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376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

25. Juli 2019 Alban Werner: Über die Radikalisierungsschleife der AfD

Gespenster aus eingerissenen Wänden

Björn Höcke. Foto: Olaf Kosinsky/Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0 DE)

In der AfD ereignet sich gerade nicht zufällig ein heftiger Richtungsstreit. Darin geht es nicht etwa nur die (Um)Besetzung des Parteivorstandes oder um die Reizfigur Björn Höcke, sondern darum, ob die in dieser Partei mit- und gegeneinander wirkenden Kräfte unter den Bedingungen der bundesrepublikanischen Parteiendemokratie überhaupt regelbar sind.

»Nach dem Sturz von Bernd Lucke und Frauke Petry hatte sich die AfD jeweils aber schon so radikalisiert, dass rechts von ihr nur noch die Wand zu sein schien. Kann es sein, dass die ›Bürgerlichen‹ der AfD erst jetzt entgeistert sehen, dass da schon lange keine Wand mehr war, dass sie längst eingerissen wurde?« (Jasper von Altenbockum, »Höckes AfD«, in: FAZ, 11.7.2019, S. 1)

Alle Parteien – auch radikal rechte wie die AfD – stehen vor dem Problem, wie sie mit der Bandbreite an Positionen und Vorstellungen über richtige Ziele und Vorgehensweisen im eigenen Laden umgehen. Wie dieses »Umgehen« sich gestaltet, hat erstens viel mit der Biographie der fraglichen Partei zu tun, zweitens damit, wie sie in bestimmte Handlungsumfelder (Zivilgesellschaft, Parlamente, Verbände, internationale Verbündete) eingeflochten – oder gerade nicht eingeflochten – ist, und drittens damit, welche Bündel von Einstellungen, Erwartungen und Anforderungen aus der Gesamtgesellschaft – also dem Pool ihrer potenziellen Wähler*innen – an sie gestellt werden.

Zur Biographie vieler radikal rechter populistischer Parteien gehört, dass sie entweder aus der De-Radikalisierung einstmals extrem rechter oder gar faschistischer Formationen hervorgingen (wie beim Front National oder den Schwedendemokraten) oder andersherum aus der Radikalisierung einer Mainstream-Partei entstanden sind (wie im Falle der heutigen Republikanischen Partei der USA oder von Viktor Orbáns Fidesz). Die AfD nimmt hier eine eigentümliche Sonderposition ein. Sie gehört nicht zur erstgenannten Sorte von Parteien, die sich von ganz recht außen kommend um eine »Entdiabolisierung« ihrer Truppe bemühten.

Vielmehr wurde sie gegründet, um eine nach Empfinden ihrer oft professoralen Gründungsväter gewachsene Leerstelle neben Unionsparteien und FDP zu besetzen. Die restliche Geschichte ist bekannt: Durch ihre Häutungen hindurch spuckte die AfD ihre Gründer und Bernd Lucke ebenso wie Frauke Petry wieder aus. Bislang noch jede neue Führungsfigur der AfD musste zur Ablösung der Vorgänger*innen ein innerparteiliches Spektrum ansprechen und überzeugen, das noch weiter rechts als jenes stand, das der bisherigen Führung noch als annehmbar schien.

Eine Verwurzelung in der Zivilgesellschaft ist der AfD bislang nicht gelungen. Auch wenn es ihr in seltenen Fällen gelingt, den Bannstrahl zu durchbrechen, dem sie sich seitens anderer Parteien, Gewerkschaften und Verbände ausgesetzt sieht, steht sie doch weitgehend unter Quarantäne und wird nicht als satisfaktionsfähige Ansprech- und Diskussionspartnerin akzeptiert. Affinitäten aus ihrer Frühphase etwa seitens organisierter Familienunternehmen für die AfD schwanden bereits vor deren Spaltungsparteitag 2015. An ihre Stelle traten verschiedene radikal rechte Netzwerke, aus denen die AfD Mitglieder, Mitarbeiter*innen und Ideen rekrutieren.

Bei den Wähler*innen gibt es Anzeichen für eine Konsolidierung der AfD, jedenfalls haben sich halbwegs zuverlässige Hochburgen in den neuen Bundesländern sowie manchen Quartieren westdeutscher Städte ausgebildet, in denen die Partei ähnlich hohe Stimmenanteile einfahren kann wie etwa das Rassemblement National (der frühere Front National) in Frankreich oder die FPÖ in Österreich. Nimmt man das Verhältnis von Wähler*innenstimmen zu Mitgliedern als Maßstab, ist die AfD sogar mit einigem Abstand die erfolgreichste Partei Deutschlands, weil sie ihre Wahlergebnisse trotz eines – selbst für das Zeitalter des Endes der »Volksparteien« – auffällig niedrigen Organisationsgrades erzielt. In manchen ostdeutschen Kommunen konnte die AfD gar nicht so viele Mandate besetzen, wie ihr nach dem Wahlergebnis zugefallen wären, weil ihr dazu schlicht das Personal fehlte.

In dieser Hinsicht ist die AfD gewissermaßen ein Spiegelbild der DKP zu deren erfolgreichsten Zeiten: Während den westdeutschen Kommunist*innen eine bisweilen beachtliche Verankerung unter Betriebsräten und Gewerkschaften (die DIE LINKE bis heute noch nicht erreichen konnte) gelang, bekamen sie wahlpolitisch nie ein Bein auf den Boden. Hier reüssiert die AfD, ohne dass es ihr bislang gelungen wäre, eine ernstzunehmende Politikfähigkeit zu signalisieren: Weder hat sie gehaltvolle politische Vorschläge gemacht noch (u.a. aufgrund ihrer gesellschaftspolitischen Ausgrenzung, siehe oben) ein hinreichend starkes Bündnis zur Durchsetzung solcher Entwürfe versammeln können. Für ihre Wähler*innen scheint im Unterschied zu solchen »herkömmlichen« Anforderungen an Parteien entscheidend, unter Absehung vieler konkreter Themen, um die beim jeweiligen Wahlgang gestritten wird, mit einem Kreuz bei der AfD ein »gesellschaftspolitisches Richtungsvotum abzugeben« (Horst Kahrs).

In eine Stimme für die AfD werden (je nach Wähler*in in unterschiedlicher Stärke auftretend) jeweils Ressentiments und Vorurteile, rassistische Einstellungen, pauschale Ablehnung des Establishments und spezielle Unzufriedenheiten unterschiedlichster Bezüge und Schattierungen kanalisiert. Das positive Wirksamkeitsversprechen lautet, »endlich wieder jemand sein zu dürfen« oder endlich wieder etwas sagen zu dürfen, das man sich vorher nicht oder nur im Schutzraum eines Stammtischs oder sozialer Netzwerke zu äußern traute. Das negative Wirksamkeitsversprechen ist die Bestrafung und machtpolitische Zurechtweisung aller nicht (mehr) gewählten Parteien, denen man damit endlich gezeigt zu haben meint, von ihnen nicht mehr länger ignoriert werden zu können.

Äußere Triebkräfte der Radikalisierung in der AfD

Im Zusammenwirken mit den Rahmenbedingungen der deutschen Parteiendemokratie einerseits und dem Einstellungs- und Motivationsreservoir der Mitglieder andererseits führen turbulente Parteibiographie, mangelnde gesellschaftliche Verwurzelung und ressentimentgeladene Wähler*innenmotive nicht etwa zu einer Entdämonisierung der AfD wie beim früheren Front National, sondern im Gegenteil in eine Radikalisierungsschleife. Das Konzept wurde vor 40 Jahren von Friedhelm Neidhardt 1981 zur Analyse der Baader-Meinhof-Gruppe fruchtbar gemacht, es lässt sich allerdings mit einigen Änderungen ziemlich passgenau auf die AfD anwenden.

Gemeint ist damit ein Prozess, bei dem Rückkopplungen zwischen den Orientierungen und Handlungen einer nur lose institutionalisierten Gruppierung – und eine solche ist die AfD nach wie vor – sich wechselseitig hochschaukeln. »Jeder Schritt der einen Seite erfährt positives feed-back durch die andere. Es ereignen sich Reiz-Reaktions-Sequenzen, mit denen der Konflikt in sich verstärkende Turbulenzen trudelt«. Radikalisierend wirkt der Prozess, weil nach jeder dieser Sequenzen die Ziele der Partei grundsätzlicher gedacht und vorgetragen werden – eben im klassischen Wortsinne »an die Wurzel« der heutigen Verhältnisse gehend – und weil dabei zunehmend weniger Rücksichten auf innerparteiliche und gesamtgesellschaftliche Verhältnisse und Befindlichkeiten genommen werden. Die Radikalisierungsschleife wirkt sowohl extern (im Verhältnis der AfD zu ihren Handlungsumwelten) als auch intern (beim Verhalten der AfD-Mitglieder untereinander), und die Interaktion beider Ebenen wirkt nochmals verschärfend.

Aus verschiedenen Handlungsumwelten bezieht die AfD unterschiedliche Ressourcen, deren Zufluss wiederum zur Entstehung mehrerer unterschiedlicher innerparteilicher Machtzentren beitragen. Entsprechend munitionierte Machtzentren sind nicht ursächlich für die aktuell ausgebrochenen innerparteilichen Konflikte, verschärfen sie jedoch erheblich. Die Parteienforscher Richard S. Katz und Peter Mair unterscheiden zur Charakterisierung von Parteiorganisationen deren unterschiedliche »Gesichter«: die Partei in öffentlichen Ämtern (d.h. im Parlament und in Regierungen), die Aktivist*innen an der Parteibasis und schließlich Bundesvorstand und Parteizentrale. Regierungsämter hat die AfD bislang keine inne, außer dort, wo – wie in Berlin – aufgrund der Kommunalverfassung Ansprüche auf Anteile an der lokalen Entscheidungsgewalt unmittelbar durch das Wahlergebnis entstehen und man ihnen diese schlechterdings nicht vorenthalten kann, ohne die demokratische Etikette zu verletzen.

Im Wesentlichen aber erlangt die AfD bei öffentlichen Ämtern Ressourcen wie Einkommen, Mitarbeiterstäbe und Anteile der massenmedialen Aufmerksamkeit, derentwegen auch außerparlamentarisch entstandene Bewegungen sich um parlamentarische Vertretungen bemühen, wenn sie ihre Anliegen bei keiner bereits vorhandenen Partei aufgehoben sehen. Was das angeht, stellt die AfD in den neuen Bundesländern bislang den deutlich erfolgreicheren Teil der Partei. Ihr gelang nicht nur bereits vor der Flüchtlingskrise der Einzug in die Landesparlamente von Thüringen, Brandenburg und Sachsen, sondern dort gelingt ihr das Gleichziehen mit den etablierten Parteien oder gar die Überholung in den Umfragen. Bei den Aktivist*innen hingegen liegt die Ost-AfD (deren Leitfiguren, wie etwa Björn Höcke, oft genug aus den alten Bundesländern stammen) hinter dem Westen zurück: Ihre größeren wahlpolitischen Erfolge bilden sich nicht in entsprechendem Mitgliederzustrom ab. Dies bedeutet weniger Gewicht bei Delegiertenstimmen auf dem Bundesparteitag und folglich auch im Parteivorstand.

Die ungleich verteilten Ressourcen sind aber nicht ursächlich für das Feuer, sondern der Brandbeschleuniger. Entstanden ist das Feuer durch drei noch tiefer liegende Konfliktmerkmale, die Neidhardt als »strukturelle Bedingungen für die Wahrscheinlichkeit eskalierender Konfliktverläufe« bezeichnet. Die erste Brandursache liegt im auslösenden Konfliktmotiv. Hier unterscheidet Neidhardt leichter zu schlichtende Interessen- von eher zur Hochschaukelung neigenden Wertkonflikten. Aber noch besser als mit »Wertkonflikt« ist der Kampf, den die AfD dem »links-rot-grün versifften Deutschland« erklärt hat, als Wahrheitskonflikt beschrieben. Die polarisierende Kontroverse mit der AfD beginnt bereits mit der zulässigen Beschreibung der Realität – z.B.: Wie viele Muslime leben in Deutschland? Haben sie zur Agenda, hier friedlich zu leben, oder wollen sie zielgerichtet das Land islamisieren? War Angela Merkels Entscheidung, die Grenze 2015 nicht zu schließen, ein humanitärer Akt oder vielmehr Ausdruck eines Plans zur »Umvolkung«? Gibt es einen menschengemachten Klimawandel? usw.

Zum Wahrheitskonflikt gehört auch, dass nur bestimmten Stimmen zugestanden wird, die Wahrheit auszusprechen, während es sich bei denjenigen, die AfD, Sarrazin, Elsässer u.a. widersprechen, nur um »Lügenpresse«, »Systempresse«, Altparteien und »Volksverräter« handele. Das darin zum Ausdruck kommende Misstrauen ist ein fruchtbarer Boden für Verschwörungstheorien und verschiedene Spielarten »paranoider« Politikstile, die das politische Klima insgesamt aufheizend zur Eskalation treiben, denn wenn schon die Realitätswahrnehmung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft und vor allem den politischen Gegner*innen auseinanderdriftet, gilt dies auch für darauf aufbauende unterschiedliche Bewertungen –z.B.: Ist Integration wünschenswert oder nicht? Ist es richtig, dafür Geld und Personal zu stellen? Ist ein Umbau von Industrie und Verkehr zugunsten des Klimaschutzes im Interesse des Großteils der Bevölkerung? usw.

Friedhelm Neidhardt zufolge wirkt als zweite Brandursache die Abwesenheit dritter Parteien, »die sich vermittelnd, schlichtend und kontrollierend in den Konflikt einschalten. Konflikte geraten immer leicht außer Rand und Band, wenn sie zu Zwei-Parteien-Auseinandersetzungen werden. Eine Institutionalisierung von Augenmaß in der Konfliktgestaltung, Metakommunikation über Sinn und Folgen des Konfliktverlaufs, dabei Abwägung der relativen Rechte beider Seiten – dergleichen lässt sich wohl nur verlässlich sichern, wenn unbetroffene Dritte sich engagieren und sich notfalls auch gegen den Widerstand der Konfliktparteien einmischen«. Diese unbetroffenen Dritten fehlen der AfD jedoch aufgrund ihrer gesellschaftspolitischen Stigmatisierung. Die AfD muss sich keinen konkreteren, inhalts- und durchsetzungsbezogenen Bewährungsproben in der Politik stellen.

An sie werden nicht von respektablen Gruppen ausformulierte Anliegen herangetragen, deren Umsetzung gelingen oder scheitern kann. Vielmehr konkurriert die Partei um die Gunst entweder eines diffusen Publikums, das sich nur in Form von Meinungsumfragen oder Wahlergebnissen materialisiert und die Handlungen der Partei nicht kontrollieren kann, oder aber ihr tritt auf Marktplätzen oder in sozialen Medien eine Zuhörerschaft gleichmeinender Leute entgegen, von denen sie – wenn überhaupt – nur zur Beibehaltung oder Verschärfung ihrer Radikalität angehalten wird.

Die dritte Brandursache gemäß Neidhardts Ansatz gewinnt mit sich nähernden Landtagswahlen schnell an Prominenz, nämlich die »Unbestimmtheit der Situation im Hinblick auf Kampfstärken und Konfliktausgänge«. Zwar reüssiert die AfD vor allem im hochinstitutionalisierten wahlpolitischen Wettbewerb. Aber je größer ihr Erfolg, desto ungewisser werden die Verhältnisse. AfD-Erfolge erzwingen zuvor unbekannte, »bunte« Koalitionen und entfachen Konfliktpotenziale bei anderen Parteien, etwa wenn ausgerechnet in Sachsen, Brandenburg oder Thüringen Regierungskooperationen von CDU und Linkspartei (voraussichtlich mit weiteren Partnerinnen) zur einzigen Möglichkeit werden, die AfD von der Regierungsteilnahme fernzuhalten.

Unbestimmt ist hier einmal, wie stark das Reservoir an Übereinstimmung der dann Regierenden gegenüber dem ständigen Ansturm der AfD wäre. Unbestimmt ist auf der anderen Seite, wie beständig das AfD-Elektorat angesichts des Verfassungsschutzes als Trumpfkarte der etablierten Parteien bliebe. Denn – man beachte die Ironie – die (potenziellen) AfD-Wähler*innen, die sich bislang kaum durch interne Skandale, menschenfeindliche Äußerungen oder Kumpanei der AfD in Chemnitz mit dem offen gewaltbereiten extrem rechten Spektrum von der Wahl nicht abhalten ließen, reagieren ausgerechnet sensibel auf eine mögliche Beobachtung der AfD durch die Sicherheitsbehörde. »So hält schon die aktuelle Einschätzung der AfD als ›Prüffall‹ 15 Prozent der potentiellen Wähler davon ab, die Partei zu wählen. Bei einer tatsächlichen Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz würden sogar 27 Prozent aus diesem Grund nicht für die AfD stimmen. Besonders hoch, nämlich über 30 Prozent, liegt der Anteil bei jüngeren potentiellen Wählern«. Ob darin eine altbekannte deutsche Obrigkeitshörigkeit zur Geltung kommt, die innerhalb der Individuen über radikal rechte Einstellungen obsiegt, oder eine Inkohärenz und Inkonsequenz der Einstellungsbündel bei den Befragten, die »Rückholversuche« von anderen Parteien nahelegen, muss hier offen bleiben

Innere Triebkräfte in der Radikalisierung der AfD

Mindestens vier Merkmale der Befindlichkeiten von Mitgliedern sowie des innerparteilichen Umgangs treiben die interne Radikalisierung der AfD voran, wobei sie immer wieder mit den bereits genannten Merkmalen in verschärfende Wechselwirkung geraten. Erstens wird der dauerhafte Angriffsmodus gegenüber den »Altparteien« aufgeladen mit dem, was Neidhardt innerparteilich bestimmte »sekundäre Motive« genannt hat. »Der Prozess verzehrt seine ersten Gründe, bringt neue hervor und stabilisiert sich mit ihnen. Es entsteht die Eigendynamik des Konflikts; er treibt sich selber weiter«. Diese Eigendynamik, so der Bewegungsforscher weiter, entwickle sich »am ehesten in relativ geschlossenen sozialen Systemen«, gerade weil dort »externe Störungen des Prozesses ausbleiben, […] also keine neuen Themen, keine intervenierenden Motive und keine konterkarierenden Tendenzen sich einmischen und aufdrängen«.

Bedingt durch die bereits angesprochene Stigmatisierung der AfD und ausbleibende Irritationen in Form »seriöser« politischer Anliegen an ihre Adresse ist mit dem gerade Zitierten ihr Innenleben recht gut theoretisch beschrieben. Das aus der Eigendynamik sich herauskristallisierende Sekundärmotiv besteht bei der AfD darin, durch die fortwährende Tonverschärfung an die Adresse der »Altparteien« gegenüber dem parteiinternen und -nahen Publikum eine »Reinigung« des Letzteren von unzuverlässigen Zeitgenossen zum Vorteil der eigenen und verbündeten Strömungen zu betreiben. »Man will die Unzuverlässigen aussondern, die Unentschiedenen einbinden, dabei auch die inneren Widersprüche überdecken«.

Ob im Kern zutreffend oder nicht, propagieren die innerparteilichen Gegner des »Flügel«-Wortführers Björn Höcke eine Außendarstellung, nach der sie die Lücke einer nicht mehr existierenden, glaubhaft (rechts)konservativen Alfred-Dregger-CDU ausfüllen könnten. Diese Außendarstellung wird aber immer prekärer und weniger glaubwürdig, wenn Höcke und seine Gefolgschaft mit offen rassistischen und/oder geschichtsrevisionistischen Positionen direkt in die allgemeine Öffentlichkeit kommunizieren, wofür die gesamte AfD in Haftung genommen wird. Das Einstiegshemmnis für klassische rechtskonservative Kräfte, die zu radikalen Kräften einen Sicherheitsabstand halten wollen, wird damit immer weiter in die Höhe getrieben: Der ungestörte Prozess erzeugt seine eigene Fortsetzung, weil er Veränderungen in der Zusammensetzung von Partei und Umfeld blockiert.

Zweitens wird die interne Radikalisierung angetrieben durch breit, unübersichtlich und quer zu Strömungen verteilte Sympathien der Mitgliedschaft für radikal rechte Inhalte, für die Bereitschaft zur Propagierung menschenfeindlicher Propaganda sowie für ein Bündnis mit Kräften, deren extrem rechte Gesinnung nicht abzustreiten ist. Mit ihren eigenen Unvereinbarkeitslisten versuchte die AfD den Eindruck zu erwecken, es handele sich dabei um bedauernswerte Einzelfälle. »Der größte Widerspruch dürfte für die AfD in dem nicht enden wollenden Strom aus Skandalen ihrer Mitglieder liegen, die Tropfen für Tropfen die Behauptung erodieren, es handele sich um isolierte Einzelfälle. Irgendwann wird aus vielen Fällen ein System«. (FAZ)

Auch die vermeintlich »Bürgerlichen« in der AfD folgen verschwörungstheoretischen und paranoiden Deutungsangeboten und werben hiermit um ihre Wähler*innen. Schon zu Beginn der Partei war sich auch der Professorenflügel für eine »populistische« Ansprache der Wähler*innen (etwa auf den Wahlplakaten) nicht zu schade. Was die AfD-Mitglieder im Innersten eint, ist ihre ganz und ganz »unbürgerliche« Ungezähmtheit, mit der die politische Kultur des Merkel-Deutschlands bekämpft wird. Interessanterweise kritisieren weder der AfD-Parteivorstand noch der Mitte Juli veröffentlichte Appel gegen Björn Höcke nur mit einem Wort dessen nachweislich rassistische oder reaktionär geschichtspolitische Auslassungen, seinen politischen Hintergrund im neurechten Milieu um dessen Vordenker Götz Kubitschek oder seine Offenheit ins Spektrum der extremen Rechten. Vielmehr wird parteipolitisch-intern der Vorwürfe geäußert, Höcke habe »die innerparteiliche Solidarität verletzt«, sei »Wahlkämpfern und Mitgliedern in den Rücken gefallen« und nehme eine Sprecherrolle innerhalb der AfD ein, die ihm nicht zustehe: »Als Vorsitzender des Landesverbandes Thüringen ist Björn Höcke nicht demokratisch legitimiert, für die AfD als Gesamtpartei zu sprechen. Sofern er dies als ›Anführer‹ des ›Flügels‹ tut, leistet er dem um sich greifenden Verdacht Vorschub, dass es ihm in erster Linie um den ›Flügel‹ und nicht um die AfD geht. Wir fordern Björn Höcke auf, sich zukünftig auf den Aufgabenbereich zu konzentrieren, für den er legitimiert ist«.

Zum Antreiber innerer Radikalisierung der AfD wird drittens, dass die politische Subjektivität ihrer Mitgliedschaft das Gegenteil des »Parteisoldatentums« darstellt, wie es die SPD lange Zeit auszeichnete. Das Bündel an Einstellungen, Loyalitätsreserven und Disziplin in der SPD-Mitgliedschaft bewirkte vor allem in Regierungszeiten gegenüber der Parteiführung eine bis zur krassen Selbstverleugnung reichende Treue, die Widerspruch und Kritik nur als »Faust in der Tasche« zuließ oder als Eingeständnis im nichtöffentlichen Gespräch, bei der Verteidigung der Politik am Infostand habe man »Bauchschmerzen« aushalten müssen. Derlei ist für die AfD-Mitgliedschaft, erst recht für den radikaleren Teil ihrer Wählerinnen und Wähler, undenkbar. »Wer AfD wählt, wählt das Versprechen, von moralischen Zwängen der sogenannten politischen Korrektheit befreit zu sein. Das ist ihre vorpolitische Energie, erst danach entsteht daraus ein Weltbild. Gruppenbezogene Vorurteile sind in der AfD grundsätzlich erlaubt, solange es um Muslime, Asylbewerber, Linke, Berufspolitiker und Journalisten geht. […] Niemand sollte unterschätzen, welchen Rausch es bedeutet, seinen Ressentiments freien Lauf lassen zu dürfen«. Während sich der oft an die SPD gerichtete Vorwurf des »Verrats« immer auf Entscheidungen der Sozialdemokratie bezieht, die diese gegen ihr Programm getroffen habe, bestünde für Aktivist*innen der AfD der schlimmstmögliche Verrat darin, ihnen den lizenzfreien Resonanzraum für das durch und durch unbürgerliche Ausleben ihrer Ressentiments zu nehmen.

Viertens schließlich wird die AfD durch die Uneinigkeit der etablierten Parteien an denjenigen Punkten, an denen sie selbst intern tief gespalten ist, davor verschont, Farbe zu bekennen – mit möglicherweise explosiven Folgen. »Erst der Widerspruch erzeugt das individuelle Bedürfnis nach Ausdrücklichkeit und Konsistenz der Sinnsysteme«, so die fachlichere Ausdrucksweise bei Friedhelm Neidhardt für ein ähnlich gelagertes Problem. Das Spaltungspotenzial etwa der Rentenpolitik innerhalb der AfD ist enorm, so verschob sie kürzlich zum wiederholten Male die Debatte über ein Rentenkonzept. Hier stehen sich radikal neoliberale Entwürfe des Vorsitzenden Jörg Meuthen, der auf die Abschaffung der umlagefinanzierten gesetzlichen Rente zielt, und das von Björn Höcke vertretene Konzept der Wiederherstellung einer lebensstandardsichernden gesetzlichen Rente – seiner völkischen Ideologie entsprechend nur für »echte« Deutsche vorgesehen – unversöhnlich gegenüber. Solange das Thema Rente keine stärkere Aufmerksamkeit und Konfliktträchtigkeit in der Öffentlichkeit erreicht, die selbst die AfD zu einem öffentlichkeitswirksamen Bekenntnis in dieser Frage zwingt, kann sie beim Thema im Ungefähren bleiben und wird ihre politischen Energien weiterhin auf ihre Greatest Hits wie antimigrantische, antimuslimische Ressentiments oder Eliten-Schelte verausgaben, bei denen sie sich intern einig weiß. Unverbindlichkeit nach außen erlaubt Radikalisierung nach innen.

Ausblick: Wenig Aussicht auf Beruhigung

Wenig spricht dafür, dass in der nächsten Zeit die Radikalisierungsspirale der AfD angehalten, geschweige denn gedreht wird. Dazu müssten unübergehbare Veränderungen in den Interaktionen der AfD mit ihrem gesellschaftlichen und politischen Umfeld und in ihren inneren Verhältnissen zusammenwirken und den bislang wirkenden Prozess umkehren. Hingegen sprechen gleich mehrere Gründe dafür, dass die AfD den Weg der Radikalisierung weitergeht und dabei (nach der Abspaltung der Bernd Lucke-Flügels sowie dem Austritt von Frauke Petry und ihren Verbündeten) eine weitere »Häutung« erlebt, die sie gleichwohl wahrscheinlich übersteht.

Zunächst folgt innerparteilich aus der geringen Dichte von Strukturen und Verbindlichkeiten sowie den in ihrer Feindbestimmung zwar harten, in Bezug auf konkrete Politikziele aber oft diffusen Ideologien, dass sich die engagiertesten Aktivist*innen weiterhin vor allem um Führungsfiguren versammeln werden. Die an Heldenverehrung, Star-Status und Personenkult erinnernden Begrüßungsrituale für Björn Höcke bezeugen, wie diese Logik weiter (um sich) greift. Gerade weil er das Schreckgespenst nicht nur des als feindlich empfundenen gesellschaftlichen Mainstreams, sondern auch für den Vorstand der AfD ist, bietet die Identifizierung mit Höcke seinen Anhänger*innen in Ermangelung nachweislicher sachpolitischer Erfolge der AfD das Gefühl politischer Bedeutsamkeit und Wirkungsmächtigkeit.

Indem Höckes innerparteiliche Gegner*innen ihn zu isolieren trachten, verstärken sie eher noch diese symbolische Ressource – die auch seine wichtigste Machtquelle ist. Gegen ein Abklingen der Radikalisierungsschleife spricht auch, dass sich die Anhängerschaft von Björn Höcke keineswegs so deutlich auf die neuen Bundesländer konzentriert, wie es manche Presseberichterstattung nahelegt – oder das Vorstandspersonal der AfD es gerne glauben möchte. Bereits der Bundesparteitag nach der Bundestagswahl 2017 legte andere Verhältnisse nahe. »Der rechtsradikale Flügel konnte da jeweils rund vierzig Prozent der Delegierten für seine Kandidaten mobilisieren. Vierzig Prozent stimmten mit den gemäßigteren Nationalkonservativen, zwanzig Prozent waren nicht klar zuzuordnen«.(FAZ)

Dazu passt, dass dem derzeitigen Ko-Vorsitzenden Meuthen in seinem eigenen Kreisverband das Delegiertenmandat zum Parteitag verweigert wurde, weil seine Gegner hinreichend gut mobilisiert waren. Schließlich wird man davon ausgehend müssen, dass von den derzeitigen Mitgliedern der AfD diejenigen, die eher radikalisierungsbereit sind, weitgehend identisch sind mit denjenigen, die sich weniger leicht aussortieren lassen werden. Es handelt sich um diejenigen, die bereits durch ideologische und/oder solidarische Bande verknüpft sind, die weiter zurückgehen als die AfD, und die eine andauernde gesellschaftspolitische Ausgrenzung nicht fürchten, sowie um diejenigen, die keine eigenständige Opposition gegen die Radikalisierung leisten werden, weil ihnen die Partei dann als Karrierevehikel abhandenkäme. Scheint ein Sockel an Radikalität unwiderruflich erreicht, so wird selbst noch vorteilsbedachter Opportunismus zum Antreiber weiterer Radikalisierung.

Der Text basiert auf noch unveröffentlichten Arbeiten zum Dispositiv des Rechtspopulismus

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