16. Dezember 2016 Heiner Flassbeck: Eine Replik auf Busch u.a.
Ist das Eurosystem überwindbar?
Angesichts der offenkundigen Zerfallserscheinungen Europas treten sich in immer neuen Konstellationen diejenigen gegenüber, die glauben, Europa müsse gerade jetzt um fast jeden Preis gerettet werden und diejenigen, die überzeugt davon sind, ein Ende mit Schrecken sei einem Schrecken ohne Ende auch im Sinne des europäischen Gedankens vorzuziehen.
Martin Höpner und ich haben vor einiger Zeit in einem Artikel (hier) kritisiert, dass einige Autoren (Klaus Busch, Axel Troost, Gesine Schwan, Frank Bsirske, Joachim Bischoff, Mechthild Schrooten und Harald Wolf, im folgenden »Busch u.a.« genannt) in einem Buch zur Eurokrise bei ihrer Kritik an Ausstiegsszenarien aus dem Euro den Eindruck erwecken, sie glaubten, dass die Abwertung einer Währung in ihrer Wirkung auf den Reallohn gleichzusetzen ist mit einer Lohnsenkung (oft »interne Abwertung« genannt, was als Begriff offenbar genau den Eindruck der oben aufgestellten Hypothese belegen soll).
Davor hatte ich Bernd Riexinger heftig und durchaus polemisch kritisiert, weil der sich einerseits weigert, die deutsche Schuld an der Eurokrise klar zu benennen, aber andererseits all diejenigen (unter anderem mich) mit kruden Nationalismusvorwürfen überzieht, die auch nur über ein mögliches Ende des Euro nachdenken (hier).
Auf die Kritik von Martin Höpner und mir haben Busch u.a. auf Makroskop geantwortet (hier [auf SozialismusAktuell ebenfalls dokumentiert]). Das ist eine im Ton und von der sachlichen Argumentation her ernst zu nehmende Antwort, auf die ich heute auch genauso ernsthaft und ohne jede Polemik antworten will.
Der Hauptkritikpunkt von Busch u.a. ist, Martin Höpner und ich wären nicht auf alle Argumente eingegangen, die jenseits der Lohn- und Abwertungsfrage vorgebracht werden, um zu begründen, warum ein Ausstieg aus dem Euro praktisch nicht möglich und deswegen auch nicht wünschenswert ist. Das ist richtig.
Es ging aus meiner Sicht (Martin Höpner behält sich vor, selbst noch zu antworten) in diesem Papier nicht darum, alle Für und Wider eines Ausstieges zu kritisieren, sondern nur darum, zweierlei klarzumachen:
- Erstens, dass es alternative Währungssysteme gibt, mit denen man die unvermeidlichen Ausstiegsprobleme erheblich dämpfen kann. Diese Systeme kann man durchaus mit dem EWS (dem Europäischen Währungssystem, dem Vorgänger des Eurosystems) vergleichen. Aber ein solcher Vergleich trägt nicht weit, weil andere neue Systeme keineswegs genauso aufgebaut sein müssen wie das EWS. Das EWS, das ist keine neue Erkenntnis, sondern war schon vor Jahrzehnten klar (hier z.B. von mir beschrieben), war keineswegs ein vernünftig konstruiertes Währungssystem, sondern ein zusammengeschustertes Konstrukt, das in mancher Hinsicht sogar weniger gut funktionierte als das Bretton Woods System und auch das hatte schon gravierende Mängel.
- Zweitens, es sollte der Punkt widerlegt werden, der auch in dem neuen Papier von Busch u. a. enthalten ist, der die Reallohnwirkungen von Abwertungen betrifft. Auch jetzt betonen Busch u. a. wiederum diesen Punkt, wenn sie schreiben: »Wir sagen allerdings, dass eine Abwertung nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie mit einem Abbau der Reallöhne verbunden ist, die nominale Abwertung also auch eine reale ist und bleibt…. Leider handelt es sich hier um ein verkürztes Verständnis der ökonomischen und sozialen Prozesse. Eine nominale Abwertung erhöht die Importpreise und diese importierte Inflation löst eine Preis-Lohn-Spirale aus, die nach und nach den Effekt der nominalen Abwertung auffrisst. Deshalb argumentieren Autoren wie Dornbusch und Fischer [4], dass eine nominale Abwertung nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie von einer gleichhohen Senkung der Reallöhne begleitet wird. Höpner et alii lassen sich auf diese Literatur nicht ein und versuchen die hier beschriebenen Effekte kleinzureden.«
Das ist immer noch falsch. Der Verweis auf Dornbusch/Fischer hilft hier überhaupt nicht, denn auch strenge Neoklassiker können irren!
Zur Frage von Abwertung und Aufwertung
Ich will zunächst noch einmal auf den zweiten Punkt antworten, bevor ich mich dem von uns vernachlässigten Punkt der Schuldenproblematik zuwende.
Martin Höpner und ich hatten Folgendes geschrieben: »Eine »interne Abwertung«, also zunächst eine Nominallohnsenkung, trifft die Binnennachfrage direkt in negativer Weise, weil alle Löhne quer durch die Volkswirtschaft gesenkt werden müssen. Ein Abwertungsbedarf von, sagen wir, 30 Prozent bringt also eine 30 prozentige Lohnsenkung für die gesamte Volkswirtschaft mit sich, weil man nicht nur die exportorientierten Bereiche allein auswählen kann. Das bringt in der Regel auch eine kräftige Reallohn- und Nachfragesenkung mit sich, weil der Faktor Arbeit in Vorleistung tritt und Unternehmen nur verzögert mit Preisanpassungen nach unten reagieren. Ein solcher Rückgang der Binnennachfrage, das zeigt die Erfahrung in allen südeuropäischen Ländern, zieht unmittelbar einen massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit mit sich, weil die Unternehmen trotz gesenkter Löhne auf die ungenutzten Kapazitäten mit Entlassungen reagieren – und nicht, wie es die »neoklassische« Erwartung ist, mit einem Umbau der Produktionsstruktur.
Bei einer Abwertung über den Wechselkurs werden die Löhne hingegen zunächst überhaupt nicht berührt. Deswegen hat die Abwertung einer Währung zunächst auch gar keinen Einfluss auf die Binnennachfrage. Die Abwertung verringert die Löhne in internationaler Währung gerechnet, in der Binnenwirtschaft werden aber genau die gleichen Löhne gezahlt wie vorher. Es kommt nur dann zu einer spürbaren Reallohnsenkung, wenn weiterhin so viel importiert wird wie vorher. Die Erfahrung und die Logik zeigen aber, dass der Effekt klein ist, weil bei einer Importquote von, sagen wir, 25 Prozent sogar eine Abwertung von 30 Prozent selbst ohne Ausweichreaktionen (die es sicher gibt) nur eine Reallohnsenkung von unter 10 Prozent mit sich bringt. Empirisch ist der Effekt jedoch viel geringer, weil, wie es ja das Ziel der ganzen Übung ist, weniger Importe gekauft werden. Zwar wird es immer einige Produkte geben, die eingeführt werden müssen (Rohstoffe etwa), aber den Großteil der Importe kann man in der Regel ersetzen. Selbst wenn die Reallöhne etwas zurückgehen oder weniger steigen, kann man in allen Ländern mit einer halbwegs normalen Export- und Importstruktur damit rechnen, dass der Gesamteffekt positiv für die Konjunktur ist, weil Exporte angeregt und Importe zurückgedrängt werden. Das gilt bei der internen Abwertung nicht.«
Damit ist klar, dass die unmittelbare Wirkung der Abwertung eine ganz andere ist als bei einer Lohnsenkung. Das Gegenargument, das von Busch u.a. weiter dagegengehalten wird, ist offenbar die prinzipielle Möglichkeit, dass es nach einer Abwertung zu einer Lohn-Preisspirale kommen könne, die den Effekt der Abwertung wieder ausgleiche. Das kann man nicht bestreiten. Es hat auch Fälle in der Geschichte gegeben, wo das der Fall war. Baut man irgendwelche rückwärtsgewandten Indexierungsmechanismen in die Lohnfindung ein (also solche, die sich an der vergangenen Inflation orientieren), kann man sicher auch zu dem Ergebnis kommen, dass nach einiger Zeit jede Abwertung wieder ausgeglichen wird.
Warum man kollektive Unvernunft auf der Seite der Arbeitnehmer unterstellen muss, ist auch dann nicht klar. Gibt es nur dumme Arbeitnehmer, die einfach nicht begreifen wollen, dass inflationäre Lohnpolitik immer wieder ihre Arbeitsplätze im Außenhandel gefährdet und schließlich eine nominale Abwertung der Währung erzwingt? Und warum sollten Arbeitnehmer und ihre gewerkschaftlichen Vertreter nicht begreifen können, dass mit einer Aufholjagd der Löhne nach einer notwendigen Abwertung nichts zu gewinnen ist? Die Geschichte der Lohnfindung in Europa jedenfalls zeigt kollektive Vernunft auf Seiten der Arbeitnehmer, denn es ist ja trotz vieler Abwertungen gelungen, über die Konvergenz der Lohnstückkosten die Konvergenz der Inflationsraten auf dem niedrigen Niveau herbeizuführen, das zur Gründung der EWU notwendig war. Dass dann danach mit Deutschland das Land, an das sich alle angepasst haben, zu einer deflationären Lohnpolitik und damit zum Merkantilismus übergeschwenkt ist, konnte wirklich keiner ahnen.
Konsequenter Weise müsste man, wenn man an Lohn-/Preisspiralen in den Abwertungsländern denkt, auch unterstellen, dass in Deutschland im Falle eines Auseinanderbrechens des Euro und einer Aufwertung sofort eine Lohn-/Preisspirale nach unten in Gang käme, die den Effekt der Aufwertung durch Preissenkung ausgleicht.
Wenn das so wäre (oder wenn die deutsche Zentralbank eine Aufwertung der neuen D-Mark durch Interventionen am Devisenmarkt verhindern würde), dann gäbe es allerdings nur eine Antwort der anderen Länder: Dann müssten die Defizitländer die Grenzen für deutsche Güter dicht machen, um die deutsche Vormachtposition zu brechen. Es geht bei der gesamten Anpassung ja nicht um die Abwertung oder die Aufwertung als solche, sondern es geht allein um das Verschwinden der überlegenen deutschen Wettbewerbsposition und des die Handlungsfähigkeit der anderen Länder bedrohenden deutschen Leistungsbilanzüberschusses. Das kann ein souveräner Staat auf jeden Fall erreichen.
Zur Frage der Bedienung der Altschulden
Busch u.a. beschreiben eine Schuldenfalle, die in den ausscheidenden Ländern dadurch entsteht, dass die Altschulden weiter in Euro bedient werden. Wörtlich heißt es: »Wenn heute Italien den Euro verließe und die Lira wieder einführte – in einem EWS II-Verbund –, würde die in Euro emittierte Staatsschuld in der neuen Währung Lira, nach deren Abwertung, drastisch ansteigen. Italien hätte in nationaler Währung einen wesentlich höheren Schuldendienst zu verzeichnen, weil es diesen in Euro zu leisten hätte. Dies ist die Schuldenfalle, von der wir in unserer Streitschrift sprechen.«
Dazu muss man zunächst klar feststellen, dass kein Land der Welt jemals eigene Anleihen in Fremdwährung emittieren oder bedienen sollte. Natürlich wird jedes Land, das aus dem Euroverbund ausscheidet, seine eigenen Anleihen rückverwandeln in Anleihen in nationaler Währung. Italienische Anleihen sind mit dem Übergang zum Eurosystem von Lira in Euro umgewandelt worden (zu einem festgelegten Kurs der damaligen Lira zum Euro) und sie würden selbstverständlich mit dem Ausscheiden Italiens wieder zurückverwandelt in (neue) Lira-Anleihen, sinnvollerweise zu einem Kurs von 1:1. Wohin sich der Kurs der neuen Lira zum Euro danach entwickelt, ist für die Umwandlung nicht entscheidend.
Ein Leser schreibt uns zu dieser Frage (danke dafür!): »Im Zusammenhang mit der Diskussion zwischen Herrn Höpner und Herrn Flassbeck einerseits und den Autoren der »Streitschrift« aus dem VSA-Verlag andererseits, möchte ich auf eine Studie des französischen Ökonomen Jaques Sapir von 2012 zu den ›Scenarii de la dissolution de l’Euro‹ hinweisen: Dieser beruft sich (z.B. hier) darauf, dass das internationale Recht in solchen Fällen eine »Umbuchung« der Staatschulden, die auf eigenem Territorium begeben wurden, in nationale Währungen vorsehe, und berechnet einen Anteil französischen Staatschulden von 85 %, für die dieser Fall gelte. Das wichtigste Argument der Auflösungsgegner, nämlich die gestiegene Staatsschuld in Fremdwährung, wäre damit nur eingeschränkt zutreffend.«
In Italien, wo der Großteil der Staatsschuld von Inländern gehalten wird, wird das sicher in gleicher Weise gelten. Historische Ausnahmen sind Länder wie Argentinien, wo (idiotischer Weise) die Staatsschuld zu einem erheblichen Teil in Fremdwährung (in US-Dollar) und nach internationalen Recht begeben wurde. Wer dann umwandelt, so wie Argentinien das nach seiner Abwertung getan hat (auch dort galt übrigens bis zur vollzogenen Abwertung die »Schuldenfalle« als entscheidendes Hindernis für die Abwertung), der hat natürlich internationale juristische Auseinandersetzungen zu vergegenwärtigen, die auch für ein ansonsten souveränes Land unschöne Image- Konsequenzen haben können.
Politische Schlussfolgerungen
Ein anderer Leser von Makroskop schreibt (auch dafür danke!): »Höpner/Flassbeck gehen aber leider nicht auf die Phase der Auflösung des EURO-Systems und ihrer unmittelbaren Wirkungen ein. Um es am Beispiel Deutschland zu verdeutlichen, mit welchen Auswirkungen man es dann zu tun hätte: In Deutschland liegt der Exportanteil am BIP bei 50%. Im Falle einer Auflösung des EURO wird für Deutschland eine Aufwertung von wenigstens 30% erwartet. D.h. eine schlagartige Verteuerung der Exporte von 30% würde zwangsläufig zu einem Einbruch dieser Exporte führen. Man kann hier sicherlich von 15-20% ausgehen. Bezogen auf das BIP reden wir dann über einen Rückgang von 5-10%, also über eine schwere Rezession. Die Exportquote der die deutsche Industrie dominierenden Fahrzeugindustrie liegt bei nahezu 70%. Diese dann nicht mehr exportierbaren Fahrzeuge werden im Inland nicht gebraucht! Ein Wirtschaftseinbruch dieser Dimension hätte katastrophale Auswirkungen auf die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Deutschland, die sich in einer entsprechenden politischen Radikalisierung niederschlagen würden.
Eine Umorientierung von großen Teilen der Export-Wirtschaft auf eine Versorgung des Binnenmarktes würde nicht von heute auf morgen gelingen, sondern viele Jahre in Anspruch nehmen. Eine solche soziale Katastrophe – und mit der hätten wir es dann bestimmt zu tun – wäre den Menschen nicht zuzumuten, abgesehen davon, dass die Linke von solchen Katastrophen noch nie profitieren hat, deswegen empfiehlt es sich, einen langsamen, dafür aber beherrschten Entwicklungspfad einzuschlagen, um gemeinsam mit den anderen EURO-Ländern aus den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verwerfungen herauszukommen. Das von Busch u.a. vorgeschlagene Programm verdient es, sich mit ihm im Detail auseinanderzusetzen.«
Auch Bernd Riexinger äußerte sich in dem oben angesprochenen Beitrag in ähnlicher Art und Weise: »Deutschland müsste seine eigene Währung deutlich aufwerten, was unweigerlich zu deutlichen Wohlstandsverlusten und so verschärften Verteilungskämpfen führen würde. Ein Ausstieg Deutschlands als wirtschaftlich stärkstem und reichstem Land in Europa kann aber ohnehin keine linke und solidarische Antwort auf die Krise in Europa sein.«
Schließlich schreiben Busch u.a.: »Durch die Einführung der von uns geforderten Reformen, wie der alternativen Wirtschaftspolitik, der Ausgleichsunion, der gemeinsamen Schuldenpolitik, der Schritte auf dem Wege zu einer europäischen Sozialunion sowie einer demokratisch gewählten und kontrollierten Europäischen Wirtschaftsregierung, lassen sich die EU und der Euro wirkungsvoll in Richtung eines solidarischen Europas transformieren.«
Mir scheint, man beginnt jetzt in allen Lagern und auch bei der Linken zu begreifen, was ich seit mehr als 15 Jahren landauf landab predige, nämlich, dass man im Interesse der Defizitländer, aber auch im Interesse Deutschlands, alles tun muss, um einen allmählichen Übergang zu schaffen, weil sonst noch viel mehr auf dem Spiel steht als Europa.
Seit mindestens fünf Jahren hätten alle Ökonomen mit kritischem Verstand explizit schreiben müssen, dass Deutschland von Beginn der EWU an eine falsche und gefährliche deflationäre Lohnpolitik betrieben hat, die so stark korrigiert werden muss, dass die anderen Länder eine Chance haben, die im Außenhandel verlorenen Marktanteile zurückzugewinnen. Man hätte explizit sagen müssen, dass der grotesk große deutsche Außenhandelsüberschuss mit Hilfe stark steigender Löhne verschwinden muss und die deutsche Exportwirtschaft wieder auf normale Größe in Höhe von etwa dreißig Prozent des BIP zu schrumpfen hat. Das alles haben die wenigsten gesagt und in Sachen Löhne ist die Lage in Deutschland statt besser immer schlechter geworden (siehe hier).
Jetzt aber, liebe Kollegen, jetzt ist es zu spät!
Alle fünf Punkte, die von Busch u.a. im Jahre 2016 gefordert werden, sind längst gescheitert. Das gilt für die alternative Wirtschaftspolitik, die spätestens seit 2010 notwendig gewesen wäre, das gilt für die gemeinsame Schuldenpolitik, die sich nirgendwo abzeichnet, das gilt für die Sozialunion und die gemeinsame Wirtschaftsregierung. Das gilt jedoch insbesondere für das, was von Busch u. a. »Ausgleichsunion« genannt wird (siehe dazu hier ein Beitrag von Axel Troost aus dem Jahre 2011). Das genau ist ja versucht worden mit Hilfe der Maßnahmen, die im sogenannten europäischen Semester (»six pack«) vorgesehen sind, doch das Ergebnis ist katastrophal.
Deutschland hat nicht nur eine symmetrische Anpassung von Defizit- und Überschussländern blockiert (vgl. hier eine Analyse aus dem Jahr 2013 dazu), sondern in extrem kaltschnäuziger Weise auch verhindert, dass es selbst als größter Sünder überhaupt nur angesprochen wird, von einer Sanktionierung durch die Kommission ganz zu schweigen. Der deutsche Überschuss ist seit 2011 in jedem Jahr zu hoch, ist ständig gestiegen und erreicht in diesem Jahr horrende neun Prozent. Wann genau also werden die von Busch u. a. geforderten fünf grundlegenden »Reformen« eingeführt? Man muss es in der Tat wissen, weil die anderen Länder nicht beliebig Zeit haben, auf die deutsche Einsicht zu warten.
Hinzu kommt, und das sagt alles über die Aussicht, die »Reformen« in irgendeiner Zeit einzuführen, dass es seit 2011 der Linken nicht einmal gelungen ist, auch nur eine Diskussion in Deutschland über das deutsche Versagen in Gang zu setzen. Das liegt in erster Linie an der beharrlichen Weigerung von Sozialdemokraten und Grünen, sich mit ihren Fehlern auseinanderzusetzen und der vollständigen Leugnung der deutschen Rolle in großen Teilen der Medien, der sogenannten Wissenschaft (siehe hier wieder ein wunderbares neues Beispiel dazu), aber auch eines erheblichen Teils der deutschen Gewerkschaften. Wenn aber nicht einmal eine ernsthafte Diskussion über die deutsche Rolle möglich ist, wie will man dann eine Reformagenda in Brüssel durchsetzen, die den Defizitländern (die heute zumeist potentielle Defizitländer sind, weil sie im Zuge der tiefen Rezession über sinkende Importe inzwischen Überschüsse in der Leistungsbilanz aufweisen) eine Chance geben, einen Umschwung zustande zu bringen, bevor explizit antieuropäische nationalistische Kräfte das Ruder übernehmen?
Nein, machen wir uns nichts vor, ob man es will oder nicht, die europäische Titanic ist am Sinken. Spätestens heute müsste man einsehen, dass es höchste Zeit ist, die Einsatzfähigkeit der Rettungsboote zu überprüfen. Doch die vereinte Linke weist lieber die Kapelle an, lauter zu spielen, damit man das Rauschen des rasch eindringenden Wassers nicht hört.
Der Beitrag von Heiner Flassbeck erschien am 15.12. zunächst auf der Website »Makroskop. Kritische Analysen zu Politik und Wirtschaft«; wir dokumentieren ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion von Makroskop.