13. Januar 2022 Björn Radke: Deutschland vor gigantischer Anstrengung
Höheres Tempo beim Klimaschutz?
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck will das Tempo zur Minderung klimaschädlicher Emissionen nahezu verdreifachen. »Wir müssen dreimal besser sein in allen Bereichen«, sagte der Politiker von Bündnis 90/Die Grünen.
In der Abschlusserklärung des 26. Treffens der Uno-Klima-Konferenz COP26 mit fast 200 Staaten und über 30.000 Teilnehmer*innen haben alle beteiligten Delegationen anerkannt, dass die Folgen des Klimawandels bei einem Temperaturanstieg von 1,5 Grad wesentlich geringer sind als bei 2,0 Grad. Zu diesem Konsens gehört weiter, die »Bemühungen zur Begrenzung des Temperaturanstiegs auf 1,5 Grad fortzusetzen«. Das Ziel ist ehrgeizig. Bis 2030 wäre für das Erreichen der 1,5-Grad-Grenze die Senkung der Emissionen um 45% notwendig. Gleichwohl: Das 2015 in Paris gesetzte Ziel ist erstmals weithin anerkannt und bleibt damit internationale Leitlinie für politisches Handeln.
Laut Koalitionsvertrag der Ampel soll die Klimaneutralität mit konkret eingeleiteten Maßnahmen bis 2045 erreicht, und Deutschland damit zugleich als führenden Industriestandort modernisiert werden. Der wegen des Umstiegs auf E-Autos und klimafreundlicherer elektrifizierter Industrieprozesse erwartete höhere Bruttostrombedarf soll im Jahr 2030 zu 80% aus erneuerbaren Energien gedeckt werden.
Nur acht Wochen nach Regierungsbildung legt das personell und inhaltlich neu ausgerichtete Wirtschafts- und Energieministerium einen erste »Eröffnungsbilanz Klimaschutz« vor. Schon Tage zuvor hatte Robert Habeck die Zeichen gesetzt. Mit Blick auf die Weltklimakonferenz in Glasgow sagte er, dass das 1,5 Grad-Ziel (Begrenzung des Temperaturanstiegs bis 2100) theoretisch noch erreicht werden könnte. »Mit jedem Tag, mit jedem Monat, der verstreicht, wird es aber zunehmend unrealistischer.«
Ähnlich sei die Situation in Deutschland, die letzten zehn Jahre rächten sich bitter. »Die nächste Bundesregierung wird die Aufgabe haben, aus einem enormen Rückstand wieder nach vorne zu kommen. Das ist eine Herkulesaufgabe.« Habeck fügte hinzu, er rechne damit, dass der durch die Klimapolitik der neuen Bundesregierung bedingte Strukturwandel zu Frustration in der Bevölkerung führen werde. Zwar entstünden neue Arbeitsplätze, zugleich aber fielen alte Stellen etwa im Kohlebergbau weg. Das könne individuell oder auch für ganze Regionen eine bittere Nachricht bedeuten.
Zugleich veröffentlichte der Thinktank »Agora Energiewende«, dessen ehemaliger Chef jetzt Staatssekretär im Wirtschafts- und Energieministerium ist, eine Studie »Die Energiewende in Deutschland: Stand der Dinge 2021«. Zentrale Aussage: In diesem Jahr müsse die neue Bundesregierung das im Koalitionsvertrag angekündigte Klimaschutz-Sofortprogramm anschieben. Mit der Vollendung des Atomausstiegs 2022 und dem laufenden Kohleausstieg, müsse das Sofortprogramm eine neue Dynamik für das Erreichen der 2030-Klimaziele schaffen. »2022 muss das Jahr der Klimamaßnahmen werden, wenn die Bundesregierung es mit dem Bekenntnis zum 1,5-Grad-Ziel ernst meint.«
Entsprechend der Analysen von Agora spricht der Wirtschaftsminister von einem »drastischen Rückstand« Wenn es so weitergehe wie bisher, werde Deutschland Ende des Jahrzehnts seine klimaschädlichen Treibhausgase lediglich um 50% anstelle der angestrebten 65% gegenüber 1990 reduziert haben. »Das ist dann in Zahlen ausgedrückt 200 Millionen Tonnen zu viel.« Habeck kritisierte zugleich sehr deutlich die schwarz-rote Vorgängerregierung. »Wir starten nicht auf der Ziellinie, sondern mit einem erheblichen Rückstand«, sagte er. In den vergangenen zehn Jahren seien die CO2-Emissionen im Durchschnitt jährlich um 15 Mio. Tonnen gesunken. Von nun an müssten sie aber bis 2030 um 36 bis 41 Mio. Tonnen pro Jahr sinken.
Deutschland müsse die Geschwindigkeit bei der Emissionsminderung verdreifachen, wenn man wie geplant bis 2045 klimaneutral werden und bis 2030 den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung auf 80% erhöhen wolle. Der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung lag im vergangenen Jahr laut Bundesnetzagentur bei 42,8% nach 48,0% im Jahr 2020. Die Bundesregierung will den Anteil bis 2030 auf 80% nahezu verdoppeln.
Die CO2-Emissionen seien 2021 wieder gestiegen, der Ausbau der Windenergie an Land und auf See ist auf dem niedrigsten Stand der vergangenen zehn Jahre, die Fertigstellung der Stromnetze verzögere sich erneut um weitere Jahre, der Strombedarf für 2030 sei systematisch unterschätzt worden. Daher habe »absolute Priorität«, die Erneuerbaren Energien drastisch beschleunigt auszubauen und die Hemmnisse und Hürden aus dem Weg zu räumen. Um hier voranzukommen, soll beispielsweise das Ziel von 2% der Landesflächen für die Windenergie an Land gesetzlich verankert werden.
Im April soll vom Bundeskabinett ein erstes Klimasofort-Paket verabschiedet werden, u.a. mit einer Reform des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes (EEG) mit dem Wegfall der Umlage zur Förderung des Ökostromausbaus ab 2023. Außerdem soll ein Solarbeschleunigungspaket kommen. Für den Sommer ist dann ein zweites Klimasofort-Paket angekündigt.
Bei der Windenergie sollen kurzfristige Flächenpotenziale für Wind an Land erschlossen werden und der Ausbauprozess mit einem Wind-an-Land-Gesetz beschleunigt werden. Die Fläche soll von 0,5% auf 2% vervierfacht werden. Habeck sprach dabei von einem »mühsamen Prozess«, um in den nächsten Monaten die Bundesländer zu überzeugen, mehr Flächen für den Ausbau von Windkraft zur Verfügung zu stellen. 2% der Landesfläche seien dafür nötig. Nur Hessen und Schleswig-Holstein würden in der Nähe des angepeilten Ziels liegen. Dieser Prozess dürfe aber nicht zu einer Verzögerung führen. Das 2%-Ziel will Habeck gesetzlich verankern.
Vorgesehen ist zudem ein Solarbeschleunigungspaket. Dazu zählen neben den verpflichtenden Solardächern bei Neubauten eine Verbesserung beim Mieterstrom, die Anhebung der Ausschreibungsschwellen und eine Öffnung der Flächenkulisse für Freiflächenanlagen unter Beachtung von Naturschutzkriterien.
Außerdem sollen mit der Industrie Klimaschutzverträge geschlossen werden. Diese Bereitstellung der sogenannten Carbon Contracts for Difference soll die Industrie bei ihrem Umbau hin zur Klimaneutralität unterstützen. Die Regierung hofft, dass sich die Wirtschaftlichkeit klimaneutraler Produktionsverfahren dank dieses Instruments früher einstellen und die Kosten für Unternehmen planbarer werden.
Außerdem plant die Bundesregierung eine Wärmestrategie, um die Energieeffizienz in Gebäuden zu steigern. Die Produktion von grünem Wasserstoff soll bis 2030 von fünf auf 10 Gigawatt verdoppelt, und weitere Förderprogramme sollen vorgestellt werden. Im Gebäudebereich soll Energie eingespart werden. Die Regierung plant ein Gebäudeenergiegesetz, um etwa festzulegen, dass ab 2025 jede neu eingebaute Heizung auf der Basis von mindestens 65% erneuerbarer Energien betrieben werden muss.
Nebenbei sprach Robert Habeck aber auch über Hartz IV, den Mindestlohn und das Wohngeld. Angesichts der Explosion bei den Energiepreisen seien Menschen mit einem »nicht so opulenten Einkommen hart getroffen« von der Inflation bei Heiz- und Stromkosten. Daher werde es einen höheren Mindestlohn geben: »Es wird höhere Sätze im Wohngeld und bei Hartz IV geben, die den Kostenhochlauf dann ein Stück weit kompensieren können.«
Inwieweit diese Ankündigungen tatsächlich auch realisiert werden, muss angesichts der gesellschaftlichen Konstellation sehr zurückhaltend betrachtet werden. Auffällig ist, dass Robert Habeck auf einen neuen Tonfall setzt. Es geht ihm nicht nur um die technische Umsetzung eines Klimaschutzprogramms, sondern um den Einstieg in eine große gesellschaftliche Veränderung mit Mentalitätswechsel: »Wir schaffen es nur, wenn alle mitziehen: Naturschutz- und Umweltverbände, Kommunen, Politiker*innen, Länder und Bund.« Das wird nur möglich sein, wenn im Wissen um die vorhandenen Widerstände eine große Mobilisierung in die Gesellschaft hinein gelingt.
Kritik am Vorschlag von Habeck gab es von der Deutschen Umwelthilfe: Das »vorgelegte Maßnahmenpaket enthält einige dringend notwendige Maßnahmen wie die Anhebung der Ausbauziele für die Erneuerbaren Energien und die Solardachpflicht für Neubauten. Ohne konsequenten Ausbau der Erneuerbaren bleibt auch die Umstellung der energieintensiven Industrie auf grünen Wasserstoff ein frommer Wunsch. Konkrete Maßnahmen vor allem für die Bereiche Verkehr, Kreislaufwirtschaft und Landwirtschaft fehlen.«
Den Klimaaktivisten von Fridays for Future gehen die vom grünen Wirtschaftsminister vorgestellten Pläne zum Erreichen der Klimaschutzziele in Deutschland nicht weit genug. »Die Lücke zwischen den Versprechen im Klimaschutz und den tatsächlichen Emissionen war nie größer als heute«, sagte Aktivistin Carla Reemtsma. »Statt nun konsequent umzusteuern, entscheidet sich die Ampel weiter gegen jede einzelne Maßnahme, die den Ausstoß schnell senken würde.« Angesichts der jahrelangen Verfehlungen sei eine sofortige Kehrtwende im Klimaschutz unumgänglich, forderte Reemtsma. »Stattdessen ignoriert die Bundesregierung den Verkehrssektor, hält an fossilem Gas fest und lässt den viel zu niedrigen CO2-Preis unangetastet. Als Reaktion auf das Versagen der großen Koalition nur in einem Sektor Maßnahmen zur Einhaltung der eigenen unzureichenden Klimaziele umzusetzen, ist ein Bruch der Versprechen mit Ansage.«
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) erteilt den Forderungen von Habeck, 2% der Landesfläche für den Windkraftausbau zur Verfügung zu stellen, eine Absage. »In Bayern eignen sich weniger Flächen für Windkraft, sodass dann in wenigen Gebieten sehr viele Windräder geballt stehen müssten – mit allen Akzeptanzproblemen, die das in der Bevölkerung auslöst«, sagte Söder. Er sehe den Vorstoß des Wirtschafts- und Klimaministers daher skeptisch. »Auch gerade bei den Natur- und Artenschützern vor Ort gibt es starke Bedenken. Offenkundig scheinen die Grünen dem Artenschutz keine besondere Bedeutung mehr zu geben«, stichelte er CSU-Chef.
Die gesetzten Ziele sind anspruchsvoll und ein Scheitern würde die Gesellschaft nicht nur klimapolitisch zurückwerfen. Die Widerstände aus Bayern, aber auch die Kritik von Umweltverbänden, Fridays for Future und Gemeinden, können nur ausgeräumt werden, wenn die rationale Begründung der Klimawende von einer Intensivierung der Kampagne gegen den Klimawandel begleitet wird. Nur so kann es gelingen, große Teile der Bevölkerung mitzunehmen.