29. Juni 2020 Bernhard Sander: Verschiebung der Kräfteverhältnisse bei den Kommunalwahlen in Frankreich
Grüner Aufbruch in Frankreich?
Das Management der Corona-Krise in Frankreich wurde nicht zur Stunde der Regierung und zum Rückenwind für Emmanuel Macron. Zu Beginn der akuten Virus-Krise schnellte das Vertrauen zum Staatspräsidenten von 38% auf rekordverdächtige 51%, sackte dann in den folgenden drei Monaten aber auf 44% ab.
Bei den Altersgruppen jenseits der 35 Jahre lag die Zustimmung sogar noch deutlich tiefer, während sein Höhenflug bei den Menschen unter 35 Jahren sich bis auf 57% fortsetzte. Sein Premierminister Édouard Philippe, dessen Kabinett die Krise zu managen hat, konnte mit den Monaten seinen Chef sogar überflügeln – vor allem bei sozialdemokratisch gesonnenen Menschen. Auch nach der Stichwahl, die für Macrons Bewegung verheerend endete, wünscht sich die Mehrheit ein Verbleiben des Premiers im Amt.
Obwohl Macron einstweilen die beschlossene Rentenreform aussetzte und 500 Mrd. Euro zur Abfederung des virus-verstärkten Konjunktureinbruchs mobilisierte, konnte seine Bewegung »Republik auf dem Weg« (LREM) in den Stichwahlen keine Geländegewinne erzielen, da sie als zentralistische Kopfgeburt nur dort über geringe Verankerung verfügt, wo sich lokale Potentaten aus der ehemaligen Sozialdemokratie oder bürgerlichen UMP (heute: Die Republikaner, LR) im Präsidentschaftswahlkampf 2017 hinter Macron eingereiht hatten. Die tragende Idee seiner Amtszeit scheint für Rechte wie Linke verloren zu sein und die alte Lagerbildung belebt sich neu.
Zur Linken zählen in traditioneller französischer Lesart immer auch die Grünen. Sie sind die Sieger der Stichwahl. Lyon, Besançon, Poitiers, Bordeaux sowie Strasbourg gingen an sie und auch der Sieg der »diversen Linken« in Marseille und von Anne Hidalgo in Paris verdanken sich zum großen Teil ihrer konsequenten Umweltpolitik und ihren Wahlabsprachen mit den Grünen. Noch bei den Europawahlen schien Macrons Idee eines »Europa, das schützt« die Großstädte zu dominieren, nun bei den Gemeinderatswahlen sind die Wähler*innen in den Streik getreten, für den Linksnationalisten Jean-Luc Mélenchon sogar in einen »kalten Bürgerkrieg« gegen den Amtsinhaber.
Die Wahlenthaltung in der kommunalen Stichwahl ist in Frankreich seit 1983 beständig gestiegen von 20% auf zuletzt (2014) 38%. In diesem Jahr schnellte die Quote auf fast 60% und gefährdet damit die demokratische Legitimation der Stadträte und Bürgermeister*innen, vor allem in den sehr großen Städten, denn auf dem flachen Land sind die Ergebnisse schon im ersten Wahlgang relativ klar gewesen.
Die Sozialdemokraten konnten ihre verbliebenen Hochburgen verteidigen (Lille) und die Republikaner haben nach ihrem Debakel bei der EU-Wahl die Mehrheit der Städte über 10.000 Einwohner*innen dank der Absprachen mit Macrons Bewegung LREM verteidigt. Die LREM-Minister*innen, die aus der Rechten zu Macron gestoßen waren, konnten ihre traditionell wichtigen Bürgermeister-Scherpe verteidigen, was ihren aus der Sozialdemokratie kommenden Kolleg*innen nicht gelang.
Auch taktische Bündnisse vor Ort (Grenoble, Toulouse) konnten das Ansehen der Macroniten schon in der ersten Runde nicht retten. Sie erzielten durchweg schlechtere Ergebnisse als ihr Präsident in der ersten Runde der Wahl (2017), teilweise schafften sie es oft noch nicht einmal in die Stichwahl der großen Städte.
Die Bewegung war schon vor der Stichwahl angeschlagen: Die mitten in der Corona-Krise erfolgte Abspaltung von grün-affinen LREM-Parlaments-Abgeordneten in Fraktionsstärke zeigt die offene Flanke der macronitischen Bewegung. In Lyon, zweitgrößte Stadt Frankreichs, wurde der aus der rechten Sozialdemokratie stammende langjährige Patron Collomb aus der Bewegung ausgeschlossen.
In Paris spaltete sich die Bewegung, weil der Hoffnungsträger und Politneuling aus dem Hipster-Biotop den Wertkonservativen nicht passte. Beide Listen konnten ihr Potenzial nicht ausschöpfen. In Paris fiel der Sieg der sozialdemokratischen Amtsinhaberin, die auch von Kommunisten und Grünen unterstützt wird, mit 49% deutlicher aus als prognostiziert. Sie ist die Kandidatin der Arbeiter, der Jüngeren aber auch derer mit höheren Schulabschlüssen. Sie habe ein Projekt für Paris und beherrsche die wichtigen Themen, auch wenn sie nicht auf Augenhöhe mit den Sorgen der Bevölkerung sei. Die Hälfte der Wählerschaft Macrons von 2017 unterstützt sie, während ein Fünftel sich der rechtskonservativen Raschida Dati zuwandte. Die Favoritin Macrons bekam mit 13,5% weniger als ihr Chef 2017. Ausschlaggebend war, dass über 40% der Wählerschaft des LREM-Abtrünnigen Villani sich der Amtsinhaberin zuwandten. Laut Umfragen wollten sich zwei Drittel der Mélenchon-Wähler*innen und ein Fünftel der Le Pen-Wählerschaft für Hidalgo entscheiden. In Marseille wurde nach 25 Jahren wieder eine Linke zur Bürgermeisterin gewählt, die allerdings im Stadtrat über keine eigene Mehrheit verfügen wird.
Die Kommunisten verlieren im ehemals roten Gürtel weiter an Einfluss. Saint Denis, seit der Befreiung von ihnen regiert, ging ebenso verloren wie Aubervilliers, während Villejuif zurückgeholt werden konnte. Auch Corbeil-Essonne konnte nach Jahrzehnten der korrupten Dassault-Clique abgerungen werden. Die ehemaligen Arbeitervorstädte der Hauptstadt wandeln sich zu Wohnorten des migrantischen Dienstleistungsprekariats, wo trotz Verankerung in den Selbsthilfe-Organismen die Linksnationalisten von LFI wahlpolitisch nicht weiterkommen, oder zu teil-gentrifizierten Enklaven für Grüne, Republikaner und LREM.
Aber das ist letztlich eine oberflächliche Betrachtung. Der zweite Wahlgang stand nicht nur unter dem Eindruck von Corona-Lockdown und der Wirtschaftskrise, sondern auch der sozialen Auseinandersetzungen um staatliche Gewalt, Rassismus, Gesundheitswesen und das deutsch-französische Verhältnis sowie die gemeinsame EU-Initiative.
Es kann mittlerweile als gesicherte statistische Erkenntnis angesehen werden, dass der macronitische Niedergang mit dem Ende des Konjunkturzyklus zu tun hat. Frankreich befand sich bereits ab dem Sommer 2019 in einer Rezession. Die offizielle Arbeitslosenquote war von dieser Abwärtsbewegung allerdings nicht berührt. Sie sank seit dem 2. Quartal 2015 bis auf 7,8% im 1. Quartal 2020. Diese positive Entwicklung kann also nicht auf die macronitischen Arbeitsmarktreformen zurückgeführt werden, sondern eher auf die fiskalischen Unternehmenssteuerentlastungen der sozialdemokratischen Vorgängerregierung Hollande.
Tabelle 1: BIP-Entwicklung in Frankreich nach Bereichen
Das zweite Quartal 2020 vertieft infolge der gesundheitspolitischen Sofortmaßnahmen, die national ergriffen und über die enge weltwirtschaftliche Verflechtung zurückwirken, den zyklischen Abschwung weiter. Die letzte Schätzung des statistischen Amtes INSEE vom 17. Juni geht zwar davon aus, dass nach dem Tiefpunkt im April eine gewisse Erholung über die nachfolgenden Monate festzustellen ist. So stieg die effektiven Eisenbahnfracht-Auslastung von durchschnittlich 65% im April auf rd. 75% im Mai auf über etwa 85% im Juni. Aber über das ganze 2. Quartal wird der Einbruch jedoch noch tiefer liegen als im ersten Quartal.
Tabelle 2: Schätzung der Aktivitätsverluste im Juni 2020 im Verhältnis zum Normalbetrieb
Die Regierung von Premierminister Philippe bemühte sich, den Schaden zu begrenzen: Renault erhielt eine Umstrukturierungshilfe von drei Mrd. Euro, Air France sieben Mrd. Euro. Die Genehmigungspflicht von nicht-europäischen Beteiligungen an französischen Unternehmen mit strategischer Bedeutung wurde von 25 auf 10% gesenkt. Diese Grenze war allerdings schon im Dezember 2019, als von Corona noch nicht die Rede war, von 33 auf 25% gesenkt worden. Es geht vor allem um Energiespeicherung, Quantentechnologien, die Luftfahrt- und Nahrungsmittelindustrie – Bereiche, die man vor allem vor chinesischem Zugriff schützen will.
Macron hat dem Chemie-Multi Sanofi 200 Mio. Euro in Aussicht gestellt, 80 Mio. Euro davon für den Ausbau der Kapazitäten in der Impfstoffproduktion und 120 Mio. Euro im Forschungs- und Entwicklungsbereich in der Nähe von Lyon, der heute bereits zu den größten europäischen Standorten zählt (3.500 Beschäftigte). Sanofi ist viertgrößter Vakzine-Hersteller der Welt und stark durch US-amerikanische Fördermittel und Auflagen gebunden. Die Politik Macrons folgt der Devise: »Unsere Priorität ist es heute, mehr in Frankreich und in Europa zu produzieren.« (FAZ, 3.4.2020) Auch den verbliebenen Kräften um Macron ist offensichtlich klar, dass die sogenannten Selbstheilungskräfte der Wirtschaft allein keinen Aufschwung bringen.
Im ersten Wahlgang Ende März lag die Wahlbeteiligung landesweit mitten in der virus-induzierten Krise des Gesundheitssystems mit etwa 45% um 17% unter der Quote der letzten Wahl (2014). Schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt hatte die Virus-Krise die Mängel des Gesundheitswesens aufgedeckt, von denen bis dahin nur die Beschäftigten des Sektors gesprochen hatten.
Eine der Siegerinnen war die rechtspopulistische Nationale Sammlung RN (Rassemblement National) hinter Marine Le Pen, die ihre Mandate in der Fläche ausbauen konnte, aber in einigen Städten auch in die Stichwahl gezwungen wurde. Macrons Widersacherin im Präsidentschaftswahlkampf, Le Pen, war die einzige, die ohne auf die realen wirtschaftlichen Probleme des Landes eingehen zu müssen, eine konsistente Einordung in die große Erzählung des RN anbieten konnte. Aber mit Ausnahme der Großstadt Perpignan erzielte sie in der Stichwahl keine Geländegewinne.
Man erlebe das Scheitern »des ultra-liberalen globalisierten Modells. Ein Modell, das auf das Verschwinden von Grenzen setzt, auf die Belieferung durch den Weltmarkt und die unsichtbare Hand des Marktes. Und es handelt sich um eine Philosophie, die auch von unseren Staatslenkern verteidigt wird, die den Staat als Unternehmen betrachtet, ohne Lagerhaltung, abhängig von Lieferketten, rentabel um jeden Preis im Benchmarking. Mit dieser Begründung wurde auch die Medikamentenproduktion ausgelagert.« Le Pen zielt dagegen auf die dauerhafte nationale Abschottung.
Dazu liefert sie eine Kulturkritik, die auch bei sogenannten Linken verfängt: »Man muss die Diversität der Kulturen bewahren und darf sich nicht vorstellen, dass der der ganze Planet wie ein Mittelstandsamerikaner lebt, großgezogen mit Reality-TV und Blockbustern, imprägniert von einer Kommerzkultur, die unnützes Zeug als unverzichtbar zu vermitteln versucht oder der Planet werde untergehen. Diese Uniformierung gilt auch für das Gedankengut. Wir müssen uns auf unsere Geschichte rückbesinnen und eine Bescheidenheit wiederfinden.«
Eine Grenze sei wie eine Haut. »Sie lässt die guten Dinge durch und hält die schädlichen ab. ... Die Leute werden ihren Kontinent verlassen wollen, um sich bei uns pflegen zu lassen. Wir müssen unsere Türen schließen für Monate, um eine zweite Welle der Epidemie zu vermeiden. Die EU wird dazu materiell und intellektuell nicht in der Lage sein.«
Wie immer spricht sie die Sorge der Kleinbürger*innen an: »Wohin ist das ganze Geld geflossen aus den Steuern, die man bis zum Überdruss eintreibt?« Die Idee eines schwachen Staates der Regionen, wie sie in Italien verfolgt worden sein, vertritt sie nicht: »In Sachen Gesundheit und öffentliche Sicherheit muss der Nationalstaat seine Verantwortung übernehmen. … In den Vorstädten herrsche die Gesetzlosigkeit auch in Sachen der sanitären Standards«. Aber die Regierung sage, es gibt keine Welle dort, aus »Angst vor dem Aufstand«. Jetzt müsse die nationale Lebensmittelproduktion angekurbelt werden, was man seit den Kampagnen gegen das »miese Essen« der Systemgastronomie auch schon seit Jahrzehnten fordert. »In der Krise kommen die Unzulänglichkeiten zu Tage. Der Zusammenbruch des Staatswesens wird offenbar«, sagte Le Pen.
Eher den Grünen nützen konnten die Forderungen, die ein von Macron auf dem Höhepunkt der Gelbwesten-Proteste eingesetzter nationaler Bürger-Konvent in den vergangenen neun Monaten entwickelt hatte. Der Abschlussbericht nach der Anhörung von 138 Klima-Fachleuten umfasst 600 Seiten. Die aufgenommenen Forderungen haben jeweils mehr als 60% der 150 nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Bürger*innen aus allen Regionen und »Ständen« unterstützt.
Das Tempolimit auf Autobahnen soll auf 110 km/h begrenzt, der Verkauf von Einwegplastik und Autos mit hohem Schadstoffausstoß verboten und energetische Sanierung von Immobilien Pflicht werden. »Ökozid«, schwere Umweltschädigung, solle Straftatbestand werden. Während sich Hausbesitzer*innen bevormundet fühlen, gibt es nur vage Vorstellungen darüber, wie einkommensschwache Haushalte die Mietsteigerungen verkraften könnten. Aber ansonsten ist noch keine wirkliche Debatte zu verzeichnen, wie der Ausgleich von Klimaschutz und sozialer Gerechtigkeit, den der Bericht anstrebt, bewerkstelligt werden kann.
Linke und Grüne stehen vor der Herausforderung, aus den disparaten, oft eher auf Wertorientierungen basierenden 150 Forderungen ein wirtschaftliches Erholungsprogramm zu entwickeln, um aus dem Corona-verschärften Konjunktur-Tal möglichst ebenso schnell herauszukommen wie die Ökonomie abgestürzt ist. Immerhin gibt es mittlerweile auch eine feste Kooperation von Greenpeace und der linken Gewerkschaft CGT.
Wie soll es weitergehen? Die Wähler*innen wünschen sich eine institutionelle Reform (Stichwort Dezentralisierung und Stärkung der Demokratie vor Ort), eine Anhebung des Mindestlohns und ein Referendum über die Vorschläge des Bürgerkonvents zum Klimawandel sowie den endgültigen Verzicht auf die Rentenreform. In diese Projekte ließe sich sogar Le Pens Publikum einbinden.
Der Elysée-Palast betonte vor der Wahl eher den starken Staat und die identitären Positionen der Rechten als soziale und Umweltfragen. Der Aufstand der Gelbwesten hatte den gesellschaftlichen Zusammenhalt bei der Umsetzung einer progressiven Klimawende auf die Tagesordnung gebracht und dazu geführt, dass sich Macrons LREM immer mehr zu einer autoritären Partei der Ordnung wandelte.
Mit der immer deutlicheren Rechtswende stieß Macron den progressiveren Teil seiner Anhängerschaft vor den Kopf, wovon die Grünen profitieren. Eine Linkswende bedeutet das für Frankreich noch ebenso wenig wie eine kapitalistische Regeneration.