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376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

2. April 2023 Friedrich Steinfeld: Weitere Krise von Staatlichkeit im Nahen Osten

Israel vor einem Bürgerkrieg?

Während sich die westlichen Staaten in Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine als »liberale Demokratien« im globalen Kampf gegen autoritäre und aggressive Regime wähnen, wird Israel – die »einzige Demokratie im Nahen Osten« – von einem massiven innenpolitischen Erdbeben erschüttert, das die extremistische Regierung unter Netanjahu ausgelöst hat.


Massenproteste und Generalstreik gegen den Netanjahus Justizputschh

Aufgrund der Ergebnisse der israelischen Parlamentswahlen[1] im November 2022 – der fünften innerhalb von 3½ Jahren – konnte Benjamin Netanjahu und die von ihm angeführte rechts-nationale Likud-Partei nur an die Regierungsmacht in Israel zurückkehren, indem sie mit fünf extrem religiösen und extrem nationalistischen Parteien eine rechtsextreme Regierungskoalition bildeten.

Neben einer noch härteren Gangart gegenüber den Palästinenser*innen in den von Israel besetzten Gebieten strebt diese Regierung innenpolitisch eine grundlegende Veränderung im Verhältnis der Gewalten an, in deren Zentrum die Justizreform steht. Die geplante Reform würde die Befugnisse des Parlaments massiv ausweiten. Mit Mehrheit könnte die Knesset, das israelische Parlament, künftig Entscheidungen des obersten Gerichts kassieren. Und mit der Vorlage zur Veränderung der Zusammensetzung des Richterwahlausschusses hätte die Regierung die vollständige Kontrolle über den Nominierungsprozess für die Richter am Höchsten Gericht und an allen anderen Gerichten. Die Koalition würde damit Exekutive, Legislative und Justiz beherrschen. Damit wäre die »einzige Demokratie im Nahen Osten« keine mehr.

Gegen diesen Putsch der Regierung gehen Hunderttausende Israeli seit Wochen auf die Straße. Sie blockieren Autobahnen und Flughäfen, Streiks legten große Teile des Landes lahm. Israel erlebt zurzeit einen politischen Ausnahmezustand. Auch viele Reservist*innen der israelischen Armee haben sich gegen diese Reform gestellt, und für den Fall von deren Umsetzung ihren Status zur Disposition gestellt. Zunächst ließ sich die Koalition von diesen Protesten wenig beeindrucken. Auch nicht von einem Kompromissvorschlag des Staatspräsidenten Jitzchak Herzog.

Inzwischen appellierte Herzog auf Twitter an alle Vorsitzenden der Knesset-Fraktionen, Koalition wie Opposition, die Bürger*innen des Landes über alles zu stellen. »Kommen Sie zur Besinnung!« Es handele sich um einen Moment der Führung und Verantwortung, nicht um einen politischen Moment. Zuvor hatte Verteidigungsminister Yoav Gallant (Likud) aufgrund wegen des massiven Widerstands der Reservist*innen von einer Gefahr für die israelische Sicherheit gesprochen und die Einberufung des Sicherheitskabinetts gefordert. Daraufhin wurde er von Netanjahu entlassen.

Weitere Minister plädierten ebenfalls für einen Aufschub der Reform, andere für ein Durchziehen. Auch einige Likud-Abgeordnete sprachen sich für ein Verschieben aus, eine wirkliche Rebellion Netanjahus Partei ist jedoch noch nicht absehbar. Es zeigen sich jedoch erste Auflösungserscheinungen innerhalb der Regierungskoalition und machen deutlich, wie angespannt die politische Lage ist.

Die israelischen Gewerkschaften stellten sich am Montag (27.3.23) an die Seite der Reform-Gegner. Der Vorsitzende des mächtigen Gewerkschaftsdachverbandes, Arnon Bar-David, kündigte einen Generalstreik an, sollte das Vorhaben nicht ausgesetzt werden. Es kam zu einem Streik auf dem Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv. Die Ärzte-Gewerkschaft und andere Gewerkschaften schlossen sich dem Streik an, so dass weite Teile des öffentlichen Lebens zum Erliegen kamen. All dies verdeutlicht, welche enorme Breite die Massenproteste gegen die Justiz-Reform inzwischen gewonnen hat.

Auch Anhänger*innen des Regierungslagers demonstrierten, um ihre Unterstützung für die Justizreform zu zeigen, untern ihnen »La Familia«, die ultra-rechte Fangruppe des Fußballvereins Beitar Jerusalem, die mit Rassismus und Gewalt in Verbindung gebracht wird. Es kam zu Zusammenstößen mit Reformgegner*innen.

Angesichts des andauernden massiven innenpolitischen Drucks, eines Generalstreiks, der Gegendemonstration der Rechten und einer möglichen Eskalation der Proteste zog Netanjahu die Notbremse und verkündete die vorübergehende Einfrierung des Gesetzesvorhabens. Es gehe darum, einen »Bürgerkrieg« zu verhindern, in den eine »extremistische Minderheit« unter den Reformgegner*innen das Land treiben wolle.

Der der extremen Rechten angehörende Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir (»Jüdische Stärke«),[2] drohte damit, die Koalition für den Fall einer Aussetzung der Justizreform aufzukündigen, stimmte aber einem Aufschub um wenige Monate zu, nachdem ihm Netanjahu dafür im Gegenzug die Übernahme der Leitung der Nationalgarde zusagte. Diese ist eine paramilitärische Truppe zur Bekämpfung innerer Unruhen. In den Händen dieses gewaltbereiten und rassistisch geprägten Ministers könnte sie zur Niederschlagung der von ihm als »Anarchie« bewerteten Massenproteste eingesetzt werden, was faktisch Bürgerkrieg bedeuten würde.

Die Dachorganisation der Protestbewegung nannte Netanjahus angebotenen »wahren Dialog« über die Justizreform eine »Theateraufführung«, denn die Regierung zeigt kein Interesse an einer konstruktiven Konfliktlösung. Auch der Regierungschef selbst will die Reform keineswegs aufgeben, daran werden ihn schon seine extremistischen Koalitionspartner hindern. Er versucht lediglich Zeit zu gewinnen, damit sich die Gemüter abkühlen, um anschließend dieses Projekt durchzusetzen.

Die Massenproteste werden daher vermutlich weitergehen. Der israelischen Gesellschaft steht eine Konflikteskalation bevor, bei der bürgerkriegsähnliche Zustände nicht auszuschließen sind, falls die Regierung nicht zu einem Mindestmaß an politischer Vernunft zurückfindet, wofür derzeit nichts spricht.


Der Aufstieg extremistischer Kräfte bis in die Regierung

Die Befürworter*innen der Justiz-Reform sehen diese als Eindämmung des übermäßigen Einflusses einer nicht demokratisch gewählten Richter-Elite, die Gegner hingegen befürchten eine Aufhebung der für eine Demokratie konstitutiven Gewaltenteilung. Das Oberste Gericht sei die einzige Instanz, die Exzesse der Exekutive verhindern und die Grundrechte aller Bürger*innen sichern könne.

Die Position der Befürworter weise auf eine »schwerwiegende Anomalie« im israelischen Rechtssystem hin, weil »viele Fragen dieser Art nie gelöst wurden«, stellte der Staatsrechtler Menachem Mautner fest (FAZ vom 27.3.23). So verfügt Israel weder über eine zweite Parlamentskammer noch eine Verfassung, in der die Grundrechte festgeschrieben sind. Eine der »Anomalien« bestehe darin, dass es bisher überhaupt keine gesetzliche Regelung gebe, die die Befugnisse von Parlament und Oberstem Gericht klar definiert. »Heute könnte die Knesset theoretisch mit einer Mehrheit von einer zu null Stimmen eine Entscheidung des Höchsten Gerichtes überstimmen. Und mit der gleichen Mehrheit könnte sie ›Grundgesetze‹ in Kraft setzen, die die israelische Verfassung bilden.« (Ebd.)

Allerdings überzeuge der Vorschlag einer bloßen Parlamentsmehrheit (61 von 120 Abgeordneten) zur Zurückweisung von Entscheidungen des Obersten Gerichtes nicht, weil so jede Mehrheitsregierung Grundgesetze in Kraft setzen könnte. Mautner plädiert daher für eine breite Mehrheit von 80 Abgeordneten, um Grundgesetze erlassen zu können. Andernfalls könne das derzeitige liberal-demokratische Regierungssystem in eine Richtung transformiert werden, »die sich viel mehr an jüdischen Traditionen und jüdischem Religionsgesetz anlehnen würde, die nicht unbedingt liberal-demokratische Werte verkörpern«. (Ebd.)

Genau das ist aber das Ziel der gegenwärtigen Koalition. Netanjahu hat schon in früheren Koalitionen mit den Ultra-Orthodoxen einer solchen Entwicklung Vorschub geleistet, sodass sich schon vor der jetzigen Regierung eine für die Demokratie gefährliche Parallelwelt ausbilden konnte, z.B. im Bildungssystem. Die Verschiebung des Kräfteverhältnisses hin zur extremen Rechten vollzog sich als langsamer alltäglicher Prozess unterhalb des Radars der öffentlichen Wahrnehmung, bis es jetzt zum Eklat mit der Zivilgesellschaft gekommen ist.

Die Likud-Partei als größte Regierungspartei ist eine rechts-nationale, aber keine ultra-religiöse, sondern zumindest in Teilen säkulare Partei, sie ist auch nicht rechts-extremistisch. Dass sie dennoch mit fünf extremistischen Parteien koaliert, hängt einerseits direkt mit Netanjahu zusammen. Gegen ihn läuft seit drei Jahren in drei Fällen ein Korruptionsprozess, im Falle einer Verurteilung hat er ein starkes persönliches Interesse, die Machtbefugnisse der Gerichte einzuschränken.

Die politische Allianz des Likud mit der extremen Rechten zeigt aber auch, dass es mit ihr eindeutige Schnittmengen gibt, weshalb eine Abgrenzung zu extrem-rechts und ultra-religiös politisch nicht durchzuhalten ist. Netanjahu und die Likud-Partei sind nicht nur Getriebene einer extremen religiös-nationalistischen Entwicklung, sondern immer wieder auch Akteure dieses verhängnisvollen politischen Prozesses.

Denn auch innerhalb des Likud fand eine Radikalisierung statt, worauf Eva Illouz hinweist, die als Professorin für Soziologie und Anthropologie u.a. an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrt: »2004 etwa stimmten 22 Likud-Abgeordnete für ein Gesetz, das es erlauben sollte, Städte und Dörfer rechtlich bestimmten ethnischen oder nationalen Gruppen vorzubehalten, das also die Rechtskategorie einer ›rein jüdischen‹ Stadt einführen würde. Der Gesetzesentwurf wurde von einem Mitglied der Listenverbindung Nationale Union eingebracht, von mehreren anderen religiösen Parteien unterstützt und scheiterte in der Knesset nur knapp – mit 38 Ja- bei 40 Gegenstimmen. In Fällen wie diesen wurde das ideologische Programm des Likud tiefgreifend auf religiöse Positionen umgestellt, die auf einer radikalen, unüberwindlichen Trennung zwischen Juden und Nichtjuden, Gläubigen und Ungläubigen, reinen und unreinen Lebensformen beharren.«[3]

Seit der Likud 1977 die Wahlen gewann, war diese rechts-nationale Partei in 40 von 45 Jahren an der Regierung. Das Anti-Netanjahu-Bündnis der vorletzten Koalition hat gerade mal ein gutes Jahr gehalten, was zeigt, dass zumindest aktuell kaum eine tragfähige Alternative gibt. Und die Linke ist inzwischen fast gänzlich von der politischen Bühne verschwunden.


Niedergang der israelischen Linken und Spaltung der Gesellschaft

Für die israelische Linke war das letzte Wahlergebnis im November 2022 nicht nur ein Debakel, sondern besiegelte ihren endgültigen politischen Absturz:

  • Die Arbeitspartei hat unter Führung von Merav Michaeli, einer erklärten Feministin, mit vier Sitzen ihr schlechtestes Ergebnis in der Geschichte erzielt. Einst die dominierende politische Kraft im Land, befindet sich die Arbeitspartei seit den 1990er Jahren, als ihr Vorsitzender und Ministerpräsident Yitzhak Rabin ermordet wurde, und die zweite Intifada tobte, im beständigen Niedergang.
  • Die linke Partei Meretz, die politische Heimat der bedrängten Friedensbewegung, schaffte es erstmals seit ihrer Gründung vor 30 Jahren nicht mehr in die Knesset.

Dass die Arbeitspartei, die Partei der Staatsgründer, fast vollständig aus der politischen Landschaft verschwunden ist, hat sie zum Teil selbst verschuldet. Schließlich war es der Staatsgründer David Ben-Gurion, der zuließ, dass ultra-orthodoxe Juden ihre anti-demokratischen Werte abseits des staatlichen Bildungssystems und des Arbeitsmarktes leben konnten – z.B. in eigenen Schulen, die kein Mathematik, kein Englisch, keine EDV-Kenntnisse vermitteln, aber vom Staat vollständig finanziert werden (so Meron Mendel, israelisch-deutscher Professor für Soziale Arbeit und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt a.M., in seinem Beitrag »Sie nennen ihn König von Israel« in der FAZ vom 3.11.2022). Über Jahrzehnte konnte sich so in segregierten Gemeinden Jerusalems und in den jüdischen Siedlungen der Hass gegen liberale Werte und gegen die Palästinenser ausdehnen.

Es waren »auch die Ministerpräsidenten der Arbeiterpartei, die nach dem Krieg 1967 die besetzten Gebiete im Westjordanland behalten wollten. Das Siedlungsprojekt im Westjordanland begann, als die Arbeitspartei noch an der Macht war.« (Ebd.) Der seinerzeitige Ratschlag des Philosophen Jeschajahu Leibowitz, sich nach dem spektakulären Krieg nach einigen Monaten wieder aus den besetzten Gebieten zurückziehen, da ansonsten die zionistische Idee der »Wahnvorstellung des großen Israel« geopfert würde, wurde in den Wind geschlagen.

Bereits direkt nach der letzten Parlamentswahl wies Meron Mendel in dem eben zitierten FAZ-Beitrag darauf hin, dass diese Wahnvorstellung in Gestalt eines demokratiegefährdenden All-Inclusive-Pakets nun Realität werde: »Abbau des Rechtsstaats und der Justiz, Zerlegung der Zivilgesellschaft und das Aus aller Hoffnung auf ein gleichberechtigtes Zusammenleben mit den palästinensischen Bürgern Israels und eine friedliche Lösung mit den Palästinensern im Westjordanland und in Gaza.« (Ebd.) Eine Gesellschaft, so sein Fazit, kann nicht auf Dauer die Menschenrechte der Palästinenser*innen unterdrücken, ohne selbst Schaden zu nehmen. Auch die ungelöste Frage eines gleichberechtigten Zusammenlebens mit der palästinensischen Bevölkerung gehört also zu den Kernproblemen der israelischen Gesellschaft dar.

Die zunehmende Rechtsentwicklung hängt auch mit einer mehrfachen Spaltung innerhalb der israelischen Gesellschaft zusammen:

  • Zu den Bürger*innen des »Tel-Aviv-Staates« zählen vor allem säkulare Aschkenasim, also aus Europa stammende Juden, die in der Weltmetropole oder in den Kibbuzim leben. Sie verfügen über ein überdurchschnittlich hohes Bildungsniveau, unterhalten Kontakte ins Ausland und sehen sich als Teil der westlichen Welt.
  • Die Bürger*innen des »Jerusalem-Staates« sind mehrheitlich Misrachim, also arabisch-stämmige (oft aus Ägypten oder dem Irak vertriebene) Juden, Bewohner der israelischen Kleinstädte in der Peripherie oder der Siedlungen in der Westbank. In der Diskriminierung dieser Juden wird – so der Historiker Tom Segev im Gespräch mit Christian Meyer (»Alle instrumentalisieren den Holocaust«, in: FAZ vom 7.1.2023) – ein wichtiger Grund für die Rechtsentwicklung gesehen. »Viele sagen: Diese aschkenasischen Eliten in Tel Aviv vertreten uns nicht mehr.« In einer solchen Lage bleibe auch kein Platz dafür, »sich verantwortlich zu fühlen für die palästinensische Tragödie«. (Ebd.) Erst dank der orientalischen Juden war der Likud 1977 erstmals stärkste Kraft geworden.
  • Eine weitere entscheidende Bevölkerungsgruppe im »Jerusalem-Staat« stellen die orthodoxen und ultra-orthodoxen Juden dar. Bei ihnen liegt die durchschnittliche Geburtsrate seit Jahren konstant bei 6,7 Kindern pro Familie, und damit weit über der durchschnittlichen Geburtsrate von ca. zwei Kindern der säkularen Aschkenasim.

Sicherlich verlagerten die linken Kräfte – der »Tel Aviv-Staat« – infolge ihrer substanziellen politischen Schwächung einen Teil ihrer Aktivitäten auch an den obersten Gerichtshof, um auf diesem Wege liberale Werte durchsetzen zu können. Und sicherlich können politische Probleme nicht durch Gerichte gelöst werden. Es geht also nicht allein um ungeklärte Verfassungsfragen in den gegenwärtigen Eruptionen und der israelischen Staatskrise. Die extremistische Regierung versucht nur, die juristischen »Anomalien« des Staates für ihre weitergehenden politischen Zwecke auszunutzen – als Kulminationspunkt einer langjährigen Entwicklung mit der massiven Stärkung der rechtsextremistischen Kräfte bis in die Regierung hinein.


Die schwindende Trennung von Staat und Religion

Eva Illouz bringt das explosive ideologische Gebräu aus nationalistischen, religiös-fundamentalistischen, patriarchalen, frauenfeindlichen, homophoben und rassistischen Ingredienzien mit einer radikalisierten Version des jüdischen Reinheitsgebotes in Verbindung: »Gift, Abfall, Gräuel, Gestank, Bestien, Schlangen, Tiere, Mörder, ein verdorbener Geist, Bosheit bilden zusammen eine Matrix, um Araber und säkulare Jüdinnen und Juden als Inbegriff einer Verschmutzung zu charakterisieren, die nichts als Abscheu erregen kann. Araber und Säkulare stellen den unreinen Kern dar, der andere Gruppen ansteckt: Linke, Homosexuelle – die hebräische Bezeichnung für Homosexualität enthält das Wort to’eva, etwas Abscheuliches – und Feministinnen. Menschen, die Angehörige dieser Gruppen treffen, berühren, mögen, lieben oder die ihre Bücher lesen, werden von dem ›Ungeziefer‹ infiziert. Das alles sind zweifellos extreme Anschauungen, die von einer bestimmten Gruppe Rabbiner verbreitet und in ihrer Grausamkeit von der Mehrheit der jüdischen Israelis nicht geteilt werden.

Doch finden solche Auffassungen ein Echo in den entscheidenden säkularen Institutionen Israels: in der Armee, die ganz gezielt und am unübersehbarsten im Westjordanland dazu eingesetzt wird, die Trennung zwischen Juden und Arabern zu erzwingen, aber inzwischen auch in der Regierung. Und auf diese Weise verfügen die neuen Radikalen über die Macht, die Normen des israelischen Diskurses nachhaltig zu verschieben.«[4]

Der entscheidende politisch-zivilisatorische Fortschritt des auf der kapitalistischen Produktionsweise sich gründenden bürgerlich-liberalen Staates besteht darin, wie Marx in »Zur Judenfrage« in aller Klarheit herausgearbeitet hat, dass die Gesellschaft nicht von der Religion befreit wird, sondern die Bürger*innen die Religionsfreiheit erhalten. Diese Privatisierung der Religion kann der bürgerliche Staat aber nur dann gewährleisten, wenn er selbst in seinem Kern atheistisch bleibt, es keine Staatsreligion mehr gibt. In dem Moment aber, wo eine bestimmte Religion versucht, sich den Staat wieder unterzuordnen, muss es zur politischen Katastrophe kommen, wie Marx explizit hervorhebt.

Diese jetzt auch in Israel offen zutage tretende politische Übergriffigkeit einer radikalisierten und sich mit dem Nationalismus vermengenden religiösen Strömung ist keineswegs eine israelische Besonderheit. Solche Fundamentalisierungen und Radikalisierungen haben in den letzten Jahrzehnten innerhalb aller großen Religionen stattgefunden: von den radikalisierten Strömungen innerhalb des Christentums in den USA (Evangelikale und »Christian Right«) über den Hindu-Nationalismus in Indien bis hin zu den radikalisierten Strömungen innerhalb des Islam.[5]


Neue Spirale der Gewalt auch im Konflikt mit den Palästinenser*innen

Die existentielle Bedrohung Israels kommt dieses Mal nicht von außen (z.B. durch den Iran), wie immer wieder innerhalb und außerhalb Israels beschworen wurde und wird. Sie kommt aus dem Innern der israelischen Gesellschaft selbst, denn die neue extremistische Regierung setzt auch im Konflikt mit den Palästinenser*innen entschieden auf Konfrontation. Eine neue Spirale der Gewalt ist angelaufen: Seit November wird Israel wieder mit Raketen aus dem Gazastreifen beschossen, die in der Regel bereits im Luftraum abgefangen werden. Israel reagierte mit Luftangriffen auf den Gazastreifen und geht militärisch gegen unterirdische Anlagen vor, die die islamistische Hamas zur Herstellung von Raketen nutzt.

Im Jahr 2023 sind bereits Dutzende von Palästinenser*innen im Zusammenhang mit Militäreinsätzen oder eigenen Anschlägen ums Leben gekommen. So wurden bei einem Einsatz der israelischen Armee am 26. Januar 2023 im Flüchtlingslager Jenin mindestens zehn Palästinenser*innen getötet und mindestens 20 verletzt. Israel begründete die Razzia mit einem bevorstehenden Terrorangriff. Nach dem Vorfall hat die Palästinensische Autonomiebehörde die Zusammenarbeit mit Israel in Sicherheitsfragen aufgekündigt.

In Huwara kam es nach der Tötung zweier Israeli zu pogromartigen Ausschreitungen von Hunderten von jüdischen Siedler*innen gegenüber Palästinenser*innen, die zu einem Toten und Hunderten Verletzten sowie immensen Sachschäden führten. Die israelische Armee ließ Medienberichten zufolge die jüdischen Siedler*innen gewähren. Ein gewaltverherrlichender Twitter-Eintrag, demzufolge Huwara ausgelöscht werden sollte, wurde vom rechtsextremen israelischen Finanzminister Bezalel Smotrich (»Religiöser Zionismus«) mit einem »Like« versehen. Er bestand nur darauf, dass die Auslöschung des Ortes nicht durch Privatpersonen erfolgen sollte: »Ich denke, der Staat Israel sollte es sein, der ihn auslöscht.«


Geo-politische Auswirkungen

Die schwere innere Krise ist allerdings keineswegs auf Israel und die besetzen Gebiete beschränkt, sondern hat erhebliche Auswirkungen auf die gesamte explosive Gemengelage im Nahen und Mittleren Osten und trifft das Land zu einem empfindlichen außenpolitischen Zeitpunkt. So hat vor kurzer Zeit ausgerechnet der Erzfeind Iran mit dem Jerusalem seit Längerem freundlich gesinnten Saudi-Arabien ein Normalisierungsabkommen unterzeichnet.

Nach Jahren der Feindschaft zwischen Saudi-Arabien und Iran verkündeten die um regionale Vorherrschaft rivalisierenden Länder überraschend, dass sie kurzfristig die diplomatischen Beziehungen wiederaufnehmen wollen, die sie 2016 abgebrochen hatten. Das politische Tauwetter erhöht auch die Chancen auf einen Friedensschluss im Stellvertreterkrieg in Jemen.

Die Entspannung möglich machte die Vermittlung Chinas, die entsprechende Übereinkunft zwischen Riad und Teheran wurde in Peking unterzeichnet, und verändert die Machtverhältnisse im Nahen und Mittleren Osten und darüber hinaus. Saudi-Arabien ist schon längst kein (inoffizieller) Stern mehr auf der US-Flagge. Die USA als Führungsmacht des Westens verlieren erkennbar an Einfluss in der einst von ihr fast nach Belieben dominierten Golfregion.

Die Staatskrise in Israel kommt auch für die USA äußerst ungelegen, nachdem sie schon durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in ihrer Fokussierung auf die wirtschaftliche und militärische Eindämmung Chinas erheblich gestört sind. Die Biden-Administration wird daher unter allen Umständen versuchen, die extremistische Regierung Netanjahu zu einer Kompromisslösung mit den Reformgegnern zu bringen.

Ob ihr dies allerdings gelingt, muss mit erheblichen Fragezeichen versehen werden. Israels Sicherheitsminister Ben-Gvir machte schon deutlich, dass auch Israel »kein weiterer Stern auf der US-Flagge« sei. Und Netanjahu weiß natürlich, dass in weniger als zwei Jahren in den USA ein neuer Präsident gewählt wird. Sollte dieser wieder Trump oder ein andere(r) Kandidat(in) aus dessen Lager sein, kann sich die extremistische Rechte in Israel auf neuen starken Rückenwind aus der westlichen Führungsmacht freuen. Es könnte innerhalb des »freien« Westens zu einer neuen Allianz der Verächter der liberalen Werte kommen.

Anmerkungen

[1] Siehe hierzu ausführlicher: Friedrich Steinfeld, King »Bibi« ist zurück, in: Sozialismus.deAktuell vom 7.11.2022.
[2] Ben Gwir ist seit langem bekannt für seine extremistischen Ansichten und rassistische Hetze. Mehrfach wurde er dafür bereits vor Gericht angeklagt und in zwei Fällen verurteilt. Der 46-jährige Rechtsanwalt gilt als früherer Anhänger des rechtsextremen Rabbiners Meir Kahane, dessen Kach-Partei von Israel, der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Noch kurz vor den letzten Parlamentswahlen hatte Ben-Gwir in einem palästinensischen Viertel Jerusalems eine Waffe gezückt und die Polizei dazu aufgerufen, auf palästinensische Steinewerfer zu schießen. Außerdem forderte er die Abschiebung arabisch-israelischer Abgeordneter. Er vertritt nicht nur gegenüber den Palästinensern in den besetzten Gebieten, sondern auch gegenüber den palästinensischen Israeli eine aggressive Politik. Die Juden müssten wieder »die Herren im Haus sein«.
[3] Eva Illouz, Politik mit der Abscheu. Die neue israelische Rechte und die geschürte Angst vor Verunreinigung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2023.
[4] Illouz a.a.O.
[5] Siehe hierzu ausführlicher: Friedrich Steinfeld (2016): Religiöser und politischer Fundamentalismus im Aufwind. Die Sehnsucht nach Identität, Hamburg.

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