11. Oktober 2022 Joachim Bischoff: Die Notlösung aus Berlin
Gaspreis-Kommission votiert für Sonderzahlung und Preisdeckel
Das Ausgangsproblem: Der Gaspreis ist in Deutschland und Europa viel zu hoch. Selbst, wenn einige Altkund*innen bei den regionalen Lieferanten derzeit noch in günstigen Tarifen sind – das wird nicht so bleiben und in einigen Haushalten geht mehr Geld für Gas als für Lebensmittel drauf.
In den USA und in Europa kämpfen Regierungen und Notenbanken gegen die hohe Inflation – aber die Voraussetzungen sind unterschiedlich. Faktisch sind die gesellschaftlichen Reproduktionsprozesse fundamental gestört und über die Veränderung der Kostenstrukturen wird in Kürze auch die Wohlstandsverteilung angegriffen.
Europa bewegt sich auf einen Deckel für die Gaspreise zu. Auch Deutschland hat seinen Widerstand aufgegeben. Andere europäische Länder wie Spanien, Frankreich etc. sind längst auf diesem Feld unterwegs. Fortschritte sind dringend erforderlich. Ohne ein Ende der explodierenden Gas- und Strompreise kann die Europäische Zentralbank keine wirksame Geldpolitik durchführen.
Die Zinsen zu erhöhen und Liquidität abzuschöpfen, bringt wenig, wenn die Inflation durch Schocks auf der Angebotsseite verursacht wird. In den USA ist die Situation einfacher – geldpolitisch zumindest. Dort steigen die Konsumentenpreise im Wesentlichen dank der kräftigen Nachfrage, der ausgezeichneten Lage am Arbeitsmarkt und anziehenden Löhnen. Die Inflation ist also im Vergleich zur Lage in Europa stärker konjunkturell bedingt. Die Kernrate ohne Energie und Nahrungsmittel liegt in den USA mit 6,3% (August) auch rund zwei Prozentpunkte höher als im Euroraum.
Für die amerikanischen Währungshüter gibt es daher den Ansatz, die konjunkturelle Dynamik zu beeinflussen, um die überhitzte Konjunktur abzukühlen. Die EZB hingegen ist bei ihren geldpolitischen Entscheidungen mit der unausweichlichen Tatsache konfrontiert, dass die Wirtschaft in eine Rezession rauscht. Schuld sind vor allem die hohen Gasnotierungen und Energiepreise, die letztlich eine Knappheitskonstellation anzeigen – verstärkt durch die Energiepolitik Russlands und die Sanktionspakete gegen das Putin-Regime.
Europäische Preisdeckel
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schlägt einen innereuropäischen Gaspreisdeckel vor, bei dem die Preise für den Import in die Union – etwa aus Norwegen oder den USA – zwar unberührt bleiben. Doch es soll am TTF-Handelsplatz (Termingeschäfte im Großhandel) eine Preisobergrenze in Betracht gezogen werden, »die die Gasversorgung Europas und aller Mitgliedsstaaten weiterhin sicherstellt«, heißt es in einem Schreiben von der Leyens an die Staats- und Regierungschefs. Das wäre ein erheblicher Eingriff in den Markt.
Die Gewinnmargen der Gaskonzerne würden automatisch begrenzt. 15 Staaten, darunter die Schwergewichte Frankreich und Italien, fordern einen Preisdeckel für importiertes Gas. Es gibt unter EU-Diplomat*innen aber große Skepsis über die Praktikabilität. Auch Deutschland und die Niederlande sind dagegen. Entscheidend dürfte dabei die Frage sein, wo die Preisobergrenze verläuft. Ist sie niedrig, besteht das Risiko, dass Energiekonzerne das Gas an Abnehmer*innen in Nicht-EU-Staaten verkaufen – wenn dort höhere Preise erzielt werden können. Das könnte die Versorgungssicherheit in einzelnen EU-Ländern beeinträchtigen und bis zum Rationieren von Erdgas führen.
Unbestritten ist: Der europäische Gasmarkt erlebt gerade einen rasanten Komplettumbau: Weg von russischem Pipelinegas und hin zu verflüssigtem Gas (LNG), das auf dem Weltmarkt gekauft und per Schiff transportiert wird. LNG ist in normalen Zeiten nicht nur um etwa ein Viertel teurer, es unterliegt auch größeren Preisschwankungen. Einigkeit besteht unter den Staats- und Regierungschefs vorerst nur in dem gemeinsamen Wunsch, gegen die Preisspitzen (»Mondpreise«, so Wirtschaftsminister Robert Habeck) vorzugehen. Wie das aber geschehen soll, darüber wird noch gestritten. Von der Leyen hat weiter vorgeschlagen, den Preis für Gas zu deckeln, das für die Stromerzeugung verwendet wird. Spanien und Portugal machen das bereits. Es wird also auf europäischer Ebene weiter an Deckel-Konstruktionen für Energie gearbeitet.
Notlösung in Berlin
Angesichts der wachsenden Unruhe unter Teilen der Bevölkerung und den negativen wirtschaftlichen Aussichten will auch die Berliner Koalition nicht länger auf eine europäische Lösung warten. Die Anforderungen von der Berliner Politik: Erstens sollen die Gaspreise sinken, aber Anreize zum Gassparen erhalten bleiben. Und zweitens sollen möglichst nur Haushalte und Unternehmen, die auch wirklich bedürftig sind, in den Genuss der massiven staatlichen Subventionen kommen. Allerdings gibt es keine Daten darüber, wer genau bedürftig ist. In einer solchen Situation kann kaum eine wirklich gute staatliche Lösung herauskommen. Sicher ist bei dieser wenig zielgenauen Entlastung: Schon auf mittlere Sicht wird die Gaspreis- und Strompreisebremse für den Staat extrem teuer werden.
Die von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission sieht den Problemdruck bei Teilen der Konsument*innen sowie kleineren und mittleren Unternehmen. Sie hat ein zweistufiges Entlastungsverfahren gegen die hohen Gaspreise vorgeschlagen.
- Für private Haushalte und Gewerbekunden ist zunächst eine Einmalzahlung im Dezember vorgesehen. Zweitens soll der Gaspreis für diese Kund*innen ab März nächsten Jahres 14 Monate lang auf zwölf Cent pro Kilowattstunde gedeckelt werden, jedoch nur für 80% des jeweiligen Vorjahresverbrauchs.
- Für Industrie-Gaskunden gibt es keine Einmalzahlungen, dafür aber schon ab Januar 16 Monate lang einen Gaspreisdeckel von sieben Cent pro Kilowattstunde, allerdings nur für 70% des Vorjahresverbrauchs. Die Subventionen zahlen die Steuerzahler*innen, wenn auch erst in der Zukunft.
Die Entlastung im Dezember gilt für alle Gaskund*innen. Wieder einmal werden auch wohlhabende Haushalte, die eigentlich keine Hilfe brauchen, entlastet. Und auch der Anreiz beim Gassparen ist überschaubar. Für jene, die schon einen hohen Abschlag haben, kann die Übernahme der Abschlagszahlung durch den Staat aber eine Entlastung in Höhe von mehreren hundert Euro bedeuten. Die Expert*innen selbst sehen in der Einmalzahlung nur eine Brücke bis zur Einführung einer echten Gaspreisbremse.
Die Kommission will in ihrem Abschlussbericht in drei Wochen weitere Vorschläge machen. Mitglieder erläuterten, es gehe darum, das Gasangebot auszuweiten und die Nachfrage zu senken. Auch müssten Mitnahmeeffekte und möglicher Betrug vermieden und Details verfeinert werden. Erst danach soll der Bundestag darüber abstimmen.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) sagte: »Wir werden uns die Vorschläge angucken und dann sehr rasch und sehr weitgehend umsetzen.« Ähnlich äußerte sich Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Das Ziel bleibe, »die hohen Gaspreise zu senken und zugleich eine sichere Versorgung mit Gas zu gewährleisten«.
Preisdeckel soll ab Frühjahr sitzen, Entlastungen kosten fast 100 Mrd. Euro
Die Kommission empfiehlt also, ab März 2023 ein Jahr lang für 80% des geschätzten Vorjahresverbrauchs die Preise auf zwölf Cent pro Kilowattstunde zu begrenzen. Der Vorschlag solle die beiden Ziele machbar kombinieren, Verbraucher*innen zu entlasten sowie einen Anreiz zum Einsparen von Gas zu erhalten, betonte die Vorsitzende der Kommission Veronika Grimm, Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
Für Fernwärmekund*innen soll eine Wärmepreisbremse kommen. Analog zum Gaspreis soll es einen garantierten Bruttopreis von 9,5 Cent pro Kilowattstunde Fernwärme geben, wiederum für ein Grundkontingent von 80% des Verbrauchs.
Die von der Gas-Kommission vorgeschlagenen Entlastungen summieren sich nach Angaben des Co-Vorsitzenden, IG-BCE-Chef Michael Vassiliadis, auf etwa 96 Mrd. Euro bis Ende April 2024. Gas kostet laut Vergleichsportal Verivox im Oktober durchschnittlich 20,53 Cent pro Kilowattstunde. Die vorgeschlagene Gaspreisbremse würde nach Berechnungen des Portals die Preise um rund ein Drittel senken.
Die Kommissions-Vorsitzende Grimm erläuterte, dass beim Preisdeckel der Verbrauch nicht pro Haushalt geschätzt werden könne, sondern pro Anschluss. Die Wirtschaftswissenschaftlerin geht davon aus, dass die Gaspreise auch in der Zukunft nicht mehr auf die ursprünglichen sieben Cent pro Kilowattstunde Cent zurückfallen werden.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich nannte die Pläne der Kommission ein »wichtiges Signal«. Das zweistufige Verfahren sei »sinnvoll«, da ein Gaspreisdeckel auch funktionieren müsse. Es gebe damit die Möglichkeit, Vertrauen zu schaffen und zu zeigen, dass die Regierung die Sorgen der Menschen ernst nehme.
Gaspreisdeckel Teil des »Abwehrschirms«
Der Gaspreisdeckel soll ein zentrales Rettungsinstrument der Bundesregierung in der Energiekrise sein. Die Ampelkoalition hat einen »Abwehrschirm« mit bis zu 200 Mrd. Euro angekündigt, um Verbraucher*innen und Unternehmen zu stützen. Daraus soll auch die Gaspreisbremse finanziert werden.
Die Aufgaben der Kommission mit Vertreter*innen aus Verbänden, Gewerkschaften, Wissenschaft und Bundestag reichen über die Gaspreisbremse hinaus. Die Mitglieder sollen auch das Ausmaß der Preisanstiege durch den Wegfall russischer Gaslieferungen bis zum Frühjahr 2024 bewerten.
Grimm sagte, dass Schnelligkeit geboten gewesen sei, um die »massiven Belastungen« abzufedern. Daher gebe es die beiden Stufen. Mit der Übernahme der Abschlagszahlung im Dezember würden die Verbraucher*innen kurzfristig entlastet. Die Einmalzahlung solle auch die zusätzlichen Belastungen bis März 2023 abdecken, bis im zweiten Schritt die Preisbremse komme. Der vorgelegte Vorschlag kombiniere Sparen und Entlasten. Grimm verwies darauf, dass in Deutschland Privatkunden und Industrie rund 20% ihres Gasverbrauchs einsparen müssten, damit keine Mangellage entstehe.
Der Vorsitzende der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), Michael Vassiliadis, rechnete vor, dass für die Gaspreisbremse und die Sofortentlastung im Dezember rund 96 Mrd. Euro veranschlagt würden. Dabei entfielen 25 Mrd. Euro auf die Industrie und 66 Mrd. Euro auf Privathaushalte sowie auf Gewerbe. Rund fünf Mrd. Euro werde die Übernahme der Abschlagszahlung für Dezember kosten. Vassiliadis, einer der Kommissionsvorsitzenden, verwies aber auch auf Unsicherheiten der Kalkulation, die sich aus den Gaspreisen am Weltmarkt ergäben. Die Kommission habe sich am erwarteten Preisniveau in den kommenden Monaten orientiert.
Verbrauch der Industrie wird zu 70% subventioniert
Für die rund 25.000 Großkunden der Industrie gilt laut dem Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Siegfried Russwurm, kein zweistufiges Modell. Ab Januar werde der Beschaffungspreis des Grundkontingents auf 7 Cent pro Kilowattstunde gedeckelt – das entspricht den 12 Cent pro Kilowattstunde für Haushalte, weil darin schon Steuern und Abgaben enthalten sind. Allerdings gilt die Subvention nur für 70 Prozent des Vorjahresverbrauchs.
»Wir müssen den Produktionsstandort Deutschland sichern«, sagte Russwurm, der ebenfalls Vorsitzender der Expertenkommission ist. Gleichzeitig müssten Anreize zum Sparen gesetzt werden. »Das ist eine Gratwanderung.« Außerdem soll es besondere Härtefallregelungen für Privatkund*innen und Industrie geben. Verzichtet wurde bei den gewerblichen und industriellen Verbraucher*innen auf weitere Auflagen: Sinnvoll aber wäre es für diese Gruppe die Hilfszahlungen an die Anforderung zu knüpfen, in Energieeffizienz und die Umstellung auf klimafreundliche Produktionsprozesse zu investieren, um so schnell die Abhängigkeit von fossilen Energien zu senken. Anstatt Dutzende Milliarden Euro in günstigeres Gas zu investieren, sollte die Bundesregierung die Chance ergreifen, eine Win-win-Situation für den Klimaschutz, die Wirtschaft und die Menschen herzustellen.
Keine zielgenaue Entlastung möglich
Der Kritik, dass mit den Vorschlägen keine zielgenaue Entlastung möglich sei, gab die Kommission Recht. Die Vorgabe der Bundesregierung sei, schnell einen Vorschlag zu erarbeiten, sagte Grimm. Sie verwies auf die Schwierigkeit, dass Gas von den Versorgern nicht per Haushalt abgerechnet werde, sondern per Anschluss. Dabei könne es sich um ein Einfamilien- oder ein Mehrfamilienhaus handeln. Der Auftrag an die Bundesregierung heiße jetzt: »Wir wollen die Menschen hinter den Anschlüssen sehen.« Damit seien künftig zielgenauere Entlastungen möglich.
Dass die Maßnahmen nicht treffsicher sind, war kaum zu vermeiden. So profitieren nun auch Haushalte, Gewerbe und Unternehmen, die keine Hilfe benötigen. Zugleich leiden auch Kund*innen, die mit Heizöl oder Holz-Pellets heizen, unter stark gestiegenen Preisen, ohne dass eine Entlastung erfolgt.
Eine Alternative für die privaten Haushalte wäre eine feste, gegebenenfalls zu versteuernde Zahlung pro Kopf (inklusive Kinder) bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze. Das hätte Sparanreize noch stärker aufrechterhalten. 100% treffsicher wäre aber auch ein solcher Ansatz nicht. Alles in allem sind die Vorschläge also ein praktikabler Kompromiss.
Die Expertenkommission besteht aus mehr als 20 Mitgliedern und Berater*innen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Gewerkschaften und Industrie. Die Regierung selbst ist nicht in dem Gremium vertreten. Sie wurde von der Bundesregierung eingesetzt und erarbeitet Vorschläge, die die Politik umsetzen muss. Noch im Oktober will die Expertenkommission ihren Abschlussbericht vorlegen.
Die Gaspreisbremse ist Teil des sogenannten Abwehrschirms der Bundesregierung, der bis zu 200 Mrd. Euro kosten soll. Finanziert werden soll das Maßnahmenpaket über den staatlichen Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF), der zur Unterstützung von Unternehmen in der Corona-Krise geschaffen worden war.
Bundeskanzler Scholz hat die Vorschläge der Gaspreis-Kommission als sehr gute Grundlage bezeichnet, um die Preise wie angestrebt zu senken. Gas- und Strompreise müssten für Unternehmen und Bürger*innen bezahlbar bleiben, so dass niemand vor seiner Rechnung Angst haben müsse. Alle Unternehmen müssten sicher sein können, dass sie ihre Produktion fortführen könnten. Die nationale Lösung für dir Berliner Republik ist ein erster Schritt, aber mit Sicherheit noch keine Lösung für ein neues Design der Energiemärkte.