28. Juni 2022 Björn Radke: Schwarz-Grün in Schleswig-Holstein unter Finanzierungsvorbehalt
Große Projekte – klamme Finanzen
Knapp sechs Wochen nach der Landtagswahl in Schleswig-Holstein präsentierten am 22. Juni CDU und Bündnis 90/DIE GRÜNEN ihren Koalitionsvertrag. Auf Parteitagen haben die Delegierten beider Parteien am gestrigen Abend in Neumünster die Koalitionsvereinbarung mit deutlichen Mehrheiten gebilligt, die CDU hat zudem ihre künftigen Landesminister*innen bekanntgegeben, die Grünen hatten diese bereits zuvor benannt.
Mit einem erdrutschartigen Vorsprung von über 20 Prozentpunkten vor den anderen Parteien realisierte die CDU mit 43,4% ein Ergebnis, das eine Zweier-Koalition wieder möglich machte. Auch die Grünen haben um 5,4% auf 18,3% zugelegt und damit ihr bestes Ergebnis im Land erzielt, vor allem wegen der Energiepolitik.
Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) hatte als Basis des Projektes die Veränderung der politischen Kultur hervorgehoben. Schleswig-Holstein sei ein Land, das eine harte politische Tradition gehabt habe. Man sei dort lange Zeit nicht »Mitbewerber, sondern Gegner und Feind« gewesen. »Dass das überwunden wurde, liegt auch daran, dass konservative und moderne Kräfte gut zusammengearbeitet haben.« Er glaube, »Daniel Günther ist schlau genug zu sehen, wenn zwei Parteien die Wahl gewinnen, was daraus dann zu folgen hat«. Mit diesen Argumenten warb Habeck im Mai für eine schwarz-grüne Landesregierung (siehe hierzu Björn Radke, Politischer Erdrutsch in Kiel, in: Sozialismus.deAktuell vom 9. Mai 2022).
Auch der alte und neue (seine Wahl ist für Mittwoch vorgesehen) Ministerpräsident Daniel Günther (CDU), betonte: Das Fundament sei bereits in den vergangenen Jahren gelegt worden. Man sei »bereit, dafür neue Wege zu gehen«. Denn es mussten unterschiedliche Positionen verbunden werden, u.a. beim Klimaschutz und der inneren Sicherheit.
Was nach Wochen der betont vertraulichen Verhandlungen vereinbart wurde, klingt bei Günther so: »Wir wollen Schleswig-Holstein bis 2040 zum ersten klimaneutralen Industrieland machen. Unseren Standortvorteil als Energiewendeland Nummer eins werden wir ausbauen, noch mehr klimafreundliche Unternehmen ansiedeln und so neuen Wohlstand schaffen und klimafreundliche und zukunftsfeste Arbeitsplätze schaffen. Uns eint die Entschlossenheit, unsere ambitionierten Klimaziele gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern und unseren Unternehmen zu erreichen und der Wille, dafür bei Planungs- und Genehmigungsverfahren deutlich schneller zu werden.«
Das sind kühne Ansprüche, deren Umsetzung ohne die entsprechende finanzielle Ausstattung nicht möglich sein wird. Angesichts der gesellschaftlichen Unsicherheiten wie Inflation, Folgen des Angriffskrieges und der Pandemie herrscht bei den Finanzmittel allerdings Flaute: So heißt es im Koalitionsvertrag: »Um unser Ziel, erstes klimaneutrales Industrieland zu werden, auch im Haushalt systematisch darzustellen, werden wir dem Finanzausschuss vorschlagen, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die jeden Haushaltstitel dahingehend untersucht, ob dieser klimarelevant ist […] Alle Vorhaben stehen unter Finanzierungsvorbehalt. Dabei müssen Folgekosten für die Finanzplanung berücksichtigt werden.«
Die Koalition bekennt sich weiterhin zur im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse. Haushaltsüberschüsse sollen auch künftig dem Landes-Sondervermögen Impuls zugeführt werden »zum Erreichen unseres Ziels, das erste klimaneutrale Industrieland zu werden, zur Tilgung von Schulden und zur Aufstockung des Versorgungsfonds«. Investitionsausgaben wolle man »dauerhaft auf hohem Niveau« verstetigen. »Außerdem werden wir eine Klimaquote ermitteln, die möglichst zielgenau eine transparente Angabe dazu macht, wie hoch der Anteil von Klimaschutzausgaben am Gesamthaushalt ist«, heißt es.
Darauf hatte insbesondere die grüne Finanzministerin Monika Heinold Wert gelegt. »Investitions- und Klimaschutzausgaben werden wir im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten ambitioniert erhöhen.« Gleichzeitig wird auf Umschichtungen gesetzt. So sollen die bisher für das LNG-Terminal Brunsbüttel eingeplanten 50 Mio. Euro, die nun vom Bund übernommen werden, für Programme genutzt werden, die den »Ausbau der Erneuerbaren Energien nachhaltig voranbringen und Bürger*innen beim Klimaschutz unterstützen.«
Schleswig-Holstein soll nach dem Willen der beiden Parteien bis 2040 klimaneutral sein und dabei von den ökonomischen Potenzialen der Ansiedlung neuer Industriezweige im Bereich erneuerbarer Energien profitieren. Sie wollen dafür u.a. auch weitere Flächen für Windkraftanlagen an Land bereitstellen und dort insgesamt zumindest perspektivisch Anlagen mit einer Leistung von 15 Gigawatt installieren. Die oft langwierigen Genehmigungsverfahren sollen »deutlich« beschleunigt werden, um eine Transformation zum selbsternannten »Energiewendeland Nummer eins« zu unterstützen. Dafür sind zahlreiche weitere Maßnahmen geplant.
So soll in Schleswig-Holstein ab 2025 eine Solardachpflicht für Neubauten gelten. Kommunen und Bürger*innen werden mit Landesprogrammen beim Klimaschutz unterstützt. Dieser wird auch als Ziel in der Landesverfassung verankert. Einig sind sich beide, »dass in der Klimaneutralität eine große Chance für den Wohlstand, die Versorgungssicherheit, die Wertschöpfung und Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes liegt«. Die konkreten Maßnahmen sollen in einem Klimaschutzprogramm zusammengefasst werden.
Zur Entspannung auf dem Wohnungsmarkt will das Land mit Unterstützung des Bundes nach dem Willen von CDU und Grünen jährlich 15.000 Wohnungen schaffen, wobei insbesondere auch der soziale Wohnungsbau gefördert werden soll. Die Parteien wollen u.a. ein Wohnraumschutzgesetz einführen, das es Kommunen etwa ermöglicht, gegen Verwahrlosung von Mietshäusern vorzugehen. Geplant ist darüber hinaus die Wiedereinführung einer Verordnung über sogenannte Kappungsgrenzen, wodurch Preisanstiege bei Bestandsmieten gedeckelt werden können. Zudem soll eine Landesentwicklungsgesellschaft entstehen, die die Gründung neuer Baugenossenschaften und kommunaler Wohnungsbaugesellschaften beratend und finanziell unterstützen soll.
Planungsverfahren bei Infrastrukturprojekten wollen CDU und Grüne beschleunigen, und zwar durch eine »konstruktive Begleitung der Genehmigungsbehörden«, eine engere Verzahnung der einzelnen Genehmigungsschritte und einen frühen Austausch aller, die an Planungen beteiligt sind. Die Änderungen am Landeswassergesetz, mit denen der Bau eines LNG-Terminals beschleunigt werden soll, sollen darauf überprüft werden, ob sie auch auf andere Projekte übertragen werden können.
Im Bereich Landwirtschaft ist ein Schwerpunktthema die »Planungssicherheit« für Bauern. Bundes- und EU-Standards wolle man »nicht weiter verschärfen und somit Wettbewerbsnachteile für unsere heimische Landwirtschaft verhindern«. Gute landwirtschaftliche Flächen sollen »vorrangig der landwirtschaftlichen Nutzung zur Verfügung stehen«, heißt es im Vertrag. Man bekenne sich klar zur heimischen Landwirtschaft, ob konventionell oder ökologisch. Gleichwohl nennen CDU und Grüne das Ziel, »den Anteil an ökologisch wirtschaftenden Betrieben zu verdoppeln«. Es ist von »Entbürokratisierung und Digitalisierung« die Rede, von Klimaeffizienz und »Green Deal und Farm-to-Fork-Strategy«.
Das Ressort Wirtschaft, in dem die FDP die Mobilitätswende gebremst hatte, geht an die CDU und wird vom bislang parteilosen dänischen Staatsbürger Claus Ruhe Madsen übernommen, der zuvor Oberbürgermeister von Rostock war. Fünf der künftig acht (statt bisher sieben) Ministerien besetzt die CDU – auch Bildung (Karin Prien), Landwirtschaft und Justiz inklusive Gesundheit. Den Grünen bleiben drei Posten: Tobias Goldschmidt soll Klimaschutzminister werden, Monika Heinold wie bisher Finanzministerin bleiben, Aminata Touré Sozialministerin werden.
Dem Koalitionsvertrag haben beide Parteien mit großer Mehrheit zugestimmt. Bei den Grünen betonte Monika Heinold nach der Abstimmung: »In turbulenten Zeiten will unsere Partei weiter politische Verantwortung für Schleswig-Holstein tragen. Das ist die zentrale Botschaft des heutigen Abends.« Die künftige Sozialministerin Aminata Touré sagte aber auch, sie wolle nicht schönreden, dass etwa das Umwelt- und das Landwirtschaftsministerium wieder getrennt werden oder dass ein Bekenntnis zur A20 im Koalitionsvertrag steht. Aber die zentrale Frage sei, was dem gegenüber stehe.
Und das seien fünf Jahre, in denen die Grünen mitgestalten dürften, zumal das Ergebnis der Landtagswahl vom 8. Mai als Alternative eine schwarz-gelbe Koalition bedeutet hätte und damit Stillstand bei Klimaschutz und Sozialpolitik. Vertreter*innen der grünen Jugend mahnten, die beschlossenen Maßnahmen reichten nicht aus, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Bereits einige Stunden vorher votierte die CDU nahezu einstimmig für den Koalitionsvertrag.
Kritik der Opposition
Die SPD vermisst vor allem eine stärkere soziale Komponente im Koalitionsvertrag. »Das Soziale hat in der neuen Landesregierung keine Priorität«, erklärte die Landesvorsitzende Serpil Midyatli und ergänzt: »Weder die von den Grünen im Wahlkampf versprochene Mietpreisbremse noch das Tariftreuegesetz kommen.« Auch die Aufteilung der Ressorts findet Midyatli nicht gut. Dahinter stecke eher koalitionäre Machtlogik als fachliches Ermessen. Die SPD-Politikerin kritisierte die Trennung von Landwirtschaft und Umwelt. Und dass Gesundheit jetzt bei der Justiz angesiedelt werden soll, sei »gänzlich absurd«.
Ein Aufbruch sehe anders aus, meinte FDP-Fraktionschef Christopher Vogt. Dieser »grünen GroKo« wohne kein Zauber inne. Laut Vogt sei vieles vage und ambitionslos. Und genau wie auch die SPD kann die FDP nicht verstehen, warum das Gesundheitsressort nun zum Justizministerium gehört. Ein weiterer Kritikpunkt von Vogt: Beim Bauen und Wohnen gebe es mehr Bürokratie.
Der Bauernverband teilte mit, dass er mit den meisten Aussagen zu den Themen Landwirtschaft und Umwelt gut leben könne, zumal die CDU ihren bisherigen Verbandspräsident Werner Schwarz als Landwirtschaftsminister benannt hat. Werner Schwarz stand als Bauernpräsident für einen konstruktiven Austausch zwischen Agrar- und Umweltverbänden. Eine wesentliche Rolle hat er in der Zukunftskommission Landwirtschaft gespielt, der es im vergangenen Jahr gelang, einen Konsens zur Weiterentwicklung der Agrarpolitik in Deutschland zwischen Landwirtschafts- und Naturschutzverbänden sowie Beteiligten aus Wissenschaft und weiterer Wirtschaft zu erarbeiten.
Die Grünen bedauerten beim Landesparteitag in Neumünster am 27. Juni die Trennung von Landwirtschafts- und Umweltministerium. Vorab hatte auch der Landesbauernverband kritisiert, dass im Koalitionsvertrag eine Trennung von Landwirtschafts- und Umweltministerium vorgesehen sei. Hier gebe es viele Berührungspunkte zwischen Landwirtschaft und Naturschutz, beide Themen in einem Haus zu entscheiden habe sich bewährt. Mit der Personalie Werner Schwarz hat die CDU weitgehend eine Fortführung der Arbeit der bisherigen Landesregierung signalisiert.
Die Diakonie Schleswig-Holstein hat sich positiv zum Koalitionsvertrag geäußert. Die Ankündigung, 15.000 neue Wohnungen pro Jahr schaffen zu wollen, sei ambitioniert, aber notwendig. »Hier fordern wir, dass bei der Planung und Vergabe noch stärker benachteiligte Menschen berücksichtigt werden, zum Beispiel Menschen mit Behinderung, Wohnungslose und Alleinerziehende«, sagte Landespastor und Diakonie-Vorstand Heiko Naß. Die Diakonie begrüßte außerdem die Pläne, zusätzliche Fachkräfte in den Erziehendenberufen zu gewinnen. Nachgesteuert werden müsse hier bei der Kinder- und Jugendhilfe.
Kritik von Umweltschützern
Der Naturschutzverband NABU zeigt sich tief enttäuscht vom Koalitionsvertrag: »Die ministerielle Trennung von Landwirtschaft und Umwelt ist rückwärtsgewandt und stürzt das Land im Naturschutz weiter in die Krise«, hieß es. Die Folge sei ein drastischer Rückschritt für die Umsetzung von Naturschutzzielen und für eine fortschrittliche Agrarpolitik. Nun müsse Ministerpräsident Günther zumindest einen fortschrittszugewandten und naturschutzoffenen Ressortchef benennen. Von einem naturverträglichen Ausbau der erneuerbaren Energien sei im Koalitionsvertrag fast nichts zu erkennen. Der NABU rügte mit harscher Kritik an den Grünen auch die Aussagen zum Weiterbau der A20 auf der geplanten Trasse.
Auch »Fridays For Future« kritisiert: »Die festgelegten Ziele – wie Klimaneutralität erst im Jahr 2040 – sind bei weitem nicht ausreichend, um unseren Beitrag zur Einhaltung der 1,5 Grad-Grenze zu leisten«, sagte Gunde Kaiser von FFF Kiel. »Doch selbst für diese unzureichenden Ziele reichen die im Koalitionsvertrag verankerten Maßnahmen nicht.« Die Solardachpflicht im Bestand und die Bereitstellung von 3% der Landesfläche für Windkraft seien zwei entscheidende Maßnahmen für die notwendige Energiewende. Beides sei im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen, bedauerte die Organisation.
Zweifel an der Realisierbarkeit
Die Tinte unter dem Koalitionsvertrag ist noch nicht trocken, da verstärken sich die Zweifel an dem Realitätsbezug, denn die wirtschaftliche Entwicklung ist so unsicher wie nie zuvor. »Im Moment ist die Entwicklung eigentlich kaum vorherzusehen«, meint ein Wirtschaftswissenschaftler von Institut für Weltwirtschaft(IfW). »Es gibt einfach zu viele Unsicherheiten.«
Da ist zum einen die ausklingende Pandemie. »Es gibt viel Nachholbedarf. Die Leute wollen wieder Geld ausgeben, in Urlaub fahren. Das kommt auch Schleswig-Holstein zugute.« Dann aber sorgt der Krieg in der Ukraine und der Konflikt mit Russland für massiv steigende Energiepreise. »Das facht die Inflation an und bremst die wirtschaftliche Entwicklung«, so Boysen-Hogrefe vom IfW.
Um die Inflation in den Griff zu bekommen hat die Europäische Zentralbank angekündigt, die Leitzinsen zu erhöhen, zunächst um 0,25%, aber Boysen-Hogrefe rechnet noch mit weiteren Zinsschritten. »Die Rechnung ist einfach: Schleswig-Holstein hat mehr als 30 Milliarden Euro Schulden. Eine Zinserhöhung um ein Prozent würde für das Land 300 Millionen Euro bedeuten.« Zwar hat das Land die Niedrigzinsphase genutzt, um einen Teil der Schulden über langfristige Kredite aufzunehmen, aber der Effekt wird sich bemerkbar machen. »Die aktuelle Zinspolitik trifft vor allem hoch verschuldete Länder. Und das ist Schleswig-Holstein.« Der Handlungsspielraum der Politik werde so noch kleiner.
Und noch etwas macht es der neuen Landesregierung sehr schwer, zu wirtschaften. Die drohende Stagflation – eine explosive Mischung aus einer ausgebremsten, stagnierenden Wirtschaft bei anhaltend hoher Inflation. Noch nie, sagt Jens Boysen Hogrefe, habe es derart viele Unsicherheitsfaktoren für die wirtschaftliche Entwicklung gegeben. »Deswegen bleibt der neuen Landesregierung nichts weiter übrig, als viele ihrer Pläne unter Finanzierungsvorbehalt zu stellen.«
Es könnten harte fünf Jahre für das »modern-konservative/progressive Bündnis« werden.