Gegner vom rechtspopulistischen Rassemblement National. Vielmehr beweist die Positionierung des US-Präsidenten im amerikanischen Corona-Chaos die von Macron seit seiner Sorbonne-Rede immer wiederholte These, Frankreich könne nur in einem starken und unabhängigen Europa seine Zukunft sichern.

Auf diese Orientierung hat sich nun auch die deutsche Bundesregierung eingelassen. Die deutsch-französische Initiative übertrifft im Volumen bisherige Vorschläge aus Brüssel (320 Mrd. Euro), bleibt aber hinter den französischen Vorstellungen (1,0 bis 1,5 Bio. Euro) weit zurück. Der jetzt vorgeschlagene Fonds soll in den EU-Haushalt integriert werden, also die Kommission gegenüber den nationalen Regierungen stärken. Er soll in Form von Zuschüssen, also nicht rückzahlungspflichtigen Krediten, zur Verfügung gestellt werden. Und er soll nach dem Grad der wirtschaftlichen Betroffenheit unter den Ländern verteilt werden. Die EU soll zur Finanzierung dieses Programms 2021 bis 2027 selbst an die Kapitalmärkte gehen können. Es werden also keine Haftungsverpflichtungen für nationale Altschulden übernommen oder neue nationalstaatliche Anleihen unter gemeinsamer Haftung der EU aufgenommen. Das erweiterte Budget muss in den nationalen Parlamenten ratifiziert werden. Für die Mitgliedstaaten könnte der Mechanismus befristet erhöhte Beiträge bedeuten, zumindest in Form von Garantien.

Deutschland finanziert einen Fünftel des EU-Budgets
Durchschnittliche Finanzierungsanteile, 2014 bis 2020, in %


Hervorgehoben sind die drei EU-Länder mit den meisten Covid-19-Todesfällen pro Kopf. Quellen: Auswärtiges Amt Deutschland, NZZ

Merkel und Macron haben
zudem vorgeschlagen, die EU künftig mit gesundheitspolitischen Kompetenzen auszustatten. Dies soll einerseits mehr gemeinsame Forschung, andererseits gemeinschaftliche Lager- und Produktionskapazitäten für strategische Produkte und Arzneimittel ermöglichen. Dies soll die Kopiervorlage werden für andere »strategische« Industriezweige, um die Abhängigkeit vom außereuropäischen Ausland zu reduzieren. Das reparierte deutsch-französische Tandem nehme damit auch die Schaffung von industriellen Champions auf Weltniveau in den Blick. Die Initiative breche mit den Dogmen der EU bezüglich des Wettbewerbs, in der jede Nation zuerst an sich denke, hofft Le Monde.

Der deutsch-französische Vorschlag enthält ein bedeutendes Element der Solidarität. Die Auszahlung der Hilfsmittel erfolgt nach der Bedürftigkeit der Empfänger und die Rückzahlung nach dem Anteil am EU-Budget. Das hat insbesondere für Deutschland erhebliche Folgen: Die größte Volkswirtschaft der EU trägt nämlich rund einen Fünftel zum EU-Budget bei und damit so viel wie niemand sonst. Nach dem Brexit dürfte der Anteil noch steigen. Gleichzeitig war das Land aber bisher deutlich weniger stark betroffen von der Coronavirus-Pandemie als Länder wie Italien und Spanien.



So starben in Deutschland deutlich weniger Menschen an Covid-19, und das Bruttoinlandprodukt (BIP) verringerte sich im ersten Quartal »nur« um 2,2%. Das BIP der gesamten Euro-Zone schrumpfte hingegen gegenüber der Vorperiode um durchschnittlich 3,8%. Frankreich (-5,8%), Spanien (-5,2%) und Italien (-4,7%) wurden deutlich härter getroffen. Die Zahlen könnten sich zwar auch für Deutschland im zweiten Quartal verschlechtern. Dennoch sind Paris, Madrid und Rom in eine schwierige Situation geraten.

Der Aufbau-Plan der EU-Kommission

Gerade Italien verfügt aufgrund der bereits vor dem Ausbruch der Krise hohen Schulden – im Gegensatz zu Deutschland – nur über beschränkten finanziellen Spielraum, um der Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen. Entsprechend ist damit zu rechnen, dass Deutschland wohl rund 104 Mrd. Euro oder mehr der von der Kommission über das EU-Budget aufgenommenen Anleihen zurückbezahlen muss, selbst aber wenig oder kein Geld aus dem Fonds erhält. Aber mit der geplanten langen Laufzeit von 30 Jahren wächst sich die EU sozusagen aus der Verschuldung heraus, wenn alles gut läuft.

Der auf der deutsch-französischen Initiative fußende Aufbauplan der EU-Kommission mit einem Volumen von 750 Mrd. Euro besteht aus drei Säulen:

  • In Säule eins unter dem Titel »Wiederaufbau und Reformen« sollen rund 80% der Mittel fließen. Interessierte Mitgliedstaaten müssen einen nationalen Wiederaufbauplan inklusive Reformprogramm in Brüssel einreichen, um Geld aus diesem Topf zu bekommen.
  • Säule zwei unter dem Titel »Kickstart the economy« sei für Unternehmen bestimmt, etwa für im Prinzip gesunde Firmen, die ausschließlich durch Corona in Schwierigkeiten geraten sind. Auch Unternehmer, die in strategische Wirtschaftsbereiche wie etwa die Pharmaindustrie oder Informationstechnologie in Europa investieren würden, könnten Unterstützung bekommen. Für Säule zwei seien bis zu 15% der Mittel bestimmt.
  • Säule drei unter dem Titel »Lessons learned from the crisis« soll bis zu 8% der Mittel enthalten. Mit dem Geld sollen bereits vorhandene EU-Programme gestärkt werden, etwa das Forschungsprogramm Horizon Europe oder die Hilfsprogramme für EU-Beitrittskandidaten und benachbarte Regionen.

Im Idealfall handelt es sich um echte Gemeinschaftsprojekte, die in europäischen Regionen, grenzübergreifend realisiert werden. Die Praxis gibt es längst, dank der bislang leider winzig kleinen europäischen Fonds (Regionalfonds EFRE, Kohäsionsfonds usw.). Jetzt ist bereits von einer superschnellen Eisenbahnverbindung von Lissabon über Berlin bis Helsinki die Rede, einem Netz also, das nicht mehr eine nationale Eisenbahngesellschaft allein wird koordinieren können, sondern durch eine europäische Institution gemanagt werden könnte, die damit dem Glauben, der Markt finde schon immer die richtige Lösung, die bewusste politische Steuerung entgegensetzt.

»Die deutsch-französische Initiative setzt ein Signal gegen die Kleinstaaterei, gegen die Fluchtreflexe zurück hinter die Grenzen des eigenen Zwergstaats, die unverzüglich griffen, sobald die Pandemie sich bemerkbar machte. Viren kümmern sich nicht um nationale Grenzen, genauso wenig wie CO2-Emissionen. Statt dem Trugbild einer längst illusorischen ›nationalen Souveränität‹ nachzujagen, setzen Merkel und Macron auf die ›europäische Souveränität‹ in Sachen Gesundheitsschutz, Klimaschutz, Forschung und Technologie«, urteilte Michael Krätke im Freitag euphorisch.[1]

Mit diesem Programm wird das linke Dogma, an den europäischen Verträgen – Maastricht und Lissabon – sei nicht zu rütteln und sie gehörten beseitigt, zumindest infrage gestellt. Wenn dieses Programm realisiert wird, müssen sie geändert werden. Die berühmt-berüchtigten Verschuldungsregeln des Maastricht-Vertrags werden nebensächlich durch die Corona-Krise und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung. Sie waren in Schönwetterzeiten sowieso irrelevant und spätestens mit der Großen Krise 2008 nicht mehr zu halten. Kein nationaler Haushalt, auch die »sparsamen Vier« nicht, kann unter dem Kriterium 3%-Neuverschuldung oder 60% Gesamtverschuldung bleiben. Der Satz, »Solange nicht alle sicher sind, ist keiner sicher«, gilt nicht nur für das Virus, sondern auch für die Wirtschaft.

Schlechte Aussichten

Europa ist sozusagen der Strohhalm nach über drei Jahren fortdauernden Abblockens und Aussitzens aller Reformvorschläge, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron immer wieder vorgetragen hat. Die wirtschaftlichen Aussichten für Frankreich sind durch den »Shutdown« denkbar schlecht. Es wird mit einem Einbruch der Wirtschaft von mindestens 11% in diesem Jahr gerechnet. Rund 800.000 Menschen, das sind rd. 2,8% der Beschäftigten, könnten arbeitslos werden. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) prognostiziert für Frankreich für dieses Jahr einen überdurchschnittlichen Einbruch des Bruttoinlandprodukts: Je nachdem, ob es zu einer zweiten Epidemiewelle kommt, soll er bis zu 14,1% betragen. Im Vergleich mit anderen Mitgliedsländern der OECD sieht es nur für Spanien noch düsterer aus.

Gleichwohl verzichtet Macrons Regierungschef, Eduard Philippe, nicht auf protektionistische Maßnahmen, denn sein Staatschef hatte ja von zwei Standbeinen gesprochen. Beim französischen Fahrzeughersteller Renault sind mehr als 3.000 Arbeitsplätze gefährdet.[2] Die Konzernleitung will in den kommenden Monaten drei bis vier Standorte im Land schließen. Es geht um ein Konzept zur weitgehenden »Umstrukturierung« des Unternehmens – wichtigstes Ziel seien »Einsparungen« in Höhe von rund zwei Mrd. Euro, die bis Ende 2022 realisiert werden sollen. Der Staat, mit 15% der Anteile wichtigster Aktionär bei Renault, will dem Unternehmen einen Kredit in Höhe von fünf Mrd. Euro garantieren. Teil des Konzepts ist die Rückverlagerung von ausgegründeten Konzernteilen aus dem Ausland.

Den geplanten Arbeitsplatzverlusten will die französische Regierung entgegenwirken. Die Fertigung des neuen Modells »Clio« wurde aus Flins, wo 2.600 Stellen zur Disposition stehen, abgezogen und ins Billiglohnland Türkei verlegt. Stattdessen werden an diesem zweitgrößten französischen Standort seither das elektrisch betriebene Stadtauto »Zoe« und der Nissan »Micra« montiert, der sich nach Angaben der Pariser Wirtschaftszeitung Les Echos bislang allerdings »schlecht verkauft«.

Dennoch soll nach den Plänen der Konzernleitung die Herstellung von Kfz mit Elektromotor aus Flins abgezogen und in den strukturschwachen Norden des Landes nach Douai verlagert werden – eine Entscheidung, die schwer durchzusetzen sein wird: Im vergangenen Jahr verließen rund 160.000 Fahrzeuge die Fließbänder in Flins. Tausende stehen inzwischen auf Halde – die Covid-19-Pandemie hat den Verkauf von Neuwagen in Frankreich, wie überall in Europa, praktisch zum Erliegen gebracht.

Wirtschaftsminister Bruno Le Maire bestätigte der Hauptstadtzeitung Le Parisien, dass die Regierung ihre Industriepolitik auf die »Rückgewinnung wirtschaftlicher Souveränität« des Landes konzentrieren und sich dabei auf die Unterstützung »grüner Technologie« konzentrieren wolle. In diesem Rahmen werde der Staat in einem nach Umweltverträglichkeit abgestuften Prämiensystem jeweils den Kauf von hybriden Modellen und Elektroautos, aber auch den Umstieg von älteren auf modernere Dieselfahrzeuge finanziell unterstützen.

Der europäische Automobilmarkt schrumpfte in den vergangenen beiden Monaten angesichts einer von der Pandemie verschärften Wirtschafts- und Kapitalkrise auf ein Viertel seines vorherigen für das Jahr 2019 bilanzierten Volumens. In Frankreich sind vom nahezu totalen Einbruch des Geschäfts rund 400.000 Arbeitsplätze direkt betroffen, außerdem sind rund 900.000 Beschäftigte in den Zulieferbetrieben abhängig von der Fahrzeugindustrie.

Beharrende Kräfte

Aber aus Europa bekommt Macron Gegenwind aus zwei Richtungen. Die Regierungschefs der »sparsamen Vier« – Österreich, die Niederlande, Schweden und Dänemark – waren durch die Initiative Merkel und Macrons vorbereitet und reagierten prompt. Österreichs Kanzler Sebastian Kurz teilte über den Kurznachrichtendienst Twitter mit, man sei nicht gewillt, Zuschüsse zu gewähren, sondern beharre auf rückzahlbaren Darlehen: »Wir wollen eine zeitliche Befristung, damit es wirklich eine Corona-Soforthilfe ist und nicht zu einer Schuldenunion durch die Hintertür wird.« Die Staaten müssten sich das Geld also aus dem Gemeinschaftstopf der EU leihen und es später wieder zurückzahlen. Man wird beobachten müssen, wie stark diese Position in der EU tatsächlich noch ist, nachdem die Briten den Verein verlassen haben, die zusammen mit der Bundesregierung bisher auf der Bremse gestanden haben, wenn es um neue Kompetenzen für die Kommission, eigene Steuerhoheit, Bankenunion oder Schuldenunion ging.

Der CDU-Wirtschaftsrat begrüßte den Gegenentwurf der vier Staaten. »Der Vorschlag ist eine gute und vor allem eine wirklich schnell helfende Alternative zur deutsch-französischen Initiative«, sagte Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsverbands, dem Handelsblatt. Dieser Flügel bekommt Rückenwind durch das Verfassungsgerichtsurteil zur Aufkaufpolitik der EZB, mit der den nationalen Regierungen und der Kommission Zeit gekauft wurde, um realwirtschaftlich initiativ zu werden. Aber auch von dieser Seite kann es eine Chance sein, die Verträge neu zu verhandeln.

Polens Vizepremierministerin Jadwiga Emilewicz, liberales Aushängeschild der klerikal-nationalistischen PIS-Regierung, übt heftige Kritik an der zu national ausgerichteten Corona-Hilfspolitik in den Mitgliedstaaten der EU.[3] Sie unterstützt gleichwohl den 750-Milliarden-Euro-Coronahilfenplan von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Die französischen Staatskredite für den Autobauer Renault seien »ein Angriff auf Europas Prinzipien«. Über die Auflage, die Produktion im Gegenzug für Hilfen hauptsächlich im eigenen Land zu konzentrieren, sagte Emilewicz: »Auch jetzt in der Coronakrise darf es doch keine Staatshilfen allein für nationale Firmen geben oder nur für diesen oder jenen EU-Mitgliedstaat.«

Auch das deutsche Konjunkturprogramm sei zu stark auf den Konsum ausgerichtet, mahnte Emilewicz. »Binnennachfrage ist zweifelsohne wichtig«, unterstrich sie. Aber: »Jetzt zur Bekämpfung der Krise sollten wir uns nicht allein darauf konzentrieren. Wir sollten das Krisenmanagement als Chance nutzen, um neue Technologien zu fördern.«
Der Widerstand, der sich in den osteuropäischen Ländern formiert, richtet sich dagegen, dass das geplante Programm keine Verteilung von Geldgeschenken, sondern ein Instrument gezielter Investitionen der Gemeinschaft in relevante Industrien und Regionen ist, was das Abgreifen von Fördermitteln für nationalistische Klientelwirtschaften erschwert.


[1] www.freitag.de/autoren/der-freitag/jetzt-gehts-los-mit-europa
[2] www.jungewelt.de/artikel/378878.industrielle-eigenständigkeit-renault-kompromisslos.html
[3] www.handelsblatt.com/politik/international/jadwiga-emilewicz-im-interview-polnische-vizepremierministerin-kritisiert-franzoesische-staatskredite-ein-angriff-auf-europa/25917884.html

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