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Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
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2. September 2022 Lord John Hendy QC: Arbeitskämpfe in Großbritannien

Ist es an der Zeit, einen Generalstreik zu organisieren?

Die jahrzehntelange Aushöhlung der gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht hat dazu geführt, dass die Löhne sinken, während die Gewinne steigen. Die Reaktion der britischen Regierung auf die Krise der Lebenshaltungskosten kann nicht anders als Klassenkampf bezeichnet werden. Arbeiter*innen und Angestellte können diese Angriffe nicht weiter hinnehmen.

Mitte August berichtete das Office for National Statistics (ONS), dass die Inflationsrate, gemessen am Verbraucherpreisindex, in den zwölf Monaten bis Juli 2022 um 10,1% gestiegen ist. Die Bank of England geht davon aus, dass die Inflation im letzten Quartal 2022 auf »knapp über 13 Prozent« steigen wird.

Das ONS bestätigt, was wir alle wissen: Der Hauptbeitrag zur Inflation im Juli kam von den höheren Preisen für Strom, Gas, andere Brennstoffe und für Lebensmittel. Der Ölpreis ist Anfang 2022 drastisch gestiegen. Der Grund dafür war nicht etwa ein Krieg oder ein Anstieg der Kosten für Exploration, Förderung, Raffinierung oder Transport, sondern die Kalkulation des globalen Kartells der Energieerzeuger, dass sie die höheren Preise gegenüber den Konsument*innen durchsetzen können. Infolgedessen verdoppelten sich in den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 die Gewinne von Shell, BP, Chevron und Exxon Mobil auf 58,2 Mrd. US-Dollar.

Im Gasbereich meldete Centrica (Eigentümer von British Gas) im Juli einen Jahresgewinn von 857 Mio. Pfund, sechsmal mehr als der Vorjahresgewinn von 140 Mio. Pfund. Die Weltgaspreise stiegen auf 251 Euro pro Megawattstunde, was mehr als 400 US-Dollar pro Barrel Öl entspricht. Sie liegen um das Zehnfache höher als vor einem Jahr. Die Gaserzeuger könnten sich dafür bei der kriegsbedingten Beschränkung der Gasexporte seitens Russlands bedanken, da sich die Händler angesichts des begrenzten Angebots gegenseitig überbieten.


Vermögenstransfers von der Arbeit zum Kapital

Aber so ist der Kapitalismus: Die Marktpreise für diese Rohstoffe spiegeln nicht die tatsächlichen Angebotskosten wider, letztere sind nicht gestiegen. Die Marktpreise stellen vielmehr die Kosten plus den maximalen Gewinn dar, den die Produzenten erzielen können.

Und die Verbraucher*innen müssen zahlen. Das ist eine Katastrophe für die Arbeiterklasse, wenn man bedenkt, dass 10% der Beschäftigten im Vereinigten Königreich weniger als 695 Pfund pro Monat verdienen und 90% weniger als 4.963 Pfund pro Monat. Sozialhilfeempfänger*innen und Rentner*innen sind noch weitaus schlechter dran.

Die Inflation bedeutet, dass diese Einkommen jetzt weniger wert sind. Das ONS hat berichtet, dass in diesem Jahr die durchschnittlichen Lohnsteigerungen bisher bei etwa 6,54% liegen. Bei einer Inflationsrate von 10,1% bedeutet dies einen erheblichen Kaufkraftverlust.

Der »mediane Lohnanstieg« verschleiert jedoch die Tatsache, dass die Löhne des einkommensschwächsten Zehntels der Erwerbsbevölkerung (drei Millionen Beschäftigte) nur um 1,3% gestiegen sind. Und der Medianwert variiert je nach Branche. Man sollte annehmen, dass in Branchen wie dem Hotel- und Gaststättengewerbe, in denen es an Arbeitskräften mangelt, höhere Lohnsteigerungen zu verzeichnen wären. Das trifft aber nicht zu.

Das ONS hat vielmehr mitgeteilt, dass der jährliche Lohnanstieg im Hotel- und Gaststättengewerbe im Mittel nur 2,46% beträgt. Das ist etwas mehr als in der Branche Kunst, Unterhaltung und Erholung mit 1,85% und etwas weniger als im Bildungssektor mit 3,15%. Im Finanz- und Versicherungswesen belaufen sich die Gehaltserhöhungen dagegen auf 8,32%. Hier sind noch nicht einmal die Prämien enthalten – Leistungen, die vor allem den Spitzenverdiener*innen zufließen.

Wenn der Wert der Löhne sinkt, wird es billiger, Arbeitnehmer*innen einzustellen, und die Gewinne der Unternehmer*innen steigen. Der Umfang dieses rasanten Vermögenstransfers von der Arbeit zum Kapital ist seit den 1930er Jahren beispiellos.

Deshalb ist der derzeitige Kampf der Eisenbahner*innen, der Post- und Callcenter-Beschäftigten, der Hafenarbeiter*innen, der Krankenpfleger*innen, der Assistenzärzt*innen, der Müllwerker und der vielen anderen so wichtig. Ihr Kampf ist ein Kampf für die gesamte Arbeiterklasse.

Der Aufschwung der Arbeitskämpfe wird mit den 1970er Jahren verglichen. Aber die Situation ist heute ganz anders. Die 1970er Jahre waren das Jahrzehnt mit der größten Gleichheit in der Geschichte Großbritanniens. Der Anteil der Löhne am Bruttoinlandsprodukt war so hoch wie nie zuvor oder danach. Diese Errungenschaft war darauf zurückzuführen, dass für 85% der lohnabhängig Beschäftigten die Arbeitsbedingungen durch Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmen festgelegt wurden.

Seit dem Tory-Wahlsieg 1979 haben die britischen Regierungen – angefangen mit dem Kabinett Thatcher – die Tarifverhandlungen in fast allen Sektoren außer Kraft gesetzt. Sie haben das erreicht, indem sie auf die Abschaffung von Branchen- und Flächentarifverträgen drängten und die Tarifflucht von Unternehmen förderten; indem sie die paritätisch besetzten Lohnfindungskommissionen abschafften; indem sie die Gesetze, mit denen die Tarifverhandlungen auf andere Bereiche der Arbeitsbeziehungen ausdehnt worden waren, wieder aufhoben; indem sie die Verpflichtung zur Einhaltung von Tarifverträgen durch öffentliche Auftragnehmer abschafften, Konzernen die Verlagerung ganzer Branchen ins Ausland erlaubten und Privatisierungen im öffentlichen Sektor und Outsourcing im privaten Sektor förderten.

Die Zerstörung des Systems der Tarifverhandlungen, des collective bargaining, wurde vor allem durch gesetzliche Beschränkungen des Arbeitskampfes erreicht, insbesondere durch das Verbot von Arbeitskämpfen, mit denen die Durchsetzung der Forderungen streikender Kolleg*innen unterstützt werden sollten.

Das Ergebnis ist, dass heute weniger als 25% der Lohnabhängigen in den Genuss von Tarifverhandlungen kommen. Die Zahl der Lohntarifverhandlungen liegt sogar noch weit darunter, da die Löhne vieler Beschäftigter im öffentlichen Sektor entweder von einem Lohnprüfungsgremium oder durch einen von der Regierung verhängten Lohnstopp festgelegt werden.

Tatsache ist, dass die große Mehrheit der britischen Beschäftigten nicht in der Lage ist, über bessere Löhne zu verhandeln. Für sie heißt es: »Take it or leave it«. Und die meisten von ihnen können es sich nicht leisten, auf die zugestandenen, unzureichenden Lohnzuwächse zu verzichten. Sie brauchen keinen Gouverneur der Bank von England, der ihnen sagt, dass sie Lohnzurückhaltung üben sollen – sie haben gar keine andere Wahl.


Generalstreik gegen Reallohnverluste und Verarmung?

Gegenüber 85% in den 1970er Jahren können heute also nur noch 25% der Beschäftigten in vollem Umfang auf das Recht auf Tarifverhandlungen zurückgreifen. Gerade deshalb sind die Streiks derjenigen, denen das Recht auf Verhandlungen noch nicht genommen worden ist, die aber ihre Forderungen auf dem Verhandlungsweg bisher nicht durchsetzen konnten, so wichtig für die gesamte Arbeiterklasse.

Aus der Geschichte der 1970er Jahre sollten wir noch etwas anderes mitnehmen. Im Sommer 1972, also vor 50 Jahren, wurden fünf Hafenarbeiter in Pentonville inhaftiert, weil sie sich einem Gerichtsbeschluss widersetzt hatten. Sie wurden freigelassen, nachdem Arbeiter*innen im ganzen Land spontan die Arbeit niedergelegt und der TUC einen Generalstreik ausgerufen hatte.

Die Lage ist jetzt entsprechend ernst, denn die Arbeiterklasse steht vor einem Tsunami der Inflation, der Hunderttausende von Familien ins Elend stürzen wird. Ist es wieder an der Zeit, eine allgemeine Arbeitsniederlegung zu organisieren? Dieses Mal, um ein Ende der überhöhten Preise zu fordern, die der profitgierige Kapitalismus einer Arbeiterklasse aufzwingt, die andernfalls ins Elend gestürzt wird?

Denn die Reaktion der Regierung auf die sich abzeichnende Katastrophe ist nichts anderes als Klassenkampf. Die Tories verteilen ein paar hundert Pfund Steuergelder an die Armen, bei weitem nicht genug, um die Aufpreise bei den Strom- und Gasrechnungen auszugleichen. Und dann müssen die Armen diese Steuergelder plus einen höheren Anteil ihrer verfügbaren Einkommen an die reichen Energiekonzerne abführen.

Die Bank of England erhöht die Kreditkosten, so dass Millionen Bürger*innen, die Hypotheken oder Verbraucherkredite bedienen müssen, höhere Zinsen an ihre Kreditoren zahlen müssen. EX-Finanzminister Rishi Sunak hatte angeboten, die Steuern zu senken – ein Angebot, das vor allem denen zugutekommt, die in den höchsten Steuerklassen sind, aber den Millionen, deren Einkommen unter der Besteuerungsschwelle liegt, nicht hilft und diejenigen bestraft, die auf die öffentlichen Dienstleistungen angewiesen sind, für die diese Steuergelder eigentlich eingesetzt werden müssten.

Für die Profiteure führen die Tories eine zeitlich begrenzte und mit Schlupflöchern versehene Abgabe auf Gewinne aus der Gas- und Ölförderung ein anstelle einer »Wuchersteuer«, um jeden Penny Extraprofit herauszuholen. Sie weigern sich, den Anstieg der Energiepreise effektiv zu begrenzen. Sowohl die Tories als auch die Labour Party lehnen die nahe liegende Option ab, die Energieunternehmen in öffentliches Eigentum zu überführen, um die Energiepreise und Gewinne zu kontrollieren. Genau das hat die französische Regierung mit der Électricité de France (EDF) getan. Ein Ergebnis ist, dass die Inflation in Frankreich derzeit nicht mehr als 6,5% beträgt.

Einerseits weigert sich die Tory-Regierung, die Preise jener Waren zu kontrollieren, die die Inflation in die Höhe getrieben haben. Andererseits ist sie wild entschlossen, das Terrain einzuschränken, auf dem die Beschäftigten für die Erhöhung ihrer Löhne kämpfen, um die Inflation auszugleichen.


Neue Angriffe auf das Streikrecht

Während die Gewerkschaften also für ihre Mitglieder kämpfen, werden ihnen weitere rechtliche Fesseln angelegt, um sie daran zu hindern. Bei der Einführung weiterer gewerkschaftsfeindlicher Maßnahmen ist Verkehrsminister Grant Shapps deutlich geworden: »Margaret Thatcher wusste, dass die Gewerkschaften – wie die Maschinen stürmenden Ludditen zu Beginn des 19. Jahrhunderts – ein Hindernis für ihre Reformen waren. Sie hat Wohlstand geschaffen, indem sie sie bekämpfte – und das werden wir auch tun.«

Die Gewerkschaften sind aber bereits stark reguliert und eingeschränkt. Tony Blair bezeichnete 1997 die von Thatcher eingeführten Gesetze zu Recht als »die restriktivsten Gewerkschaftsgesetze der westlichen Welt«. Doch die Labour-Regierungen der Jahre 1997 bis 2010 hoben sie nicht auf. Die Tories kehrten an die Macht zurück, und seither hat das Gewerkschaftsgesetz von 2016 mit weiteren Einschränkungen für Gewerkschaften und Streikposten Rechtskraft.

In diesem Jahr wurden schon Gesetze auf den Weg gebracht, mit denen »laute Proteste« und damit das Demonstrationsrecht von Streikposten unterbunden werden können, oder die bei »nicht gesetzeskonformen« Streikaktionen eine Vervierfachung der von den Gewerkschaften zu zahlenden Schadensersatzleistungen (bis zu einer Million Pfund für große Gewerkschaften) vorsehen oder mit denen den Unternehmen der Einsatz von Leiharbeiter*innen bei Streiks erlaubt wird.

Shapps hat nun über die Einführung von Gesetzen gesprochen, mit denen die Belegschaften bei Streiks in bestimmten Sektoren für eine Mindestbesetzung zu sorgen haben. Mitte August kündigte er weitere Maßnahmen an, um die Streikfähigkeit für höhere Löhne oder gerechtere Arbeitsbedingungen einzuschränken. Soweit bekannt geworden ist, umfassen diese Maßnahmen:

  • Eine Gesetzesänderung, die es einem Minister ermöglicht, mit Hilfe von Notstandsbefugnissen jeden Arbeitskampf zu verbieten, der als »nationaler Notfall« angesehen wird. Dies wird sowohl für den öffentlichen als auch für den privaten Sektor gelten und zielt offensichtlich besonders auf die »systemrelevanten Arbeitskräfte« in den Bereichen Verkehr, Bildung, Gesundheit, Lebensmittel, Energie ab, denen die Regierung während der Corona-Lockdowns noch jeden Donnerstag Beifall geklatscht hat. Mit diesem Ermessensspielraum, der der Regierung eingeräumt wird, wird das Streikrecht ausgehebelt.
  • In »wichtigen öffentlichen Diensten« muss bei Urabstimmungen nicht nur eine qualifizierte Mehrheit der abstimmenden Gewerkschaftsmitglieder für einen Streik stimmen, sondern es müssen mindestens 50% der gesamten Belegschaft sein statt wie bisher 40%. Was »wichtige öffentliche Dienste« sind, wird nicht definiert, aber auch hier können wir davon ausgehen, dass die während der Corona-Lockdowns gefeierten systemrelevanten Beschäftigten dazu gehören.
  • Die Gewerkschaften müssen in Zukunft einen Arbeitskampf nicht nur zwei, sondern vier  Wochen im Voraus ankündigen.
  • Wenn in einer Urabstimmung die Mehrheit für einen Arbeitskampf stimmt, dann muss der Streik – wie jetzt schon vorgeschrieben – nicht nur innerhalb von sechs Monaten stattfinden, sondern soll auch auf eine einzige zeitlich zusammenhängende Aktion beschränkt werden. Wenn weitere Arbeitskampfmaßnahmen erforderlich sind, muss eine erneute Urabstimmung durchgeführt werden. Eine Gewerkschaft, die eintägige Streiks durchführen möchte, muss also für jeden einzelnen Streik eine neue Urabstimmung durchführen. Das Ergebnis wird natürlich sein, dass die Gewerkschaften längere Zeiträume mit kontinuierlichen Arbeitskämpfen bevorzugen werden.
  • Die Zahl der Personen, die an Streikposten teilnehmen dürfen, wird absolut begrenzt sein. Es ist nicht klar, wie die Gewerkschaft die Teilnahme von anderen Personen (oder auch Abgeordneten) zur Unterstützung der Streikposten kontrollieren soll.
  • Streikposten in der Nähe von »kritischen nationalen Infrastrukturen« werden untersagt. Auch hier ist davon auszugehen, dass dies alle Arbeitsplätze unserer systemrelevanten Beschäftigten einschließt. Krankenpfleger*innen werden also nicht in der Lage sein, ihre Krankenhäuser, Lehrer*innen ihre Schulen, Eisenbahner*innen ihre Bahnhöfe zu bestreiken, indem sie sich vor ihnen versammeln.
  • Aufrührerische und einschüchternde Sprache seitens der Streikposten soll verboten werden. Ein merkwürdiger Vorstoß, denn das ist schon jetzt untersagt – und zwar schon seit Jahrzehnten.
  • Online-Einschüchterungen bei Streiks sollen verboten werden. Warum die geltenden Gesetze in Bezug auf Arbeitskonflikte unzureichend sein sollen, in anderen Situationen dieser zusätzliche Schutz hingegen nicht benötigt wird, wird nicht gesagt.
  • Den Unternehmen wird es gestattet, laufende Tarifverhandlungen zu umgehen, indem sie den Beschäftigten an der gewerkschaftlichen Verhandlungskommission vorbei direkt ihr Angebot unterbreiten können. Das derzeitige Verbot solcher Direktangebote geht auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache Wilson und Palmer zurück, in dem das Recht auf Kollektivverhandlungen im Jahr 2002 bestätigt wurde.
  • Auf den Stimmzetteln für die Urabstimmung müssen nicht nur wie jetzt die Streikziele genannt werden, sondern auch die Positionen der Unternehmensseite.

Darüber hinaus hat Liz Truss vorgeschlagen, dass es für »kritische nationale Infrastrukturen« »maßgeschneiderte Mindestdienstleistungsniveaus« und maßgeschneiderte Mindestabstimmungsschwellen für Arbeitskampfmaßnahmen geben soll. Es ist nicht klar, ob das auch die Position von Shapps ist. »Kritische nationale Infrastruktur« ist vermutlich dasselbe wie Shapps' »wichtige öffentliche Dienstleistungen«. Für alle anderen Sektoren schlägt auch Truss vor, das derzeitige Quorum von 40% der Gesamtbelegschaft auf 50% zu erhöhen.

Und das ist noch nicht alles. Wie Shapps hat auch Truss vorgeschlagen, die Streikankündigung auf vier Wochen zu erhöhen. Aber es ist noch unklar, ob sie wie Shapps Arbeitskampfmaßnahmen innerhalb der derzeitigen Sechsmonatsfrist auf nur eine oder wenige Aktionen (womöglich mit dazwischen liegenden Abkühlungsphasen) beschränken will. Es bleibt abzuwarten, welche Variante ins Gesetz geschrieben wird. Die Sahnehaube ist sicherlich Truss‘ Vorschlag, dass die Gewerkschaften die Beiträge ihrer Mitglieder nicht mehr für die Zahlung von Streikgeld verwenden dürfen.

All diese Maßnahmen verstoßen gegen internationale Gesetze, die vom Vereinigten Königreich ratifiziert worden sind, und die für das Land verbindlich sind. Aber die Gewerkschaften und ihre Mitglieder werden nicht auf die Anwälte warten, um diese Maßnahmen anzufechten. Sie werden mit den Füßen abstimmen. Unsere Solidarität ist ihnen sicher. Genug ist genug.


Der Autor:

Lord John Hendy QC ist Vorsitzender des Institute of Employment Rights, das ein gewerkschaftliches Forum für Arbeitsrecht in der Rechtsform einer Stiftung ist, der die meisten Gewerkschaften des TUC sowie Arbeitsrechts-Spezialist*innen aus Wissenschaft und Praxis angehören. Lord John Hendy QC hat seit Anfang der 1980er Jahre britische Gewerkschaften in zahlreichen Arbeitsrechtskonflikten vertreten und beraten. Er ist Mitautor des Manifesto for Labour Law (2016), in dem eine umfassende Reform des britischen Arbeits- und Gewerkschaftsrechts vorgeschlagen wird. Seit 2019 gehört er dem Oberhaus des britischen Parlaments an und hat sich dort der Fraktion der Labour Party angeschlossen. Sein hier dokumentierter Beitrag (Übersetzung: Hinrich Kuhls) erschien zuerst in der Londoner Tageszeitung Morning Star in zwei Folgen mit den Titeln A transfer of wealth from labour to capital unparalleled since the 1930s (19.8.2022) und Has the time come to organise a general strike? (21.8.2022).

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