1. Juli 2023 Joachim Bischoff/Bernhard Müller: Mindestlohnkommission gegen Stimmen der Gewerkschaften
Gesetzlich festgelegter Reallohnverlust
Seit Oktober vergangenen Jahres liegt der Mindestlohn bei zwölf Euro pro Stunde. Das hilft mehreren Millionen Menschen bei der Existenzsicherung. Aktuell haben die Vertreter der Unternehmer gegen die Stimmen der Gewerkschaften in der Mindestlohnkommission gemeinsam mit der unabhängigen Vorsitzenden einen Beschluss durchgesetzt, der eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes von 12 Euro auf 12,41 Euro ab Januar 2024 und auf 12,82 Euro ab Januar 2025 vorsieht.
Die Gewerkschaften kritisierten den Beschluss als »absolut nicht zufriedenstellend«, sechs Millionen Beschäftigte würden damit »einen enormen Reallohnverlust« erleiden. Scharf kritisiert daher der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke die Empfehlung der Mindestlohnkommission: »Diese Empfehlung ist gegen die Stimmen der Gewerkschaften in der Mindestlohnkommission zustande gekommen – eine derart geringe Erhöhung verschärft die Probleme der Menschen, die mit ihrer Arbeit ein auskömmliches Leben finanzieren müssen und geht an der Realität der hohen Preise für Lebensmittel und Energie vorbei«.
Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) wird noch deutlicher: Es sei eine Schande, dass das Arbeitgeberlager in der Mindestlohnkommission gnadenlos die eigene Agenda durchgedrückt habe. Diese fatale Entscheidung geht völlig an der Lebensrealität von Millionen von Menschen vorbei und passt nicht in die Zeit, so der NGG-Vorsitzende Guido Zeitler.
Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, nannte das Ergebnis »zutiefst enttäuschend«. «Die Erhöhung ist angesichts der Inflation ein schlechter Scherz.« Der VdK hatte eine Anhebung auf mindestens 14 Euro gefordert.
Nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 in Höhe des politisch gesetzten Betrages von 8,50 Euro je Stunde war es regelmäßig die Aufgabe der Mindestlohnkommission, einen Beschluss zur Anpassung vorzulegen. Ziel ist dabei im Rahmen einer »Gesamtabwägung« ein angemessener Mindestschutz der Beschäftigten, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen sowie keine Gefährdung von Beschäftigung. Das Gesetz gibt vor, dass sich die Mindestlohnkommission dabei »nachlaufend an der Tarifentwicklung orientiert«. Von diesem Verfahren wurde ein einziges Mal abgewichen, als 2022 durch Änderung des Gesetzes der Mindestlohn auf 12 Euro ab Oktober 2022 festgesetzt wurde. Anschließend sollte wieder das alte Verfahren angewendet werden.
»Genau das ist jetzt geschehen und die Unternehmer haben dabei die Chance gesehen und genutzt, ihre Ablehnung des 12-Euro-Mindestlohns noch einmal nachdrücklich zum Ausdruck zu bringen.« Sie schlugen in der Kommission zunächst vor, die Anhebung des Mindestlohns um ein Jahr auf Anfang 2025 zu verschieben, um bis dahin die Auswirkungen der Anhebung auf 12 Euro genauer beurteilen zu können. Ein weiterer Vorschlag war, lediglich die Tariflohnentwicklung seit Oktober 2022 in Höhe von etwa 2% für die künftige Anhebung des Mindestlohns zu berücksichtigen.
Beide groteske Vorschläge fanden keine Zustimmung. »Die schließlich präsentierte Lösung, die Tarifentwicklung von Juni 2022 bis Juni 2023 in Höhe von 7,8% als Orientierungsgröße zu nehmen, hätte eine zweistufige Anhebung um jeweils 3,9% bedeutet. Hier setzten die Arbeitgeber jedoch durch, dass diese Steigerung lediglich auf den Mindestlohn von 10,45 Euro statt auf die 12 Euro angewendet wurde, der bis September 2022 gültig war. Die Differenz von 1,55 Euro wurde anschließend hinzuaddiert. Auf diese Weise ergibt sich lediglich eine Anhebung des geltenden Mindestlohns um 3,4 Prozent ab Januar 2024 und weitere 3,3 Prozent ab Januar 2025.«[1]
Mindestlohnanpassung = staatlich verordnete Kaufkraftverluste
Diese Erhöhung des Mindestlohns von 12 Euro auf 12,41 ab dem 1. Januar ist eine bittere Enttäuschung für die mehr als elf Millionen Beschäftigten in Deutschland, die im Niedriglohnbereich arbeiten. 41 Cent, also 3,4% mehr, ist so wenig, dass die Erhöhung nicht einmal die durchschnittlichen Preissteigerungen ausgleicht. Menschen mit geringen Einkommen haben eine individuell deutlich höhere Inflation als der Durchschnitt, da sie einen größeren Anteil ihres Einkommens für die Dinge ausgeben müssen, die sehr viel teurer geworden sind, allen voran Lebensmittel, die sich in den vergangenen 15 Monaten um weit mehr als 20% verteuert haben.
»Was bedeutet nun die beschlossene Anhebung um zwei Mal 41 Cent? Um das beurteilen zu können, wird in der folgenden Grafik die Entwicklung des nominalen und inflationsbereinigten realen Mindestlohns als Index (Oktober 2022 = 100) dargestellt. Dabei wird für das Jahr 2023 eine Inflationsrate von 6% sowie für die Jahre 2024 und 2025 von 3% und 2,5% unterstellt.
Vom Inkrafttreten des Mindestlohns von 12 Euro im Oktober 2022 bis Ende 2023 verzeichnet der reale inflationsbereinigte Mindestlohn einen Rückgang um rund 6%, die Anhebung um 41 Cent Anfang 2024 wird diesen Verlust allerdings nur vorübergehend reduzieren. Dasselbe gilt für die Anhebung Anfang 2025. Am Ende des Zeitraums liegt der Realwert des dann erreichten Mindestlohns von 12,82 Euro rund 5% niedriger als zu Beginn. Ein Verweis auf die in der Tat kräftige Anhebung des Mindestlohns im Oktober 2022 hilft nur begrenzt, denn damit wurden zumindest zum Teil lediglich die erheblichen Kaufkraftverluste seit Anfang 2021 ausgeglichen.«[2]
Für die Beschäftigten im Niedriglohnbereich führt diese Anpassung also dazu, dass sie einen deutlichen Verlust der Kaufkraft erleiden und ihren Lebensstandard reduzieren müssen. Die Konsequenz für viele Menschen ist, dass sie auf zusätzliche Leistungen, beispielsweise der Lebensmittel-Tafeln, angewiesen sein werden, oder sich überschulden müssen. Diese Krise ist unsozial, Menschen mit geringen Einkommen und Ersparnissen sind in der Inflation die größten Verlierer, während der Staat von der hohen Inflation durch einen Anstieg der Steuereinnahmen profitiert. Der Staat gibt allein in diesem Jahr 15 Mrd. Euro der zusätzlichen Steuereinnahmen durch ein Absenken der kalten Progression bei der Einkommensteuer an die Spitzenverdiener zurück.
Der Gesetzgeber hatte den Mindestlohn zum 1. Oktober 2022 auf 12 Euro angehoben, um ihn auf ein angemessenes Ausgangsniveau zu bringen. Legt man die Prognosen der Wirtschaftsweisen und der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute zugrunde, steigen die Preise 2023 um durchschnittlich 6,3% Prozent und 2024 um 2,7%. Selbst wenn man annimmt, dass die Inflation 2025 wieder den Zielwert der Zentralbank in Höhe von 2% erreicht, zeigt sich, dass der Mindestlohn deutlich mehr steigen müsste, wenn seine Kaufkraft erhalten bleiben soll.
Dabei sind Mindestlohnempfänger*innen noch stärker von der Inflation betroffen als andere: Sie müssen ohnehin jeden Euro zweimal umdrehen und geben einen Großteil ihres Einkommens für Nahrungsmittel, Energie und andere Güter aus, deren Preise besonders stark gestiegen sind.
Missachtung der europäischen Mindestlohnrichtlinie
Die Kommissionsvorsitzende und die Vertreter der Unternehmer missachten mit ihrer Entscheidung die europäische Mindestlohnrichtlinie, die ausdrücklich die »Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten« als eines von mehreren Kriterien für angemessene Mindestlöhne verbindlich festlegt. Die Mindestlohnrichtlinie muss bis Ende 2024 in nationales Recht umgesetzt werden und schreibt auch vor, dass die Höhe von Mindestlöhnen in Europa mindestens 60% des mittleren Einkommens (Median) von Vollzeitbeschäftigten erreichen soll. Eine Analyse von WSI und IMK für die Mindestlohnkommission hat aber ergeben, dass der Mindestlohn in Deutschland seit 2015 um die 48% des mittleren Lohnes variierte und erst durch die Anhebung auf 12 Euro auf gut 53% stieg. Um die angestrebten 60% zu erreichen, müsste der Mindestlohn ungefähr bei 13,50 Euro liegen.
Von 40.989.00 Beschäftigten in Deutschland verdienen nach Angaben des Statistischen Bundesamts 11.184.000 weniger als 13,50 Euro. Das sind 27%. Besonders betroffen sind der Einzelhandel und die Gastronomie. Das Statistische Bundesamt bezieht sich auf April 2022 und weist ergänzend darauf hin, dass in der Statistik »alle Beschäftigungsverhältnisse berücksichtigt werden. Dies bedeutet, dass auch Personen, die nicht nach dem Mindestlohn bezahlt werden müssen (wie beispielsweise Auszubildende, Praktikanten oder Personen unter 18 Jahren), in der Auswertung enthalten sind.« Mit dem jetzigen Beschluss erreicht der Mindestlohn in den kommenden Jahren aber noch nicht einmal 53% des Medians.
Der Mindestschutz ist nicht gewährleistet
Auch die gesetzliche Vorgabe, dass der Mindestlohn einen angemessenen »Mindestschutz« der Arbeitnehmer*innen gewährleisten soll, wurde in der Kommissionsentscheidung nicht berücksichtigt. Vollkommen aberwitzig ist zudem, dass Arbeitgeber und Kommissionsvorsitzende nicht den aktuellen Mindestlohn von 12 Euro als Basis für die nächste Erhöhung wählten. Stattdessen berechneten sie die Anpassung ausgehend von 10,45 Euro – dem Wert, den der Mindestlohn bis Oktober 2022 hatte. Das kommt einer Missachtung des Gesetzgebers gleich, der den Mindestlohn (noch vor dem sprunghaften Anstieg der Inflation) auf 12 Euro festgelegt hatte, um die Lohnuntergrenze armutsfest zu gestalten.
Reform der Mindestlohnkommission und Umsetzung EU-Mindestlohnrichtlinie
Die Ergebnisse der Mindestlohnkommission zeigen, dass hier dringender Reformbedarf besteht. Klargestellt werden sollte zumindest, dass von Respekt gegenüber allen Lohnabhängigen keine Rede sein kann. Die unzureichende Erhöhung des Mindestlohns ist ein klarer Rückschritt. Das Ziel einer Reduzierung des Niedriglohnsektors durch eine Orientierung an der Zielmarke von 60% des mittleren Lohnes muss weiterhin die Orientierungsmarke sein.
Wie schon in den vergangenen Jahren gilt auch diesmal: Nach der Anpassung des Mindestlohns ist vor der Anpassung. Ob neue Initiativen für eine Weiterentwicklung des Mindestlohngesetzes erfolgreich sein werden, dürfte entscheidend davon abhängen, ob es gelingt, entsprechenden gesellschaftlichen und politischen Druck aufzubauen. Das ist zur Überraschung vieler bei der Durchsetzung des 12-Euro-Mindestlohns schon einmal gelungen.
ver.di fordert die Bundesregierung auf, die EU-Mindestlohnrichtlinie konsequent in nationales Recht umzusetzen und den gesetzlichen Mindestlohn auf 14 Euro zu erhöhen. Bei der Schaffung des gesetzlichen Mindestlohns sei der Gedanke nachvollziehbar gewesen, die nachfolgenden Erhöhungsschritte auf Grundlage von Empfehlungen einer durch Vertreterinnen und Vertreter der Tarifpartner zusammengesetzten Kommission vorzunehmen.
»Dieses Prinzip funktioniert jedoch nur so lange, wie das Wirken aller Mitglieder der Mindestlohnkommission durch Verantwortungsbewusstsein und Empathie gekennzeichnet ist. Die jetzige Entscheidung der Kommission führt jedoch zu massiven Reallohnverlusten und stürzt unzählige Menschen in eine Krise. Wenn die Mindestlohnkommission so versagt, ist der Gesetzgeber gefordert«, so ver.di-Chef Werneke.
»Eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 14 Euro durch die Bundesregierung erfüllt die Mindestvorgaben der EU und ist für die Menschen, die nur nach dem gesetzlichen Mindestlohn bezahlt werden, bitter notwendig«, unterstrich Werneke die Forderung von ver.di.
Anmerkungen
[1] Reinhard Bispinck, Zwei Probleme mit dem Mindestlohn, Gegenblende 29.6.2023
[2] Ebd.