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27. September 2019 Hinrich Kuhls: Nach der Verfassungsrevolution im UK

Hält Europa der Zerstörungswut Johnsons stand?

Der britische Premierminister Boris Johnson hat die Verfassung gebrochen. Er handelte rechtswidrig, als er Königin Elisabeth II. in einer Geheimaktion dazu geraten hatte, die Sitzungsperiode des Parlaments zu beenden und es inmitten der Auseinandersetzung um den Austritt aus der EU für fünf lange Wochen zu suspendieren.

In einer der weitreichendsten Entscheidungen der jüngeren Geschichte des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland haben die elf Richter*innen des Supreme Courts am 24. September die Prorogation für »null und nichtig« erklärt. Sowohl der Ratschlag des Premierministers an die Monarchin zur überlangen Suspendierung des Parlaments, als auch die Anordnung des Staatsoberhaupts selbst waren verfassungswidrig und haben keinerlei juristische Wirkung. Die Verfügung zur Prorogation, die die Gesandten der Königin am 9. September dem Oberhaus überbrachten, war nichts anderes als »ein weißes Blatt Papier«, das hätte »zerknüllt« werden müssen – so die Gerichtsentscheidung in bildhafter Eindeutigkeit.


Die Verfassungsrevolution als Rettungsversuch der repräsentativen Demokratie

Das Urteil des Obersten Gerichtshofs liest sich als eine einzige durchgehende Anklage des Machtmissbrauchs der Exekutive. Die fünfwöchige Suspendierung des Parlaments durch Johnson war ein rechtswidriger Versuch, die Abgeordneten gerade zu dem Zeitpunkt zum Schweigen zu bringen, in dem das UK wegen der am 31. Oktober auslaufenden Frist zur Abwendung des vertragslosen Brexits vor der größten Umwälzung seiner staatlichen Verfassung seit Jahrzehnten steht. Johnsons Behauptung, die Prorogation sei eine routinemäßige Unterbrechung vor einer neuen Sitzungsperiode des Parlaments, ist als unverhohlene Lüge entlarvt worden.

Das Gericht urteilte, dass der Premierminister in Wirklichkeit die Parlamentarier*innen, das britische Volk und die Monarchin irregeführt habe. Kein zukünftiger Premier wird jemals wieder eine Prorogation in derart verfassungswidriger Weise anordnen können. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs markiert einen historischen Einschnitt in der Verfassungsgeschichte des Vereinigten Königreichs.

Im Zentrum der Entscheidung steht die eindeutige Klarstellung, dass das UK als konstitutionelle Monarchie selbst unter den schwierigsten politischen Umständen nach wie vor eine repräsentative Demokratie ist, die auf rechtsstaatlichen Grundsätzen beruht – auch wenn der asymmetrische Verfassungskompromiss nicht in einer geschlossenen kodifizierten Form vorliegt: »Erinnern wir uns an die Grundlagen unserer Verfassung. Wir leben in einer repräsentativen Demokratie. Das Unterhaus existiert, weil das Volk seine Mitglieder gewählt hat. Die Regierung wird nicht direkt vom Volk gewählt (im Gegensatz zu einigen anderen Demokratien). Die Regierung existiert, weil sie das Vertrauen des Unterhauses hat. Darüber hinaus hat sie keine andere demokratische Legitimität. Das bedeutet, dass sie dem Unterhaus – und auch dem Oberhaus – für ihr Handeln Rechenschaft ablegen muss, das Regierungshandeln selbst aber allein bei der Exekutive liegt und nicht bei Parlament oder Gerichten.« (Ziff. 55 des Urteils)

Der Supreme Court hat zwar ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Fragen des EU-Austritts in keiner Weise Gegenstand der juristischen Prüfung waren, sondern ausschließlich die auf fünf Wochen festgelegte Prorogation. Die hier getroffene Charakterisierung der Staatsform hat wegen der fehlenden Kodifizierung der Verfassung selbst Verfassungsrang: Das UK ist eine repräsentative Demokratie. Das Agieren der Regierung nach innen und nach außen ist nur legitimiert, wenn das Parlament dafür eine Rechtsgrundlage geschaffen hat.

Damit ist die Regierung auch in der Umsetzung des plebiszitär getroffen Brexit-Votums in ihrem Regierungshandeln an Beschlüsse des Parlaments gebunden. Wie die Regierung May begründet auch die Johnson-Regierung die Androhung des No-Deal-Brexits damit, dass sie dazu legitimiert sei, weil im Wahlprogramm der Konservativen Partei für die vorgezogene Parlamentswahl 2017 die Floskel »kein Vertrag sei besser als ein schlechter Vertrag« stand.

Die Souveränitätsrechte des Unterhauses prägen die repräsentative Demokratie des UK. Mit dem EU-Referendum ist die direkte Demokratie zwar vom Rand in die Mitte des politischen Systems und der politischen Auseinandersetzungen gerückt. Doch die rechtspopulistische Auffassung der Johnson-Regierung, mit dem knappen Brexit-Votum vom Juni 2016 verfüge sie auch über ein Mandat zur rücksichtslosen Durchsetzung des EU-Austritts, ist verfassungswidrig.

Der Kompromiss zur Gestaltung des Austritts muss im Parlament gefunden werden, auch wenn das Parlament die Zerstrittenheit der britischen Gesellschaft abbildet und sich bisher keine Mehrheit in der Frage gefunden hat, wie in Zukunft die Beziehungen zwischen dem UK und der EU vertraglich geregelt werden sollen. Es liegt nahe, das Austrittsabkommen nach der jahrelangen Kompromisssuche vor der Ratifizierung erneut einem plebiszitären Votum zu unterwerfen.

In der Argumentation zur Verfassungswidrigkeit der Prorogation wird die Rückbindung der Regierung an Recht und Gesetz in einem demokratischen Staat in makelloser Logik und Klarheit entwickelt, so die Wertung des Editorial Boards der Financial Times: »Die Abgeordneten werden gewählt, um nach bestem Wissen und Gewissen Entscheidungen im Namen der Wähler*innen zu treffen, die sie repräsentieren. Sie kontrollieren eine Regierung, die aus ihrer Mitte gebildet wird. Die Exekutive ist dem Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig so wie das Parlament dem Volk gegenüber. Die Prorogation des Parlaments, auch nur für wenige Wochen, bricht ein Glied aus der Kette der Rechenschaftspflicht heraus. Im Verfassungssystem des UK ist es also nicht zulässig, dass eine Kabale um den Premierminister herum den ›Willen des Volkes‹ interpretiert und versucht, ihn eigenmächtig umzusetzen, während sie diejenigen, die das Volk als ihre Repräsentant*innen gewählt hat, ausgrenzt. Das ist der Weg in die Tyrannei.« (Financial Times vom 25.9.2019)


Die weitere Verselbständigung der Exekutive

Johnson hat alle Forderungen nach einem Rücktritt, einer Entschuldigung gegenüber Königin, Parlament oder der breiten Öffentlichkeit zurückgewiesen. Im Gegenteil: Die Regierung versucht die Gerichtsbarkeit des Landes der Lächerlichkeit preiszugeben. Sie würden den Entscheid des Obersten Gerichts zwar respektieren, aber den Richterspruch weiterhin als falsch kritisieren, auch mit drastischen Worten. Der Parlamentsminister (»Leader oft he House«), Jacob Rees-Mogg, der die unrechtmäßige Prorogation der Königin zur Unterzeichnung überbracht hatte, räumte nicht aus, dass er in der Kabinettssitzung vom 24.9. den Entscheid des Obersten Gerichts als »Putsch gegen die Verfassung« bezeichnet hat.

Der Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox, Rechtsberater der Regierung im Ministerrang, der die Prorogation als rechtsgültig bewertet hatte, hielt dem Gericht vor, es habe neues Recht geschaffen, indem es das vorangegangene Urteil des High Courts aufgehoben hat, demzufolge eine Prorogation als politische Entscheidung der Regierung nicht justiziabel sei. In der Eröffnungsdebatte nach Beendigung der Prorogation gab er dann den Ton vor.

Er kritisierte nicht nur das Gericht, sondern beschimpfte die Runde der Parlamentarier*innen als »Zombie-Parlament«, dass es nicht verdient habe, zusammenzutreten. Die rechtspopulistischen und nationalistischen Tories der ERG-Gruppe hatten immer auf den einen breiten Handlungsspielraum der Exekutive gepocht. Jetzt zog ihr Verfassungsexperte Bill Cash, zugleich Vorsitzender des europapolitischen Ausschusses des Unterhauses, die Rechtsgrundlage des Entscheids des Obersten Gerichts in Frage.

Das Statement des britischen Premierministers am ersten Sitzungstag nach der Prorogation hat nicht nur dessen Verachtung der Gewaltenteilung mit der anhaltenden Diskreditierung des Verfassungsurteils des Obersten Gerichts gezeigt. Es hat unmissverständlich deutlich gemacht: Johnson sieht sich im Krieg mit der EU und mit dem Parlament. Seine Sicht des Verhältnisses der EU und des UK hat er bisher mit dem mittelalterlichen Bild vom Lehnsherrn und Vasallen bezeichnet. Er ergänzt es jetzt mit einer dezidiert bellizistischen Sprache, indem er das »No-Deal-Gesetz« ausschließlich als Unterwerfungs- oder Kapitulationsgesetz bezeichnet.

Die Ressentiments englischer Nationalisten werden heute vor allem durch zwei Worte unmittelbar evoziert: »Blitz« und »Surrender«. Johnson bezeichnete also die Mehrheit der Abgeordneten als Verräter – eine Invektive, die dann in den sprunghaft angestiegenen Hassreden als Drohung gegen die Parlamentarier*innen ausgesprochen wurde. Nie ist Elias Canettis Analyse des »Wesens der parlamentarischen Demokratie« aus »Masse und Macht« deutlicher bestätigt worden als vom derzeitigen britischen Premier, der sich nun endgültig die Clownsmaske vom Gesicht gerissen hat.

»Das Zwei-Parteien-System des modernen Parlaments benutzt die psychologische Struktur der kämpfenden Heere. Im Bürgerkrieg waren sie wirklich, wenn auch widerstrebend, vorhanden. Man tötet die eigenen Leute nicht gern, immer wirkt ein Stammesgefühl blutigen Bürgerkriegen entgegen und führt sie gewöhnlich in wenigen Jahren oder rascher zu Ende. Aber die beiden Parteien, die da sind, müssen sich weiter messen. Sie kämpfen, indem sie auf Tote verzichten. Es wird angenommen, dass die größere Zahl in einem blutigen Zusammenstoß siegen würde. Die Kronsorge aller Feldherrn ist es, am Orte des wirklichen Zusammenstoßes stärker zu sein, mehr Leute bei der Hand zu haben als der Gegner. Der erfolgreiche Feldherr ist der, dem es gelingt, an möglichst vielen, wichtigen Lokalitäten die Übermacht zu haben, auch wenn er im Ganzen der Schwächere ist.

Bei einer parlamentarischen Abstimmung hat man nichts anderes zu tun, als die Stärke der beiden Gruppen an Ort und Stelle zu ermitteln. Es genügt nicht, dass man sie von vornherein kennt. Die eine Partei mag 360, die andere nur 240 Abgeordnete haben: die Abstimmung bleibt entscheidend als der Augenblick, in dem man sich wirklich misst. Sie ist der Rest des blutigen Zusammenstoßes, den man auf vielfache Weise spielt, durch Drohung, Beschimpfung, physische Erregtheit, die bis zu Schlägen oder Würfen führen kann. Aber die Zählung der Stimmen ist das Ende der Schlacht. Es wird angenommen, dass 360 Mann über 240 gesiegt hätten. Die Masse der Toten bleibt ganz aus dem Spiel. Innerhalb des Parlaments darf es keine Toten geben. Die Unverletzlichkeit des Abgeordneten drückt diese Absicht am klarsten aus. […]

Die Gleichheit der Abgeordneten, das, was sie zur Masse macht, besteht in ihrer Unverletzlichkeit. Darin ist zwischen den Parteien kein Unterschied. Das parlamentarische System funktioniert, solange diese Unverletzlichkeit gewahrt wird. Es zerbröckelt, sobald jemand darinsitzt, der es sich erlaubt, mit dem Tode irgendwelcher Mitglieder der Körperschaft zu rechnen. Nichts ist gefährlicher, als unter diesen Lebenden Tote zu sehen. Ein Krieg ist ein Krieg, weil er Tote in die Entscheidung einbezieht. Ein Parlament ist nur ein Parlament, solange es Tote ausschließt.« (Elias Canetti, Masse und Macht, S. 220f.)

Die Grenze der Unverletzlichkeit der Abgeordneten musste der Premierminister überschreiten und hat sie überschritten, um als ein ohne demokratische Legitimierung ins Amt beförderter Feldherr einer Minderheitsregierung, die die Verfassung bricht und die demokratischen Institutionen verhöhnt, seine der Zahl nach unterlegene Truppe zusammenzuhalten. Er scheute sich daher nicht, zur Denunzierung seiner politischen Feinde im Parlament den von einem Neofaschisten begangenen Mord zu instrumentalisieren, dem die Labour-Abgeordnete und Proeuropäerin Jo Cox im Juni 2016 zum Opfer gefallen war, mitten in der von den Lügen der Rechtspopulisten aufgeputschten Phase des EU-Referendums mit Johnson als Lügenbaron an der Spitze. Die umgehenden Proteste gegen seine Provokationen bezeichnete er als »Humbug«, die Verhöhnung des Mordopfers trieb er auf die Spitze mit der weiteren Provokation, ihrem Andenken würde man am ehesten gerecht werden, wenn der Brexit möglichst bald durchgesetzt würde.

Einst prägte die Konservativen Partei das Demokratieverständnis vieler Nationen, die sich aus der Herrschaft des britischen Imperialismus herausgekämpft hatten. Die ganze Verkommenheit dieser von Rechtspopulisten und englischen Nationalisten vereinnahmten Partei zeigte sich, als nahezu alle Tory-Abgeordneten in treuer Gefolgschaft mehr oder minder Inhalt und Sprache ihres Feldherrn in einer »Debatte« nachäfften, die ein Tiefpunkt des britischen Parlamentarismus war.

Johnson hatte sein Ziel erreicht: die öffentliche Desavouierung des Organs der repräsentativen Demokratie an dem Tag, an dem es sein Recht zur Versammlung zurückerkämpft hatte. Der aus der Konservativen Partei ausgeschlossene Alterspräsident des Parlaments, Ken Clarke, hat den Kurs der Regierung als das bezeichnet was er ist: Eine Kopie der populistischen und nationalistischen Taktik des Vorsitzenden der Brexit-Partei, der 1993 aus der Konservativen Partei ausgetreten war und seitdem das Gesicht des aggressiven englischen Rechtspopulismus ist.

Die Aggressivität von Johnson und den Brexit-Hardlinern ist in dem Wiederspruch begründet, in den sie sich hineinmanövriert haben. Einerseits haben sie den Austritt aus der EU zum 31. Oktober – entweder mit oder ohne Vertrag - versprochen und halten an diesem Termin fest. Andererseits ist Johnson als Premierminister persönlich verpflichtet, spätestens am 19. Oktober den gesetzlich vorgeschriebenen Brief mit der Bitte um eine Verlängerung der Austrittsfrist über den 31. Oktober hinaus abzusenden, wenn das Unterhaus bis dahin kein Austrittsabkommen unterzeichnet hat. Nachfragen zur Auflösung dieses Widerspruchs beantwortet die Regierung mit der Redewendung »Wir werden dem Gesetz gehorchen«, ohne auch nur im Ansatz transparent zu machen, wie sie den Widerspruch auflösen will.


Corbyns Alternative: Transformation und gesellschaftlicher Dialog

Die Alternative zur rechtspopulistischen Politik der maximalen Konfrontation liegt vor. Sie ist auf dem Parteitag der Labour Party vom 21. bis 24.9. erneut mit großer Mehrheit beschlossen worden und hat den bisherigen Kurs von Partei- und Fraktionsführung bestätigt: Verhinderung des Chaos-Brexits, Bildung einer Übergangsregierung, Neuwahlen nach Abwendung eines Brexits ohne Abkommen zum nächstmöglichen Zeitpunkt. Das weitere Vorgehen im Falle eines Wahlsiegs der Oppositionsparteien ist von Corbyn präzisiert worden: innerhalb von drei Monaten nach Regierungsbildung Abschluss eines Austrittsabkommen, das einen Austritt mit Verbleib in der Zollunion vorsieht; innerhalb von sechs Monaten Durchführung eines abschließenden Referendums, bei dem die Optionen »Austritt entsprechend dem Austrittsabkommen« und »Verbleib in der EU« zur Abstimmung stehen.

Der Zeitraum von drei bzw. sechs Monaten ist mit Sicherheit zu kurz bemessen. Dennoch ist der Labour-Vorschlag der einzig rationale Weg, in der kurzen Frist die weitere  Verselbständigung der Exekutive zu unterbinden und in der mittleren Frist einen gesellschaftlichen Dialog zur Überwindung der tiefen Spaltung der britischen Gesellschaft in der Frage der nationalen und supranationalen Souveränität einzuleiten.

Entscheidend ist jedoch, dass sich die Delegierten auf dem Parteitag darauf verständigt haben, der harten Austeritätspolitik der Konservativen, die mit der Verstärkung der sozialen Ungleichheit die nationalen Ressentiments befördert und die EU-Feindlichkeit der Rechtspopulisten untermauert hat, eine politische Alternative entgegenzusetzen, die eine Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft einleitet: ein von den Kommunen ausgehender wirtschaftlich-sozialer und ökologischer Transformationsprozess, mit dem die tiefe Spaltung der Gesellschaft überwunden werden kann.

Es geht um eine umfassende Erneuerung des privatkapitalistischen und öffentlichen Kapitalstocks mit entsprechenden Arbeitsplätzen. Eingeleitet durch Arbeitszeitverkürzungen würde dies den Übergang zur Vier-Tage-Woche, einen kostenlosen Nationalen Pflegedienst für Ältere, Unternehmensanteile für Lohnabhängige und einen höheren Mindestlohn sowie eine Stärkung der Gewerkschaftsrechte ermöglichen.

Noch weisen alle anderen politischen Kräfte im UK diesen Weg zurück. Die Eliten diskreditieren ihn als angebliche Rückkehr zum Staatsozialismus. Sie stehen vor der Entscheidung: Hinnahme des No-Deal-Brexits mit den katastrophalen ökonomischen Folgen und weiterer Unterhöhlung und Zerstörung der demokratischen Strukturen des UK oder Billigung und Unterstützung einer Übergangsregierung zur Abwendung des Chaos-Brexits und zur Einleitung von Neuwahlen, bei denen sich dann ein demokratischer Übergang zu einer langfristigen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft im Rahmen der britischen Verfassungskonventionen eröffnen kann.


Der Europäische Rat überhört die Alarmglocken

Das UK ist bis zum Austrittstag ein Mitgliedsstaat der EU mit allen Rechten und Pflichten. Die Organe der EU sind insbesondere gehalten, die Rechte der EU-Bürger*innen in den einzelnen Staaten zu wahren. Missachten Regierungen EU-Recht, ist die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens zwingend vorgeschrieben. Das trifft auch für Staaten zu, die zwar einen Austrittsantrag gestellt haben, deren Austritt aber noch nicht rechtskräftig geworden ist.

Das Europäische Parlament hat in seiner Entschließung vom 18.9. festgestellt, dass es die bisherige Verhandlungsposition des Europäischen Rats unterstützt. Zur Lösung des Konflikts schlägt es als künftige Kooperationsform ein Assoziierungsabkommen des UK und der EU vor – ein abwegiger Vorschlag, weil damit die Verpflichtungen aus dem Belfaster Friedensabkommen von 1998 nicht gewährleistet werden können und der politische Kern einer Assoziierung auf eine künftige Integration angelegt ist – eine Bindung, die aber gerade mit dem Brexit-Votum von 2016 abgelehnt worden ist.

Sowohl EU-Kommission, EU-Verhandlungskommission und die 27 Staats- und Regierungschefs des Europäischen Rats einerseits als auch die britische Regierung andererseits weisen bisher darauf hin, dass in der Frage des »Backstops« zur Regelung der Friedenssicherung auf der irischen Insel noch keine Alternative gefunden worden ist. Drei Wochen vor der Sitzung des Europäischen Rats am 17./18. Oktober sind die Verhandlungen für eine Revision des Austrittsabkommens immer noch nicht aufgenommen worden. Ein ordentliches Ratifizierungsverfahren ist nach den öffentlich bekannten Festlegungen des Europäischen Parlaments, des britischem Unterhaus, des Europäischen Rats und der britischen Regierung bis zum 31. Oktober unwahrscheinlich.

Aufgrund der zugespitzten Konstellation im UK werden sich die Organe der EU damit konfrontiert sehen, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Regierung des Vereinigten Königreichs einzuleiten, wenn Johnson sich weiterhin weigert, das Gesuch auf Verlängerung der Austrittsfrist einzureichen. Die britische Regierung kann den No-Deal-Brexit nur vollziehen, indem sie das völkerrechtlich bindende Belfaster Karfreitagsabkommen von 1998 bricht.

Die Regierung der Republik Irland und damit der Europäische Rat sind verpflichtet, diesen weitreichenden Vertragsbruch zu verhindern. Der Europäische Rat kann den No-Deal-Brexit nicht hinnehmen, ohne selbst internationales Recht zu brechen. Sollte der britische Premier nicht wie gesetzlich verpflichtet den Antrag auf Fristverlängerung stellen, muss der Europäische Rat unter Berufung auf die Rechtslage seines Mitgliedstaats Vereinigtes Königreich initiativ die Verlängerung der Austrittsfrist beschließen und festlegen.

Nachdem die Zwei-Stadien-Verhandlungstaktik des Europäischen Rats gescheitert ist, ist eine unbefristete Verlängerung der Austrittsfrist angemessen, deren Beendigung an die Kondition gebunden ist, dass beide Bestandteile des Austrittsabkommen zeitgleich wirksam werden können – sowohl der Abschluss der Ratifizierung des Austrittsvertrags als auch die Einleitung des Ratifizierungsverfahrens für den künftigen EU-UK-Kooperationsvertrag.

Bisher wurde angenommen, dass die größte Rechtsunsicherheit des EU-Austritts des UK mit einem disruptiven Austritt ohne Abkommen gegeben sei. Jetzt zeichnet sich ab, dass es eine weitaus härtere Stufe der Rechtsunsicherheit gibt: Hat der No-Deal-Austritt der britischen Regierung Rechtskraft oder ist das UK auch nach dem 31. Oktober weiterhin Mitglied der EU, wenn der britische Premier rechtswidrig den Antrag auf Verlängerung der Austrittsfrist nicht stellt?

Die Zerstörungswut der Brexit-Hardliner entfaltet maximale Kraft. So wenig wie die britische Regierung auf einen No-Deal vorbereitet ist, so wenig waren und sind es die EU-Institutionen und ihre Mitgliedsstaaten. Die neue Stufe der Rechtsunsicherheit ist nicht nur eine Herausforderung für die Einheit der Europäischen Union, sondern sie zielt auf ihre Zertrümmerung als jener supranationalen Organisation, die anderen internationalen Zusammenschlüssen bisher Halt gegeben hat.

Literatur

The Supreme Court: R (on the application of Miller) (Appellant) v The Prime Minister (Respondent); Cherry and others (Respondents) v Advocate General for Scotland (Appellant) (Scotland). [2019] UKSC 41 - 24. September 2019; https://www.supremecourt.uk/cases/uksc-2019-0192.html
Europäisches Parlament: Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU. Entschließung vom Mittwoch, 18. September 2019; http://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2019-0016_DE.html
Blick, Andrew (2019): Stretching the Constitution. The Brexit Shock in Historic Perspective. Oxford, Chicago: Hart Publishing (Hart Studies in Constitutional Law, 9).
Bogdanor, Vernon (2019): Beyond Brexit. Towards a British Constitution. London: I.B. Tauris.
Canetti, Elias (1994): Masse und Macht. Gesammelte Werke, Bd. 3. München, Wien: Hanser [zuerst Hamburg 1960].
Christiansen, Thomas; Fromage, Diane (Hg.) (2019): Brexit and Democracy. The Role of Parliaments in the UK and the European Union. Cham: Palgrave Macmillan
Corbyn, Jeremy: Schluss mit Johnsons populistischer Kabale! (Sozialismus Aktuell, 1.9.2019); https://www.sozialismus.de/nc/vorherige_hefte_archiv/kommentare_analysen/detail/artikel/schluss-mit-johnsons-populistischer-kabale
Davis, Fergal: Decision of the Supreme Court on the Prorogation of Parliament (House of Commons Library, 24.09.2019); https://commonslibrary.parliament.uk/parliament-and-elections/parliament/decision-of-the-supreme-court-on-the-prorogation-of-parliament.
The Editorial Board: Boris Johnson’s unlawful conduct has been called to account. UK Supreme Court ruling is an indictment of the abuse of executive power. In: Financial Times, 25.9.2019, S. 10.
Kuhls, Hinrich: Die Staats- und Verfassungskrise im Vereinigten Königreich. Der Chaos-Brexit als Souveränitätsfalle und ökonomische Katastrophe. In: Sozialismus.de. Heft 10/2019, S. 7–12; https://www.sozialismus.de/detail/artikel/die-staats-und-verfassungskrise-im-vereinigten-koenigreich/
Kuhls, Hinrich: Mit dem Brecheisen zum Chaos-Brexit. Premierminister Johnsons rechtspopulistische Mission (SozialismusAktuell.de, 30.8.2019); https://www.sozialismus.de/nc/vorherige_hefte_archiv/kommentare_analysen/detail/artikel/mit-dem-brecheisen-zum-chaos-brexit/
Kuhls, Hinrich: Die Spaltung der Konservativen Partei. Britannien im politischen Ausnahmezustand (SozialismusAktuell.de, 4.9.2019); https://www.sozialismus.de/nc/vorherige_hefte_archiv/kommentare_analysen/detail/artikel/die-spaltung-der-konservativen-partei/

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