6. März 2025 Redaktion Sozialismus.de: Schuldenbremse nun doch lockern?
Gigantische Schulden für Infrastruktur und vor allem Aufrüstung
Die Unionsparteien und die SPD haben sich auf eine radikale Abkehr von der bisherigen zögerlichen Finanzpolitik verständigt. Sie haben einen Durchbruch in den Sondierungsgesprächen für eine Regierungskoalition erzielt und ein Finanzpaket von historischem Ausmaß für Aufrüstung und Infrastruktur geschnürt.
Zum einen soll die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben gelockert, zum anderen ein Sondervermögen für die Instandsetzung der Infrastruktur mit 500 Mrd. Euro geschaffen werden. Der vermutlich künftige Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) begründet der Öffentlichkeit seinen abrupten Positionswechsel in Sachen Schuldenbremse[1] mit dem vom US-Präsidenten Donald Trump ausgelösten Rückzug aus den Unterstützungsleistungen für die Ukraine und dem Bruch der westlichen Allianz: »Angesichts der Bedrohungen unserer Freiheit und des Friedens auf unserem Kontinent muss jetzt auch für unsere Verteidigung gelten: Whatever it takes«.
Die von der Union bislang verkündete sparsame Haushaltsführung für die Berliner Republik ist wenige Tage nach der Bundestagswahl Makulatur. Deshalb sollen alle Verteidigungs- und Rüstungsausgaben von der Schuldenbremse ausgenommen werden, die über einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) liegen. Das wäre – gerechnet auf Grundlage des BIP von 2024 – alles über etwa 43 Mrd. Euro.
Das aber könne die Gesellschaft nur verkraften, wenn die Wirtschaft binnen kürzester Zeit wieder auf einen stabilen Wachstumskurs zurückgeführt werde, so Merz. Dafür müsse eben auch die Infrastruktur verbessert werden: »Die notwendigen Mittel dazu können nicht allein aus den laufenden Haushalten des Bundes, der Länder und der Gemeinden finanziert werden.« Das geplante kreditfinanzierte Sondervermögen für die Infrastruktur soll über zehn Jahre laufen und die Bundesländer wie die Gemeinden sollen davon 100 Mrd. Euro zugewiesen bekommen.
Beide Beschlüsse über eine gigantische Neuverschuldung sollen wegen der komplizierten Mehrheitsverhältnisse im neu gewählten Bundestag noch vom alten getroffen werden, was juristisch noch so lange möglich ist, bis das neue Parlament konstituiert ist. Aber auch im bisherigen Parlament haben Union und SPD nicht die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit für eine erforderliche Grundgesetzänderung. Sie benötigen dafür die Stimmen von den Grünen oder der FDP. Die Liberalen haben sich bisher stets massiv gegen eine Reform der Schuldenbremse gestemmt, daher dürften die Verhandler*innen vor allem auf die Grünen setzen.
Diese haben zurückhaltend auf das von Union und SPD vereinbarte Milliarden-Finanzpaket für Verteidigung und Infrastruktur reagiert. »Wir werden uns die Vorschläge nun in Ruhe anschauen«, erklärte Co-Fraktionschefin Britta Haßelmann. Die Grünen fordern seit vielen Jahren eine Reform der Schuldenbremse, um mehr Investitionen zu ermöglichen, die aber vor allem von der Union immer abgelehnt wurde.
»Wichtig ist uns eine langfristige Lösung grundsätzlicher Regeln der Schuldenbremse«, sagte Haßelmann. »Und dass neben dem Thema Sicherheit auch Investitionen in Infrastruktur, Wirtschaft und Klima nachhaltig angegangen werden.« Sie warf zugleich CDU-Chef Merz und auch CSU-Chef Markus Söder vor, die Grünen wären bislang nicht einbezogen worden: »Merz und Söder haben mit ihrem Auftritt keinen Funken Demut gezeigt […] Schließlich haben sie den Wählern wochenlang das Gegenteil von dem versprochen, was sie jetzt machen. Was Union und SPD der Öffentlichkeit auch vorenthalten haben: Für alles, was sie vorschlagen, brauchen sie Dritte im Parlament.«
Abgesehen von dem fragwürdigen Vorgehen zur Verabschiedung dieser Schuldenorgie gibt es noch einen weiteren Pferdefuß. Diese Finanzbeschlüsse sind die erste Einigung in den seit Ende vergangener Woche laufenden Sondierungsgesprächen von Union und SPD über eine Regierungsbildung. Es sollen weitere Entscheidungen zu den Themen Haushalt, Migration, Wettbewerbsfähigkeit, innere Sicherheit und Migration folgen.
Merz will die Beratungen »zeitnah abzuschließen«, die Vize-Chefin der SPD, Saskia Esken, kassiert parallel zum politischen Wortbruch der Union zugleich die Festlegung der SPD: Sondierungsgespräche würden keinen Automatismus für eine künftige Koalition bedeuten.
Faktisch ist damit eine selbstkritische Aufarbeitung des Debakels der katastrophalen Niederlage der SPD bei den Bundestagswahlen vertagt. Ganz in diesem Sinne feiert der für Aufrüstung zuständige SPD-Minister Boris Pistorius die Einigung über ein gigantisches Finanzpaket zwischen Union und SPD als wegweisend zur Stärkung der Sicherheit des Landes: »Das ist ein historischer Tag, für die Bundeswehr und für Deutschland […] Wir senden ein starkes Signal an die Menschen in unserem Land und an unsere Bündnispartner.« Der angestrebte Beschluss des Bundestags ermögliche, dass Deutschland mit anderen eine führende Rolle dabei übernehmen könne, die NATO in Europa zu stärken.
Geschockt von den weltpolitischen Entwicklungen der vergangenen Tage haben sich also die Union von CDU und CSU sowie die Sozialdemokraten auf ein schuldenfinanziertes Verteidigungs- und Infrastrukturpaket geeinigt, das einer radikalen Kehrtwende in der deutschen Finanzpolitik gleichkommt. Die Schuldenbremse, die bis heute enge Grenzen für die Neuverschuldung vorgibt und nur eine moderate Verschuldung ermöglicht, wird de facto weitgehend bedeutungslos.
Ausgerechnet bei der Aufrüstung bleibt die Einigung von SPD und Union unbestimmt: Wie hoch die Verteidigungsausgaben künftig sein werden, ist vorerst offen. Unbestimmt ist auch die Laufzeit für die Regelung, alles über 1% vom BIP solle über Kredite finanziert werden. Klar ist nur, dass ein erheblicher Teil zukünftiger Rüstungsausgaben auf Dauer über Schulden finanziert werden soll. Auch hier haben Rüstungslobbyisten wieder »Überzeugungsarbeit« geleistet: Letztlich geht es den Militärs darum, eine langfristige Finanzierung sicherzustellen, die deutlich über das bisherige hinausgeht.
In ihrer Vereinbarung haben Union und SPD eine Lösung gewählt, die im Grunde alles an Ausgaben zulässt, die eine neue Koalition zur Stärkung der Bundeswehr als notwendig erachtet. Mit der Berücksichtigung von nur 1% der Rüstungsausgaben am BIP im Rahmen der Schuldenregel ist der Militärhimmel nach oben offen. Die Bundesregierung kann zwei, drei, vier Prozent oder noch mehr für neue Waffen, Aufklärung, digitale Abschirmung und militärisches Personal ausgeben.
In der aktuellen Diskussion sind 3,5% des BIP für Rüstung, was auf fast eine Verdopplung des aktuellen Verteidigungsetats hinausliefe. Und damit kämen 2,5% an Schulden hinzu, das sind 112,5 Mrd. Euro. Kurzum: Die Finanzleute müssten also Grenzen der Verschuldung festsetzen und eine Laufzeit bestimmen für diese letztlich unsinnige Regelung.
Der zweite ordnungspolitische Sündenfall für eine rationale Haushaltspolitik ist der Infrastrukturfonds. Natürlich sind Schienen, Brücken und Schulen nach Jahrzehnten der Vernachlässigung verlottert. Doch das hat nichts mit Trumps Aufkündigung der westlichen Allianz zu tun, sondern deren Instandsetzung oder Neubau ist heute dringender denn je. Vor allem aber muss diese gesellschaftliche Schieflage für einen längeren Zeitraum korrigiert und letztlich aus dem regulären Haushalt finanziert werden. Dieser müsste höhere Einnahmen erhalten etwa durch eine Erhöhung der oberen Einkommensbesteuerung, Erbschafts- und Vermögenssteuern.
Kurzfristig wird diese beabsichtigte neue Schuldenregelung dem Staatshaushalt und damit den Steuerzahler*innen deutlich höhere Zinskosten bescheren. Wer so viel zusätzliches Geld in die Wirtschaft pumpt, riskiert zudem Inflation, weil die nötigen Kapazitäten z.B. in der Bauwirtschaft vorerst gar nicht vorhanden sind und deshalb zunächst vor allem die Preise steigen werden. Übrigens auch nicht an Rüstungsfabriken und an Handwerker*innen gibt, um das was geplant ist, zügig zu bewältigen.
Die entstehenden Probleme kann man durch eine Überschlagsrechnung verdeutlichen: 2024 umfasste der Verteidigungsetat im Haushalt 52 Mrd. Euro. Zusammen mit den Ausgaben aus dem ersten, 2022 geschaffenen Sondervermögen meldete Deutschland Gesamtausgaben von rund 91 Mrd. Euro an die NATO und erfüllt so die Vorgabe, 2% der Wirtschaftsleistung in die Verteidigung zu investieren.
Das Sondervermögen von 100 Mrd. Euro ist jedoch 2027 aufgebraucht, und auf dem diesjährigen NATO-Gipfel könnte eine Zielvorgabe »nördlich von 3%« beschlossen werden, wie Generalsekretär Mark Rutte angekündigt hat. Sollte die Zielvorgabe auf 3,5% steigen, würde dies für Deutschland grob überschlagen jährliche Verteidigungsausgaben von 150 Mrd. Euro bedeuten – rund 100 Mrd. Euro mehr als bislang.
Derzeit ist der Bund je nach Abgrenzung mit 1,7 Bio. Euro (Bundesfinanzministerium) oder 1,86 Bio. Euro (Bundesbank) verschuldet. Die neuen Sondertöpfe könnten den Stand also um etwa die Hälfte erhöhen, wenn sie vollständig in Anspruch genommen werden. Die alte Bundesregierung hatte in ihrem Haushaltsentwurf 2025 einen durchschnittlichen Zinssatz von 2,53% unterstellt.
Bisher hat sich Deutschland wegen seiner hohen Bonität besonders günstig verschulden können (Frankreich und Italien sind höher verschuldet, müssen derzeit mit rund 3,2% bzw. 3,5% kalkulieren). Das hat sich schon spürbar geändert. Die Zinskosten für die Bundesschuld haben sich von ihrem Tiefstand 2021 mit rund vier Mrd. Euro binnen zwei Jahren fast verzehnfacht. 2023 waren es 37,7 Mrd. Euro. Dieses Jahr werden die Zinsausgaben des Bundes auf zwischen 33 und 34 Mrd. Euro geschätzt.
Nach der Statistik des Bundesfinanzministeriums sind mehr als eine Bio. Euro der Schulden langfristig finanziert – mit Papieren, die erst nach zehn, 15 oder gar 30 Jahren fällig werden. Aber ein Teil davon ist regelmäßig zu refinanzieren. Seit 2020 hat der Bund brutto rund 400 Mrd. Euro im Jahr am Finanzmarkt aufnehmen müssen. Jedes Zehntel mehr Zins wird da schnell teuer.
Die »übliche« Kreditaufnahme im Rahmen der Schuldenbremse plus die diskutierten beiden Sondertöpfe könnten die Altlast des Bundes um etwa eine Bio. Euro erhöhen. Für 2,7 Bio. Euro müsste der Bund beim aktuellen Finanzierungssatz knapp 68 Mrd. Euro Zinsen im Jahr bezahlen, legt man die Zinshöhen für Frankreich oder Italien zugrunde, würde man sich der 100-Milliarden-Euro-Marke nähern.
Ein Teil der Koalitionäre setzt bei der Neuverschuldung auf eine deutliche Verbesserung des Produktionspotenzials, um den negativen Aspekten zu entgehen. Ob unter dem Strich Impulse auf die Produktivität durch diese Neuverschuldung herauskommen, ist von vielen Faktoren abhängig. Wenn Rüstungsausgaben in Forschung und Entwicklung fließen und mit dem Geld neue Infrastruktur finanziert wird, kann das Produktionspotenzial steigen. Aber in der Infrastruktur kann Geld auch versenkt werden. Insgesamt bleibt in dieser politischen Debatte offen, wie und in welchem Umfang das Produktionspotenzial jenseits der Aufrüstung verbessert werden sollte.
Die Linkspartei steht dem Projekt Neuverschuldung zurecht weit kritischer gegenüber als die Grünen. Sie schließt eine Zustimmung zum geplanten Finanzpaket von Union und SPD nicht aus – knüpft diese aber an Bedingungen. Es komme »auf zwei Dinge an«, sagte Linken-Chef Jan van Aken. Zum einen gehe es darum, »was da vorgelegt wird, was genau ist der Text« und es müssten Laufzeiten und die Höchstbeträge geregelt sein.
Zum anderen sei wichtig, ob über die Vorhaben »als Paket oder einzeln abgestimmt« werden solle. Die Linke sei »natürlich für ein solches Investitionspaket« zur Verbesserung der gesellschaftlichen Infrastruktur. Die Partei sei »aber gegen die unfassbar hohe Aufrüstung«. Der Linken-Chef kritisierte das »schräge Paket« von Union und SPD. »Eigentlich wäre es richtig gewesen, die Schuldenbremse ganz aufzuheben«. Dass dies nicht so gekommen sei, liege an der CDU, »aber gut, dass sie überhaupt anfangen, über die Schuldenbremse nachzudenken«.
[1] Merz und die anderen hochrangigen Unionspolitiker hatten im Wahlkampf mehrfach erklärt, dass Deutschland kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem habe, dass also gespart werden müsse. Davon war beim Auftritt der Sondierer*innen plötzlich keine Rede mehr. Wobei CDU-Chef Merz festhielt: Man werde nun, abseits der vereinbarten Investitionsprogramme, mit der SPD weiter über die Begrenzung der irregulären Migration, die innere Sicherheit und das Bürgergeld sprechen. Das gibt einen Hinweis darauf, an was die Union ran will – an die Ausgaben für Soziales, die einen großen Teil des regulären Haushalts ausmachen. Die SPD will bislang Kürzungen in diesem Bereich verhindern.