8. Oktober 2023 Redaktion Sozialismus.de: Pulverfass in Nahost droht zu explodieren
Hamas greift Israel massiv an
Israel ist von einem Großangriff aus dem Gaza-Territorium überrascht worden. Der Militärchef der im Gaza-Streifen dominierenden radikalislamischen Hamas, Mohammed Deif, nannte dies eine »Operation«, um den »Verbrechen« Israels ein Ende zu setzen.
Die militante Palästinensergruppe hat Tausende Raketen abgefeuert. Zahlreiche Gruppen von Hamas-Kämpfern drangen in mehrere Orte im Süden Israels ein, eröffneten das Feuer auf Einwohner*innen und nahmen zahlreiche Geiseln.
Der israelische Geheimdienst wurde von diesem Angriff offenkundig überrascht. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu erklärte, Israel befinde sich im Krieg, das Sicherheitskabinett rief inzwischen auch offiziell den Kriegszustand aus. Die Armee mobilisiert die Reservisten, die Bevölkerung wird zu Blutspenden aufgerufen. Verteidigungsminister Jo’aw Galant (Likud) erklärte, die Hamas habe »heute morgen einen schweren Fehler gemacht und einen Krieg gegen den Staat Israel gestartet«.
Die israelische Opposition, die seit Monaten mit der rechts-religiösen bis rechts-extremen Koalition von Netanyahu einen harten politischen Konflikt um die geplante Reform der Justiz austrägt, sagte der Regierung ihre Unterstützung zu. Eine Reservistenvereinigung, die aus Protest gegen die Justizreform ihren Dienst verweigerten, erklärte, die Reservisten würden dem Aufruf zur Mobilisierung folgen. Offenbar ist der Protest großer Teile der Bevölkerung um die Verteidigung des politischen Systems Israels nun ausgesetzt. Dass Regierung, Militär und Geheimdienst derart von dem Angriff überrascht wurde, dürfte aber noch zu Diskussionen führen.
Hamas-Chef Ismail Haniya begründete den Angriff mit den fortgesetzten »Aggressionen gegen die Al-Aksa-Moschee« in Jerusalem, die in den letzten Tagen ihren Höhepunkt erreicht hätten. Die Hamas wolle mit der Offensive sie und andere »heilige Stätten und die Gefangenen« in israelischen Gefängnissen verteidigen. Radikale jüdische Gruppen hatten zuletzt vermehrt den Tempelberg besucht, auf dem sich die Moschee sowie der Felsendom, die drittheiligste Stätte des Islam, befinden.
Der Islamische Jihad verkündete, er habe sich der Offensive der Hamas angeschlossen. Die vom nördlichen Nachbarland Israels Libanon aus operierende Hisbollah-Miliz sieht den Angriff vor allem als eine klare Botschaft an all jene in der arabischen Welt, die eine Normalisierung mit dem jüdischen Staat anstrebten, ohne gleich selbst massiv in den Konflikt einzugreifen. Ein Zwei-Fronten-Krieg mit der Hamas und der Hisbollah wäre der absolute Albtraum für Israel.
Die Bevölkerung des Gaza-Streifens ist massiven israelischen Vergeltungsangriffe ausgesetzt. Die israelische Armee hat mitgeteilt, Dutzende Kampfjets hätten Hamas-Ziele im Gazastreifen bombardiert. Die 2,3 Mio. Einwohner*innen des dichtbesiedelten Küstenstreifens, der seit der Machtergreifung durch die islamistische Hamas-Bewegung 2007 einer strikten Blockade unterliegt, haben in den vergangenen 16 Jahren bereits vier Kriege durchlitten.
Zuletzt hatten die Hamas und Israel im Mai 2021 einen zehntägigen Krieg geführt. Die Hamas feuerte damals über 4.000 Raketen Israel ab, Israels Luftwaffe legte bei Angriffen auf Tunnel in Gaza mehrere Wohntürme in Trümmer. Erst nach langen Verhandlungen unter Vermittlung der UNO und Ägyptens war eine Waffenruhe zustande gekommen.
In all diesen Kriegen hat Israel die Bedrohung durch bewaffnete Palästinensergruppen nur vorübergehend eindämmen, nie aber beseitigen können. Die von Israel getöteten Kader der Hamas und des Islamischen Jihad erwiesen sich alle als leicht ersetzbar. Vor allem aber blieben die dem immer wieder in kriegerische Auseinandersetzungen eskalierenden Konflikt zugrunde liegenden Ursachen unbewältigt, darunter die prekäre Wirtschaftslage im Gazastreifen als Nährboden des Radikalismus, der Zufluss von Waffen und das Ausbleiben ernsthafter Friedensverhandlungen.
Bereits in früheren Jahren hat Israel mit aller Härte auf die Entführung eigener Bürger*innen reagiert. Nun, da Dutzende Menschen als Geiseln in der Hand von Hamas sind, wird Israel noch härter zurückschlagen. Militärisch kann die Hamas in dem Konflikt nur verlieren, ihre Truppen werden einen hohen Preis zahlen. Dem israelischen Militärapparat haben sie nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen.
Die Kämpfe werden sich von Israel in den Gazastreifen verlagern. Die Luftwaffe wird die Kommandozentralen, Raketenstellungen und Waffenfabriken der Hamas in Schutt und Asche bomben, unzählige zivile Opfer sind in dem dichtbesiedelten Küstengebiet zu erwarten. Die umstrittene rechts-religiöse Regierung kann sich dabei auf den Rückhalt der westlichen Staaten verlassen.
Die israelische Armee wird trotz ihrer Überlegenheit die Hamas nicht zerschlagen können. Dafür ist diese zu tief im Gazastreifen verwurzelt. Eine dauerhafte Besatzung kommt für die Armee nicht infrage, über kurz oder lang wird sie die Truppen wieder abziehen müssen. Am Ende des Krieges wird die Hamas zwar geschwächt, aber nicht komplett besiegt sein, auch wenn die militärisch-politische Führung Israels dies als Ziel verkündet.
Eine Lösung für den Gaza-Konflikt kann nicht militärisch, sondern nur politisch in Verhandlungen und längerfristig wirksamen Reformen erreicht werden. Der Bevölkerung, die in Gaza wie in einem Freiluftgefängnis lebt, muss eine eigenständige Existenzgrundlage eingeräumt und entsprechend ausgebaut werden. Dies unterstellt, dass die Konfliktparteien sich auf eine Lösung verständigen, die beiden Völkern in Israel und Palästina ein Leben in Würde, Wohlstand und Sicherheit erlaubt.
Der neuen kriegerischen Auseinandersetzungen haben das Potenzial zur Eskalation: Stunden nach dem Großangriff der Hamas auf Israel hat die israelische Armee nach eigenen Angaben mit Artilleriefeuer auf Beschuss aus dem Südlibanon reagiert. Sie sei dabei, »das Gebiet im Libanon anzugreifen, aus dem ein Schuss abgefeuert wurde«. Die libanesische Hisbollah hat die Verantwortung für den Raketenbeschuss von durch Israel besetzte Gebiete übernommen. »Auf dem Weg zur Befreiung dessen, was von unserem besetzten libanesischen Land übriggeblieben ist«, hieß es in einer Erklärung der eng mit dem Iran verbündeten Schiitenmiliz. In »Solidarität mit dem siegreichen palästinensischen Widerstand und dem Kampf des palästinensischen Volkes« habe eine Brigade am Sonntagmorgen drei Flächen der »zionistischen Besatzung« angegriffen.
Zu Recht gibt es Bemühungen, diese Eskalation zu stoppen. Neben der Aktivierung von Vermittler*innen soll auch der UN-Sicherheitsrat zusammentreten. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, verurteilte den Angriff der Hamas und rief zu »allen diplomatischen Bemühungen auf, um einen größeren Flächenbrand zu vermeiden«.
Der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas sagte zu US-Außenminister Antony Blinken, dass die »Ungerechtigkeit« gegenüber den Palästinensern den Konflikt mit Israel zu einer »Explosion« treibe, berichtete die palästinensische Nachrichtenagentur WAFA. Die Agentur berichtete auch, Abbas habe ein Telefonat mit seinem französischen Amtskollegen Emmanuel Macron geführt, in dem dieser betonte, dass »die derzeitige Eskalation in der Region eine Folge der politischen Sackgasse« und eine »Verweigerung des legitimen Rechts des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung« sei.