24. Februar 2022 Joachim Bischoff/Björn Radke
Imperialer Furor des Putinismus
Der russische Präsident Wladimir Putin hat den Beginn einer »Spezialoperation im Donbass« angekündigt. Das war zugleich eine Kriegserklärung an die Ukraine. Die damit eröffnete militärische Intervention der russischen Streitkräfte richtet sich primär auf Ziele außerhalb des Donbass.
Das heißt, es geht nicht mehr um eine militärische Unterstützung der Tage zuvor anerkannten »Selbständigen Volksrepubliken Luhansk und Dombas«. Die Angriffe erfolgen vor allem auf militärische Einrichtungen, Flughäfen und Kommandozentren der ukrainischen Armee. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rief daraufhin den Kriegszustand aus.
In der faktischen Kriegerklärung attackierte Putin auch die USA, die NATO und den »westlichen Block«. Es handele sich um ein »Imperium der Lügen«. Seit dem Ende der Sowjetunion habe Moskau versucht, die Ausdehnung der NATO zu verhindern. Aber Russland sei systematisch betrogen und erpresst worden. Den Militäreinsatz bezeichnete er als Selbstverteidigung. Eine andere Möglichkeit habe es für Russland nicht gegeben.
Eine Okkupation der Ukraine sei nicht das Ziel der Militäroperation. Russland stehe ein für die Souveränität und freie Wahl des Schicksals für die ganze Bevölkerung der Ukraine – wie bereits im Jahr 2014, bei der »Verteidigung der Krim«. In erster Linie diene die Operation der Verteidigung der Bevölkerung im Donbass, die einem Genozid ausgesetzt sei. Auch sollten alle zur Rechenschaft gezogen werden, die Verbrechen begangen hätten, unter anderem gegen russische Bürger*innen.
Im Zentrum von Putins Versuch der Legitimation des Angriffskrieges steht, dass der Westen unter amerikanischer Führung Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion in selbstherrlicher Manier zu unterdrücken und seine Schwäche auszunutzen versucht habe. Die NATO-Erweiterung nahm darin einen großen Raum ein. Mit der immer schnelleren Einverleibung der Ukraine, »unserer historischer Territorien«, bedrohe der Westen direkt Russlands Sicherheit. Damit habe er die »rote Linie« überschritten, vor der er, Putin, immer gewarnt habe.
Hier wird wiederum deutlich, worauf der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und Luftwaffengeneral a.D. Harald Kujat und andere Militärs in jüngster Zeit hingewiesen hatten:[1] Seit Frühjahr 2015 hat sich in der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen fast nichts bewegt, und die ukrainische Führung die für den angestrebten Friedensprozess unverzichtbare Autonomie der Provinzen von Donbass und Luhansk verschleppt. Nicht einmal eine dauerhafte Waffenruhe konnte erreicht werden.
Diese Krise der ostukrainischen Regionen war gleichzeitig ein Katalysator für ein wesentlich weiterreichendes Ziel: Die Neugestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur unter Berücksichtigung der russischen Konditionen. Am 27. Mai 1997 trat die NATO-Russland-Grundakte in Kraft trat. Ungeachtet der dadurch eingeleiteten politischen Abstimmung und militärischen Zusammenarbeit zwischen der NATO und Russland hat die Grundakte aus russischer Sicht nichts zur Wahrung russischer Sicherheitsinteressen beigetragen.
Vielmehr sei die Sicherheitslage u.a. durch die NATO-Erweiterung und die verstärkte Präsenz der Vereinigten Staaten in Osteuropa zum Nachteil Russlands verändert worden. Die USA haben wichtige Rüstungskontrollverträge gekündigt, und die NATO hat ein System zur Abwehr ballistischer Raketen installiert, das Russland als Bedrohung des nuklearstrategischen Gleichgewichts mit den Vereinigten Staaten betrachtet. Diese geostrategischen Nachteile, diese Risiken für Russlands Sicherheit sollen nun behoben, und einer weiteren Entwicklung zu seinen Lasten ein Riegel vorgeschoben werden.
Das Minsker Abkommen von 2015 ist der Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung der Ukraine-Krise bis zum Angriffskrieg. Die durch Vermittlung der damaligen deutschen Bundeskanzlerin, Angela Merkel, und des französischen Präsidenten, François Hollande (Normandie-Format), erreichte Vereinbarung stellte Russland zufrieden, weil es eine dezentralisierte Ukraine mit Sprachrechten für Russischsprachige in Aussicht stellte.
Allerdings führte die Blockade des Abkommens zu einem Stellungskrieg von sieben Jahren mit ca. 14.000 Toten. Da keine Fortschritte bei der Umsetzung der Vereinbarung erzielt wurden, verharrte die Ukraine in einem Zustand des eingefrorenen Konflikts. Durch die finanzielle Unterstützung der Ukraine durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Westmächte wurde dieser Konflikt nicht verhindert. Ca. 15 Mrd. US-Dollar Finanz- und Kredithilfen hielten den »failed state Ukraine« über Wasser.
Von der Aufkündigung des Minsker Abkommens zum Angriffskrieg
Der russische Präsident Putin hat wenige Tage vor dem jetzigen Angriffskrieg in einer Grundsatzrede versucht, die russische Position zu erklären und in diesem Zusammenhang mit der Aufkündigung des Minsker Abkommens die Republiken in Donezk und Lugansk als selbstständige Staaten anerkannt. Russlands Geduld sei am Ende, und es gäbe nur zwei Möglichkeiten: entweder echte Gespräche unter ehrlicher Berücksichtigung der russischen Sicherheitsinteressen, oder eine russische Reaktion, die auf eine militärische Operation hinauslaufe.
Die Lage im Donbass sei erneut kritisch. Putin betonte, »dass die Ukraine für uns nicht nur ein Nachbarland ist. Sie ist ein integraler Bestandteil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unseres spirituellen Raums. Das sind unsere Freunde, unsere Verwandten, nicht nur Kollegen, Freunde und ehemalige Arbeitskollegen, sondern auch unsere Verwandten und engen Familienmitglieder.« Sein sich anschließender Schnelldurchgang durch die Geschichte bietet reichlich Stoff für eine kritischen Kontroverse.
Putins These zum Zusammenbruch der Sowjetunion und des angehängten Imperiums lautet: Mitte der 1980er Jahre verschärfte sich vor dem Hintergrund wachsender sozioökonomischer Probleme und einer offensichtlichen Krise der Planwirtschaft die nationale Frage und in erster Linie der wachsende Appetit der lokalen Eliten auf den gesellschaftlichen Reichtum. Der sich entfaltende Machtkampf in der Kommunistischen Partei konnte weder den Zerfall noch die Aneignung durch die lokalen Eliten stoppen. »Trotz all dieser Ungerechtigkeiten, des Betrugs und des offenen Ausraubens Russlands hat unser Volk die neuen geopolitischen Realitäten anerkannt, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR entstanden sind, hat die neuen unabhängigen Staaten anerkannt.«
Diese Analyse Putins vom Zerfall der Sowjetunion und der GUS endet in einer grotesken Pointe: Der autoritäre Diktator einer abgehobenen politischen Klasse von Oligarchen und Plutokraten, kritisiert die Bereicherungs- und Plünderungsaktionen der ukrainischen Elite. »Der Sinn der sogenannten pro-westlichen zivilisatorischen Entscheidung der ukrainischen Oligarchen war und ist nicht, bessere Bedingungen für das Wohlergehen des Volkes zu schaffen, sondern den geopolitischen Rivalen Russlands unterwürfig zu dienen, um Milliarden von Dollar, die den Ukrainern gestohlen und von den Oligarchen auf westlichen Bankkonten gebunkert wurden, zu retten.«
In der Ukraine gebe es »immer noch keine dauerhafte Staatlichkeit und die politischen Wahlverfahren dienen nur als Deckmantel, als Projektionsfläche für die Umverteilung von Macht und Eigentum zwischen verschiedenen Oligarchenclans. Die Korruption, die zweifellos für viele Länder, auch für Russland, eine Herausforderung und ein Problem darstellt, hat in der Ukraine einen besonderen Charakter angenommen. Sie hat die ukrainische Staatlichkeit, das gesamte System, alle Zweige der Macht buchstäblich imprägniert und korrodiert.«
Die Schlussfolgerung dieser bemerkenswerten Polemik eines politischen Autokraten, der selbst der Kritik einer schrankenlosen Ausplünderung des Reichtums der russischen Ökonomie ausgesetzt ist: Russland sei berechtigt diese Herrschaft der ukrainischen Oligarchen und die fortgesetzte Bedrohung Russlands zu beenden: »Ich möchte klar und deutlich sagen, dass Russland in der gegenwärtigen Situation, in der unsere Vorschläge für einen gleichberechtigten Dialog über grundsätzliche Fragen von den Vereinigten Staaten und der NATO praktisch unbeantwortet geblieben sind, in der das Ausmaß der Bedrohungen für unser Land erheblich zunimmt, jedes Recht hat, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um seine eigene Sicherheit zu gewährleisten. Genau das werden wir tun.« Daher – so Putin – die längst überfällige Entscheidung: Aufkündigung des Minsker Abkommens und die unverzügliche Anerkennung der Unabhängigkeit und Souveränität der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk.
Mit dem Großangriff gegen die Ukraine geht Putin bewusst das Risiko einer Ausweitung in einen europäischen Krieg ein. Die Entfesselung der russischen Militärmaschine gegen die Ukraine ist ein Verstoß gegen alle Regeln, mit denen die Welt nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs versucht hat, eine Friedensordnung und eine zivile Konfliktlösung zwischen den Staaten zu etablieren. Russland sieht sich herausgefordert durch den langjährigen Stellungskrieg im Donbass und die militärpolitische Einkreisung Russlands; gleichwohl gibt es nicht die geringste Rechtfertigung dafür, diese Anliegen mit einem Überfall auf einen Nachbarn gewaltsam durchzusetzen.
Putins Vorgehen zeigt zugleich eine kühle Logik. Offensichtlich hat er jede Hoffnung verloren, über Verhandlungen und begrenzte Militäreinsätze wie auf der Krim und im Donbass eine geopolitische Aufwertung von Russland durchzusetzen. Das Gerede von einer »Selbstverteidigung Russlands« ist kompletter Unfug. Eine kriegerische Bedrohung ging von der Ukraine nicht aus. Weder verfügt das Land über die militärischen Mittel dazu noch konnte es auf absehbare Zeit mit der Aufnahme in die NATO rechnen noch hat das westliche Verteidigungsbündnis je Angriffswaffen an den Grenzen Russlands aufgestellt oder über entsprechende Pläne diskutiert.
Die Invasion von verschiedenen Seiten gleichzeitig, begleitet von Luftangriffen auf die größten Städte des Landes, zeigt den Willen, das Nachbarland zu demoralisieren und die Machtverhältnisse in Kiew umzukrempeln. Putin nennt dies in seiner Rhetorik die »Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine«. Auch wenn er behauptet, keine Okkupation anzustreben, werden russische Truppen längere Zeit in der Ukraine bleiben müssen, um solche Ziele zu erreichen. Damit geht Putin ein sehr hohes Risiko ein. Selbst wenn es den russischen Streitkräften gelingt, der ukrainischen Armee rasch verheerende Verluste zuzufügen, gibt es keine realistische Perspektive, das Land mit Gewalt zu befrieden.
Sanktionen
Europas Sicherheit ist durch den russischen Angriff insgesamt gefährdet. Die USA und die NATO-Allianz reagieren mit weiteren Sanktionen. Der EU-Außenbeauftragte, Josep Borrell, kündigt die weitestreichenden Sanktionen an, die die Staatengemeinschaft je beschlossen hat. Er sprach von »einer der dunkelsten Stunden Europas seit dem Zweiten Weltkrieg«. Die russische Führung werde einer nie da gewesenen Isolation gegenüberstehen. Laut EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sollen die neuen Sanktionen den Zugang russischer Banken zu den europäischen Finanzmärkten stoppen. Zudem sollen russische Vermögenswerte in der EU eingefroren werden, und wichtigen Sektoren der russischen Wirtschaft soll der Zugang zu Schlüsseltechnologien und Märkten verwehrt werden.
Die schärfste Sanktion wäre zweifellos ein Ausschluss aus dem Swift-System. Swift ist ein Finanznetzwerk, das den Banken weltweit grenzüberschreitende Finanztransaktionen ermöglicht. Das System unterstützt die meisten Interbank-Meldungen, und verbindet über 11.000 Finanzinstitute aus mehr als 200 Ländern. Sollte Russland aus dem Swift ausgeschlossen werden, wäre seine Wirtschaft eine Zeitlang mit erheblichen Störungen konfrontiert, vor allem im grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr. Die russische Wirtschaft dürfte schrumpfen und der Rubel auf kurze Sicht deutlich an Wert verlieren. Da Russlands wichtigste Exportgüter wie Erdöl und Erdgas jedoch für den Lebensunterhalt Europas von entscheidender Bedeutung sind, werden beide Seiten versuchen, schnell eine Ersatzlösung zu finden.
Russland ist ein autoritär regiertes System mit einem starken Gewicht von kleptokratischen Oligarchen. Das Land ist seit der Annektion der Krim bereits einem Sanktionsregime unterworfen. Putin und der regierenden Machtclique ist es trotz dieser Sanktionen gelungen, das System eines »crowny capitalism« zu stabilisieren, dies wurde mit einer konservativen Finanz- und Geldpolitik erreicht. Gegenwärtig ist der russische öffentliche Haushalt trotz hoher Aufwendungen für Rüstungen und einen repressiven Staatsapparat bei einem Ölpreis von ca. 50 US-Dollar ausgeglichen, was außerdem die Anhäufung beträchtlicher Reserven ermöglicht hat.
Russland ist faktisch ein Petrostaat, der einen großen Anteil an den globalen Energiemärkten hat. Umfassende Sanktionen gegen russische Energielieferungen – wie jetzt durch die Sperrung der Ostsee Gaspipeline 2 – werden die globalen Energiemärkte erheblich destabilisieren. Allerdings hat die politische Klasse auf Basis der Erlöse aus fossilen Brennstoffen dem Großteil der Bevölkerung Stabilität und einen akzeptablen Lebensstandard sichern können. Nach Angaben der russischen Zentralbank stieg die nominale Auslandsverschuldung von Banken und Nicht-Finanzunternehmen (Auslandsverschuldung von Unternehmen) im zweiten Quartal 2021 um sechs Mrd. US-Dollar auf 394 Mrd. US-Dollar (ca. 25% des BIP), was problemlos durch die Devisenreserven gedeckt ist.
Dieses starke finanzielle Gleichgewicht bedeutet, dass für Putins Russland keine starke Anfälligkeit für eine finanzielle und politische Krise durch Sanktionen kurz- und mittelfristig erleben wird. Ein Ausschluss Russlands aus Swift würde sowohl Russland wie China in ihren Bestrebungen nach Unabhängigkeit vom US-Dollar deutlich bestärken. Die bereits verfolgten Alternativen zu Swift erhielten einen gewaltigen Schub. Ihre Etablierung würde beschleunigt.
Swift ist ein starkes Machtmittel der USA, wahrscheinlich aber nur noch auf Zeit. Ein Ausschluss Russlands würde diese Zeit verkürzen mit letztlich geoökonomischen und geopolitischen Konsequenzen. Würden die USA und die EU sowie Großbritannien schlagartig tatsächlich das ganzes Register von Sanktionsmöglichkeiten gegen russische Banken, Unternehmen und letztlich auch Konsumenten ziehen, hätte dies einschneidende Kosten nicht nur für Russland, sondern auch für westliche Ökonomie zur Folge.
Die halbherzige Politik Amerikas und Europas gegenüber Putin ist gescheitert. Angesichts der Gefahr aus Russland für den ganzen Kontinent ist jetzt eine gründliche Neuanlage der Politik gefordert. Der Westen hat die Entwicklung seit der Verschleppung des Minsker Abkommen einfach laufen lassen. Ein direktes militärisches Vorgehen der NATO in der Ukraine ist wohl ausgeschlossen. Der volle Einsatz des Arsenals an Wirtschaftssanktionen gegen Russland läuft wie im Falle des Iran auf einen langfristigen Wirtschaftskrieg hinaus. Bislang setzten sich in Westeuropa und USA in einer solchen Logik die wirtschaftlichen Eigeninteressen durch. Eine langfristig angelegte Politik des Westens dürfte nicht aus dem Hut zu zaubern sein.
Anmerkung
[1] Sie dazu ausführlicher Joachim Bischoff/Friedrich Steinfeld: Droht ein neuer Krieg? Sozialismus.deAktuell vpm 4.2.2022.