1. September 2016 Joachim Bischoff / Bernhard Müller
Herausforderung Altersarmut
Dass Altersarmut ein dringendes gesellschaftliches Problem in der Berliner Republik ist und bei großen Teile der Bevölkerung zu Zukunftsängsten führt, ist jetzt nicht zuletzt durch den Druck der neuen rechtspopulistischen Herausforderung auch bei den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie angekommen. Sie kündigen an, die Frage der Alterssicherung mit ins Zentrum der Wahlkampfauseinandersetzung rücken zu wollen.
Fakt ist: Immer mehr Menschen können schon heute nicht von ihrer Rente leben. Auch wenn die Zahl der EmpfängerInnen von Grundsicherung im Alter massiv ansteigt, beruhigen viele Experten: Bezogen auf die Gesamtbevölkerung läge die Armutsquote immer noch bei einem niedrigen Wert.
Die gesamten Rentenreformen der vergangenen Jahre hatten ein großes Ziel: Eine dritte Säule sollte immer stärker ausgebaut werden, damit die Deutschen zusätzlich privat vorsorgen. Das gesetzliche Rentenniveau wurde über die Jahre immer weiter abgesenkt. Immer mehr BürgerInnen ist es allerdings kaum möglich, mit ihrem niedrigen Einkommen privat vorzusorgen. So bringt eine wachsende Anzahl von privat Krankenversicherten über 65 Jahre nicht einmal mehr die Kosten für ihre Gesundheitsvorsorge auf. Sie rutschen in sogenannte Basis- oder sogar Notlagentarife, die nur noch für Akutbehandlungen aufkommen.
Arm sind mittlerweile immer mehr jene, die nicht in der Lage sind, Geld fürs Alter zurückzulegen. Auch die politisch gewünschte betriebliche Altersvorsorge scheitert für immer mehr Menschen an der Realität auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Viele Leute hangeln sich von einer befristeten Beschäftigung zur nächsten und kommen gar nicht erst in den Genuss einer betrieblichen Vorsorge.
Sozialverbände und Gewerkschaften sehen auch in der wachsenden Erwerbstätigkeit im Alter eine Konsequenz der desaströsen Rentenpolitik: Die aktuellen Zahlen von RentnerInnen mit Minijob sind ein klares Warnsignal, das die Rentenpolitik in die falsche Richtung läuft. Immer mehr Ältere müssen arbeiten, um ihren Lebensstandard zu sichern. Die neoliberalen Vordenker sehen darin bloße Panikmache. Die Leute haben eine deutlich höhere Lebenserwartung und wollten daher aus freien Stücken länger am Erwerbsleben teilhaben.
In der Rentendebatte wird mit Verweis auf die vermeintliche Teilhabe-Bereitschaft aktuell auch ein späterer Renteneintritt erörtert. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) ist für eine Koppelung der Lebensarbeitszeit an die steigende Lebenserwartung. Die Junge Union hält längerfristig eine Anhebung des Rentenalters auf 70 Jahre für angemessen. Gesetzlich geregelt ist die Anhebung der Altersgrenze vom 65. auf das 67. Lebensjahr bis 2029. Dass schon heute ein beträchtlicher Teil vor Eintritt in die Altersrente stirbt, wird bei dieser Diskussion ausgeblendet.
Zum Thema Altersarmut gehört, dass immer mehr RentnerInnen arbeiten gehen müssen, um ihre schmale Rente aufzubessern. Ende vergangenen Jahres hatten 943.000 SeniorInnen ab 65 Jahren eine geringfügige Beschäftigung. Die Zahl der RentnerInnen mit Minijob stieg seit 2010 um 22%, gegenüber 2003, als knapp 600.000 SeniorInnen einem Minijob nachgingen, sogar um 62%.
Einen besonders großen Zuwachs gibt es bei den RentnerInnen ab 75 Jahren. Ende vergangenen Jahres waren mit knapp 176.000 SeniorInnen dieser Altersgruppe mehr als doppelt so viele in einem sogenannten 450-Euro-Job beschäftigt als im Jahr 2005. Während in der Gesamtbevölkerung die Zahl der ausschließlich geringfügig Beschäftigten (Minijobs) seit 2005 rückläufig ist, verkehrt sich diese Entwicklung im Alter also ins Gegenteil. Die Quote der ausschließlich geringfügig Beschäftigten sinkt bei den 15 bis 64-Jährigen (2005: 8,0% auf 2014: 7,8%) und steigt aber bei den 65 und älteren von 4,4 auf 5,5% an.
Auch die Zahl der sozialversicherungspflichtig arbeitenden SeniorInnen hat deutlich zugenommen. Ende letzten Jahres waren 238.000 sozialversicherungspflichtige Lohnabhängige älter als 65 Jahre. Rechnet man die raus, die die Altersgrenze noch nicht erreicht haben, waren das immer noch 196.600 SeniorInnen. 2003 gingen erst 93.000 RentnerInnen noch einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach.
Was sind die Ursachen?
Durch die Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, durch die hohe Massenarbeitslosigkeit, aber auch durch stagnierende oder gar rückläufige Lohneinkommen sind viele Lohnabhängige nicht mehr in der Lage, ausreichende Rentenansprüche aufzubauen – weder in der Gesetzlichen Rentenversicherung noch in ergänzenden Systemen.
Das Sicherungsniveau der gesetzlichen Rente ist in den vergangenen 15 Jahren durch diverse »Reformen« (Beitragssenkungen und Rentenkürzungen; zuletzt Rente mit 67) beständig abgesenkt worden. Durch Sicherung der Lohneinkommen und Ausbau der Beteiligung der Unternehmen an der Finanzierung hätte die umlagefinanzierte Altersrente auch krisenfest gestaltet werden können.
Faktisch wurde mit der Präferenz für kapitalgedeckte Renten der Abschied vom Ziel der Lebensstandardsicherung eingeleitet, wie sie seit der Reform 1957 prägend für die Rentenpolitik war. Die Eingriffe in die Rentenformel hatten zur Folge, dass die Bestands- wie die Zugangsrenten in ihrer Höhe nicht mehr dem allgemeinen Einkommenstrend der aktiven Lohnabhängigen folgen, sondern einen zunehmend großen Abstand haben.
Die seit 2001 in die Rentenanpassungsformel eingefügten zusätzlichen Faktoren – insbesondere der Riester- und der Nachhaltigkeitsfaktor – führen dazu, dass die Rentenanpassung der Lohnentwicklung nur noch abgebremst folgt. Die Untergrenze dieser Abflachung ist per Gesetz (Niveausicherungsklausel) für das Jahr 2030 auf 43% beziffert.
Quelle: Sozialpolitik-aktuell.de
Eine Konsequenz aus wachsender Altersarmut ist die immer stärkere Inanspruchnahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.[1] Als bedarfsorientierte Sozialleistung für hilfsbedürftige Personen ist sie das letzte Netz der sozialen Sicherung in Deutschland für ältere Menschen und Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten können. Eine ausreichende gesellschaftliche Teilhabe ist damit nicht gewährleistet, da in der Regelsatzberechnung wie bei den Hartz IV-Leistungen viele Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden.
Seit ihrer Einführung im Jahr 2003 ist die Zahl der Menschen, die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erhalten, kontinuierlich angestiegen. 2015 zählten 1.038.008 Personen zu den EmpfängerInnen. Gegenüber 2003 entspricht dies einem Anstieg um 238%. Allein im Jahr 2015 belief sich der Zuwachs gegenüber 2012 3,5%. Es handelt sich dabei gut zur Hälfte um ältere Menschen, 48,6% sind dauerhaft Erwerbsgeminderte im Alter zwischen 18 Jahren und der Regelaltersgrenze. Der Anteil der Erwerbsgeminderten an allen Leistungsempfängern hat sich seit 2003 schrittweise erhöht.
Die gesellschaftlichen Kosten von Erwerbsminderungs- und Altersarmut sind enorm. 2014 mussten dafür 5,8 Mrd. Euro aufgebracht werden. Das waren 400 Mio. Euro mehr als in 2013 und 2,7 Mrd. Euro mehr als noch 2006. Und es ist keine gewagte Prognose, dass die Ausgaben für diese Mindestsicherungsleistung in den nächsten Jahren weiter sprunghaft zunehmen werden.
Bei knapp vier Fünftel der GrundsicherungsempfängerInnen im Alter wird eigenes Einkommen angerechnet. Zumeist ist das eine nicht ausreichende Altersrente. Und immer mehr RentnerInnen sind seit 2003 unter die Bedürftigkeitsschwelle gerutscht. Denn die Anzahl der GrundsicherungsempfängerInnen, bei denen eine Altersrente angerechnet wird, ist seit 2003 um 71,7% gestiegen.
Bezieht man die GrundsicherungsempfängerInnen auf die jeweilige Gesamtbevölkerung zeigt sich, dass die Grundsicherungsquote mit 3,0% (Regelaltersgrenze und älter) und 0,8% (18 Jahre bis unter der Regelaltersgrenze) zwar noch recht niedrig liegt, allerdings kontinuierlich steigt. Dafür verantwortlich sind in erster Linie die Leistungsverschlechterungen im Bereich der Gesetzlichen Rentenversicherung.
Vor allem die Absenkung des Rentenniveaus, die Anrechnung von Abschlägen bei einem vorzeitigen Rentenbezug sowie die unzureichende Absicherung in Phasen der Arbeitslosigkeit haben dazu beigetragen, dass seit der Jahrtausendwende die durchschnittlichen Zahlbeträge bei den neu zugehenden Altersrenten nur schwach angestiegen und bei den neu zugehenden Erwerbsminderungsrenten sogar gesunken sind. Zugleich haben sich die Bedarfssätze der Grundsicherung erhöht, so dass es zu einer zunehmenden Überschneidung von Renten und Grundsicherungsniveau kommt.
Quelle: Sozialpolitik-aktuell.de
Diese Überschneidung wird sich durch die vorgesehene weitere Absenkung des Rentenniveaus ausweiten. Niedrigverdiener werden selbst bei langjähriger Beitragszahlung keine Rente mehr erhalten, die oberhalb des Grundsicherungsbedarfs liegt.
Da bei der Bedürftigkeitsprüfung, die mit der Grundsicherung verbunden ist, alle Einkommen im Haushalt angerechnet werden, führt dies jedoch nicht automatisch dazu, dass auch eine Anspruchsberechtigung besteht. Aber die Legitimation der Gesetzlichen Rentenversicherung wird in Frage gestellt, wenn die Rente nach einem langen Arbeits- und Versicherungsleben noch nicht einmal das Niveau der vorleistungsunabhängigen Grundsicherung erreicht.
Die Quote der GrundsicherungsbezieherInnen unterzeichnet dabei noch das Niveau der Altersarmut in Deutschland. Nimmt man nämlich für die Alterseinkünfte den Median des Äuvialenzeinkommens der Bevölkerung in Privathaushalten als Bezugspunkt zeigt sich, dass in 2014 15,6% der RentnerInnen mit weniger als 60% des Medians leben müssen, also arm sind. Die sogenannte Armutsfährdungsschwelle betrug 2014 für einen Einpersonenhaushalt 917 Euro und für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren 1.926 Euro.
Lange Zeit lag die sogenannte Armutsgefährdungsquote für RentnerInnen unter dem Durchschnitt. 2005 betrug der Abstand noch 4%. Durch die anhaltende Senkung des Rentenniveaus liegt die Armut von RentnerInnen in 2014 mit 15,6% bereits leicht über dem Gesamtdurchschnitt von 15,4%. Daran haben auch Mütterrente und Rente mit 63 Jahren für langjährig Versicherte kaum etwas geändert.
Und die Tendenz zur wachsenden Altersarmut wird ohne Politikwechsel weiter anhalten. Es geht um mehr als kosmetische Korrekturen, um das Rentenniveau wieder zu erhöhen und die Grundsicherungsleistungen schrittweise auf ein armutsfestes Niveau anzuheben.
So fordert der Sozialverband VdK u.a.:
- Das Rentenniveau muss bei 50%, mindestens aber auf heutigem Niveau stabilisiert werden. Es darf nicht weiter absinken. Die Renten müssen wieder parallel zu Löhnen und Gehältern angehoben werden. Dafür müssen die Dämpfungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel abgeschafft werden.
- Zur Vermeidung von Altersarmut innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung müssen gezielt die Elemente des sozialen Ausgleichs, wie Rente nach Mindesteinkommen, Bewertung von Zeiten der Arbeitslosigkeit und Anrechnung von Zeiten der Kindererziehung und Pflege von Familienangehörigen, überprüft, modifiziert und ausgebaut werden. Notwendig ist insbesondere die volle rentenrechtliche Anerkennung von 3 Jahren Kindererziehungszeit auch für vor 1992 geborene Kinder. Die Finanzierung dieser Leistungen muss aus Steuermitteln erfolgen, da es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt.
- Wegen der Heraufsetzung der Regelaltersgrenze auf 67 müssen für diejenigen Menschen Regelungen geschaffen werden, die aus gesundheitlichen oder behinderungsbedingten Gründen nicht bis 67 arbeiten können.
- Die Erwerbsminderungsrenten müssen angehoben werden, damit Krankheit nicht zur Armutsfalle wird. Die Abschläge von bis zu 10,8 Prozent müssen abgeschafft werden, auch für Bestandsrentner.
- Die gesetzliche Rentenversicherung muss langfristig zu einer Erwerbstätigenversicherung ausgebaut werden. Das erfordert, alle Selbstständigen und Beamte in die Versicherungspflicht einzubeziehen. So wird die Einnahmesituation der Rentenversicherung verbessert, und die Pensionslasten werden verringert.
Die Umsetzung dieser Forderungen wird allerdings nur im Rahmen eines Gesamtkonzepts für eine alternative Wirtschafts- und Sozialpolitik zu haben sein.
[1] Auf die »Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung« (seit 2003 gesetzlich geregelt im SGB XII) haben Personen ab Erreichen der Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung sowie Volljährige, die dauerhaft voll erwerbsgemindert sind, einen Anspruch. Bedürftigkeit liegt dann vor, wenn eigenes Einkommen und Vermögen sowie Einkommen und Vermögen des (Ehe)Partners nicht zur Bedarfsdeckung ausreichen. Wer also im Alter keine ausreichend hohe Rente hat und wem auch keine anderen Einkommen im Kontext des Haushaltes zur Verfügung stehen, hat Anspruch auf eine Aufstockung der Rente bis auf das Niveau des Grundsicherungsbedarfs.