24. Januar 2019 Bernhard Sander: Neuer deutsch-französischer Freundschaftsvertrag
Freundschaft geht anders
Frankreich und Deutschland haben einen neuen Freundschaftsvertrag vereinbart, den Angela Merkel und Emmanuel Macron am 22.1.2019, also exakt 56 Jahre nach Unterzeichnung des Élysée-Vertrages, in Aachen symbolträchtig besiegelt haben.
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) sagte, mit dem neuen Freundschaftsvertrag könnten die beiden Länder auch wegen ihrer lange von Feindschaft geprägten Geschichte ein Vorbild sein.
Das Ziel der deutsch-französischen Freundschaftserklärung 1963 war die »Aussöhnung« beider Nationen, die sich seit dem Aufstieg Preußens zur kontinentalen Industriemacht drei blutige Kriege geliefert hatten: 1870, 1914-1918, 1939-1945. Deutschland hatte alle drei Kriege zu verantworten. Treibende Kraft war der Expansionismus des deutschen Kapitals, das sich auf diese Weise den kontinentalen Markt erobern wollte.
Die Montanunion, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die EU, letztlich aber auch der Freundschaftsvertrag von 1963 waren Versuche, die Wirtschaftsmacht Deutschland einzubinden in ein regelbasiertes System, das sowohl die Konkurrenz der europäischen Nationalkapitale einhegte als auch gegenüber dem durchaus erfolgreichen Block um die Sowjetunion Grenzen ziehen konnte.
In dem vom Bundestag verabschiedeten Begleitgesetz wurden damals folgende Ziele quasi als deutsche Präambel fixiert: »die gemeinsame Verteidigung im Rahmen des nordatlantischen Bündnisses« und der »Abbau der Handelsschranken durch Verhandlungen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika sowie anderen Staaten im Rahmen des ›Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens‹«.
Der Vertrag selbst stellte zwar ebenso wie der neue Aachener Vertrag die Zusammenarbeit in der Verteidigungs- und Kulturpolitik ins Zentrum, vereinbart jedoch auch einen verbindlichen Konsultationsmechanismus auf wirtschaftlichem Gebiet: »Diese Konsultation betrifft unter anderemfolgende Gegenstände:
(…) Fragen der Europäischen Gemeinschaften und der europäischen politischen Zusammenarbeit; (…) Die beiden Regierungen prüfen gemeinsam die Mittel und Wege dazu, ihre Zusammenarbeit im Rahmen des Gemeinsamen Marktes, in anderen wichtigen Bereichen der Wirtschaftspolitik, z.B. der Land- und Forstwirtschaftspolitik, der Energiepolitik, der Verkehrs- und Transportfragen, der industriellen Entwicklung ebenso wie der Ausfuhrkreditpolitik, zu verstärken.«
Bisherige europäische Vereinbarungen hatten für die Partner auch den Sinn, die propagandistische Tendenz des deutschen Kapitals nach Ausweitung der Märkte einzuhegen, da man hier die Ursachen für die beiden Weltkriege vermutete. Da jedoch Regelungen zur Zusammenarbeit der Volkswirtschaften jenseits der Währungsunion unverbindlich blieben bzw. wesentliche Politikfelder wie Steuer- und Sozialpolitik dem Wettbewerb unter den Nationen aussetzten, ist es der EU nicht gelungen, dem deutschen Kapital Schranken zu setzen. Im Gegenteil: Hürden sind abgebaut worden und mit den »vier Freiheiten« der EU haben sich die anderen Nationen öffnen müssen für Importe, Sozialdumping usw.
Der neue Vertrag verzichtet darauf, diese neue Situation zu gestalten. »Damit hat die Geschichte eine Wendung genommen, die für uns nicht glücklicher hätte sein können«, bemerkte Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Rede.
Macrons Sorbonne-Rede vom September 2017 verfolgte bereits das Ziel einer intensiveren Zusammenarbeit eines Kerneuropas. Er schlug einen gemeinsamen europäischen Finanzminister, ein autonomes Steuererhebungsrecht der Kommission und einen Investitionsfonds der Union zum Ausgleich struktureller Ungleichgewichte und wirtschaftlicher Krisen vor. Doch seine Ansätze haben sich gegen den deutschen Widerstand nicht durchgesetzt.
In seiner Rede hatte Macron unter anderem gesagt: »Der europäische Binnenmarkt bleibt der beste Garant für unsere Stärke… Der europäische Binnenmarkt muss wieder mehr ein Konvergenz- als ein Wettbewerbsraum werden.« Macron sprach von der »Fähigkeit in der heutigen Welt zu bestehen, um unsere Werte und Interessen zu verteidigen«, und nannte als diese Werte »Treue zur Marktwirtschaft, aber auch die zur sozialen Gerechtigkeit«. Gelinge dies nicht, stehe am Ende der »europäische Bürgerkrieg« bevor.
Von sozialer Gerechtigkeit ist im neuen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag nicht mehr die Rede. Allerdings »wirken beide Staaten auf eine wettbewerbsfähige, sich auf eine starke industrielle Basis stützende Union als Grundlage für Wohlstand hin und fördern so die wirtschaftliche, steuerliche und soziale Konvergenz« (Artikel 1). Es besteht also für die Unterzeichner eine klare Reihenfolge: Erst die Wettbewerbsfähigkeit, dann die soziale Ausgestaltung. Für Macron mag das gleichwohl ein kleiner Erfolg sein, denn die industrielle Basis Frankreichs befindet sich unter dem deutschen Exportdruck in einem Stadium der Zersetzung.
In der »Überzeugung, dass die enge Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich für eine geeinte, leistungsfähige, souveräne und starke Europäische Union entscheidend gewesen ist und ein unverzichtbares Element bleibt« drückt sich der Wunsch aus, als Kerneuropa künftig eine stärkere Rolle zu spielen. Macron sagte, Deutschland und Frankreich müssten ihre Verantwortung für Europa wahrnehmen. Die beiden EU-Kernländer müssten zudem »den Weg weisen«.
Dann beginnt das wesentlich umfänglichere Kapitel 2 zur gemeinsamen Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. In der Außenpolitik wollen die Partner »alles daran setzen, eine einheitliche Position der Europäischen Union in den einschlägigen Organen der Vereinten Nationen herbeizuführen«, was angesichts der auseinanderstrebenden nationalen Politiken keine leichte Aufgabe sein wird. Zwar beruft man sich auf die Verbindlichkeit der Zugehörigkeit zum Nordatlantikpakt, aber auch zum Vertrag von Lissabon.
Neben vielen Festlegungen zur Kooperation in der Rüstungswirtschaft und beim Export bekommt die militärische Zusammenarbeit aber noch eine weitere neue Qualität: »Beide Staaten verpflichten sich, die Zusammenarbeit zwischen ihren Streitkräften mit Blick auf eine gemeinsame Kultur und gemeinsame Einsätze weiter zu verstärken.« Sie »leisten einander im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ihre Hoheitsgebiete jede in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung; dies schließt militärische Mittel ein. … Beide Staaten richten den Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat als politisches Steuerungsorgan für diese beiderseitigen Verpflichtungen ein.« Faktisch ist Deutschland damit dem Zugriff auf französische Atomwaffen ein Stück näher gerückt. Nach dem zu erwartenden Austritt Großbritanniens ist Frankreich die letzte verbliebene Atommacht in der EU.
Das gestiegene Gewicht Deutschlands gegenüber der Siegermacht Frankreich drückt sich aber vor allem darin aus, dass die Nachbarn jenseits des Rheins die Aufnahme Deutschlands als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat unterstützen. Bei der französischen Rechten, nicht nur bei Le Pens Rassemblement National, führt dies zu Empörung. Hier werden Verschwörungstheorien verbreitet, Macron wolle den eigenen Sitz mit Deutschland teilen. Dies geht allerdings auf eine Überlegung des deutschen Finanzministers Olaf Scholz zurück. Von einer weiteren Reform der UN, einer stärkeren Verpflichtung auf friedenserhaltende Politik z.B., ist im Aachener Vertrag nicht die Rede.
Der erste Freundschaftsvertrag setzte große Hoffnungen auf die kommende Generation, um die »Aussöhnung« zu verwirklichen. Auch der Vertrag von Aachen enthält teilweise sehr konkrete Absichtserklärungen, den kulturellen Austausch zu fördern: Sprachkompetenz, Anerkennung von Bildungsabschlüssen, Schaffung einer digitalen Plattform, grenzüberschreitende Institutionen. Auch dies führte zu verrückten Gerüchten der Rechten, das Elsass solle kulturell aus Frankreich herausgelöst werden. Frankreich hat die europäische Charta zum Schutz von Regional- und Minderheitensprachen nicht ratifiziert. 2015 scheiterte ein neuer Versuch am Widerstand der rechtsbürgerlichen Mehrheit im Senat.
Der neue Freundschaftsvertrag von Aachen setzt das Ziel der sozialen »Aufwärtskonvergenz«, die allerdings nur eintritt, wenn die sozialen Kräfte sich dies zum Ziel setzen und entsprechend einbringen in Form von Arbeitskämpfen, Verhandlungsrunden und politischen Optionen. Gerade hier aber haben die französischen Gewerkschaften erhebliche Probleme, da ihnen im politischen System Parteien als Ansprechpartner und Akteure fehlen.
Das Übergewicht der Außen- und Militärvereinbarungen scheint den Verdacht nahezulegen, dass man in Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht weit gekommen ist. Es bleibt daher die Aufgabe von linken Parteien, Gewerkschaften und Sozialverbänden, diese Absichtserklärungen mit Forderungen zu konkretisieren und die Realisierung dieser Grundsätze einzufordern.
Merkel würdigte den neuen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag als gemeinsame Antwort beider Länder auf erstarkenden Populismus und Nationalismus. Die Bedrohung sieht Macron heute nicht mehr im Nachbarn jenseits des Rheins: »Sie kommt von außerhalb Europas, und aus dem Inneren unserer Gesellschaften, wenn wir es nicht schaffen, auf die aufbrausende Wut zu antworten.« Der französische Staatspräsident ist im eigenen Land von einer Rebellion herausgefordert, die den sozialen und demokratischen Charakter der Republik einklagt, den die eigentumslosen Schichten der Bevölkerung nach der Niederlage der Gewerkschaften und den jahrzehntelangen neoliberalen Modernisierungs- und Rosskuren verloren glauben. Die aufbrausende Wut, der Macron sich mit diesem Vertrag kaum stellen kann, ist das Resultat der eigenen Politik unter dem Druck von falschen EU-Konzepten der Austeritätspolitik.