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14. August 2019 Roland Schneider

IWF kritisiert Ungleichheit und die Finanzpolitik im Lande des Exportweltmeisters

Foto: Werner Bayer/flickr.com (CC BY 2.0)

Im Jahr 1969 veröffentlichte Jörg Huffschmid als junger Ökonom eine empirische Analyse über Besitzverhältnisse und Herrschaftsstrukturen in der Bundesrepublik. Seine Befunde über die Zusammenhänge zwischen Kapitalakkumulation, Einkommensverteilung, Vermögenskonzentration, Wirtschafts- und Steuerpolitik veranlassten ihn, der damals weit verbreiteten Auffassung vom angeblichen Ende der Klassengesellschaft mit Nachdruck zu widersprechen.

Seine Analyse zeigte nicht nur, dass »das Vermögen der Bundesrepublik (…) sich zu einem sehr großen Teil im Besitz eines sehr kleinen Teils der Bevölkerung« befand und das »seine ertragsreichsten Teile, das Kapital- und Betriebsvermögen, (…) bei noch weniger Eigentümern konzentriert (sind)«.[1] Ebenso machte sie deutlich, dass die breite Masse der Bevölkerung »entweder ganz von der Vermögensbildung ausgeschlossen« blieb oder »sich allenfalls durch passives Sparen an ihr in geringem Umfang beteiligen« konnte.[2]

Ein halbes Jahrhundert später erfuhren diese Befunde eine unerwartete und aktuelle Bestätigungaus prominenter Quelle. Die neue, Anfang Juli 2019 veröffentlichte Ausgabe des Deutschland-Berichts des Internationalen Währungsfonds (IWF) vermerkt kritisch, dass die »Früchte« der starken Wirtschafts- und Beschäftigungsdynamik in Deutschland nicht gleichmäßig verteilt worden seien, weswegen Einkommens- und Vermögensungleichheit sowie außenwirtschaftliche Ungleichgewichte zugenommen hätten. »Der in den letzten zwei Jahrzehnten stark angestiegene deutsche Leistungsbilanzüberschuss ging einher mit einer starken Zunahme der Ungleichheit zugunsten der Top-Einkommen«, so der Bericht. Ursachen dafür liegen dem IWF zufolge in schwachen Gewerkschaften und Lohnzurückhaltung, steigenden Unternehmensprofiten und der Einbehaltung von Gewinnen durch Unternehmen, die sich vor allem im Besitz der reichsten Haushalte befinden, sowie in der wachstumsschwächenden Konsolidierung öffentlicher Haushalte.[3]

Soziale Spaltung: Die Kehrseite des Exportbooms

Mit Blick auf den Exportboom heißt es im Bericht: »Das Lohnwachstum in Deutschlang ist in den letzten 20 Jahren meist gering gewesen und hat sich erst in jüngster Zeit beschleunigt. Einkommenszuwächse an der Spitze der Einkommensverteilung waren in diesem Zeitraum stärker ausgeprägt, während die Kaufkraft im unteren Einkommensbereich stagnierte. Zugleich schlug sich ein wachsender Anteil des Volkseinkommens in Form von Ersparnissen innerhalb des Unternehmenssektors nieder, insbesondere bei Familienunternehmen und familiengeführten Unternehmen, deren Besitz sich stark auf wohlhabendere Haushalte konzentriert. Da einkommensstärkere Haushalte eine hohe Sparneigung haben dämpfte dies den privaten Konsum und verstärkte zusammen mit der Haushaltskonsolidierung den Anstieg des Leistungsbilanzüberschusses.«[4]

Die untere Abbildung macht diesen Sachverhalt anschaulich. Sie zeigt, dass der Leistungsbilanzüberschuss zwischen 1992 und 2016 um 9% des BIP zunahm und sich der Anteil der oberen 10% der Einkommensbezieher*innen um sechs Prozentpunkte erhöhte. Allerdings spricht einiges dafür, dass die vorliegenden Daten die Einkommens- und Vermögensanteile der oberen zehn Prozent zu niedrig ausweisen. Die Gründe dafür liegen in der meist unzureichenden Erfassung von Einkommen und Vermögen der reichsten Haushalte im Zuge von Erhebungen sowie in einer statistisch wie steuerlich unzureichenden Berücksichtigung einbehaltener Unternehmensgewinne.


Quelle: IWF/Süddeutsche Zeitung 10.7.2019

Ein IWF-Hintergrundpapier zur Vermögensungleichheit und privatem Sparen in Deutschland beleuchtet im Detail die Ursachen und Treiber der hohen Einkommens- und Vermögensungleichheit wie der Anhäufung von Leistungsbilanzüberschüssen. Es präsentiert dabei keine grundlegend neuen Fakten und Sachverhalte. Gleichwohl sind seine Befunde verteilungs- wie sozialpolitisch alarmierend:[5]

  • Der Median des Haushaltsvermögens in Deutschland gehört zu den niedrigsten im Euroraum. Das Nettovermögen der Haushalte in Deutschland liegt mit einem Median von 61.000 Euro knapp über dem Niveau in Polen, aber unter dem Niveau in Griechenland, Portugal und deutlich unter dem Median des Euroraums von 100.000 Euro pro Haushalt.
  • Im internationalen Vergleich ist die Vermögensungleichheit in Deutschland sehr hoch (gemessen als Anteil des obersten ein Prozent der Einkommensbezieher*innen am Gesamtnettovermögen). Sie gehört zu den höchsten in Europa: Der Anteil des obersten ein Prozent am gesamten nationalen Nettovermögen beläuft sich hier auf 24%.
  • Zwar ist die Einkommensungleichheit in Deutschland weniger gravierend als in einigen anderen großen Industrieländern (z.B. in Großbritannien, den USA, Japan und Korea), aber ihr Anstieg seit 1998 war sowohl beim Brutto- als auch beim verfügbaren Einkommen stark ausgeprägt. Der sich öffnenden Schere bei den Markteinkommen standen schwächere Umverteilungswirkungen der Steuer- und Sozialpolitik gegenüber.


Entwicklung der verfügbaren Haushaltseinkommen nach Dezilen

Quelle: DIW-Wochenbericht 19/2019; S. 346

  • Privates Wohnungseigentum, üblicherweise ein wichtiger Weg zum Aufbau von Haushaltsvermögen, ist in Deutschland sehr gering verbreitet. Unter den Ländern des Euroraums weist Deutschland die niedrigste Wohneigentumsquote auf. Als Spiegel der Vermögensungleichheit ist sie für Haushalte im unteren mittleren Segment der Einkommensverteilung besonders niedrig.
  • Vielen deutschen Haushalten fehlt der Zugang zu Eigen- bzw. Firmenkapital, da sich der Großteil des Firmenvermögens auf Privatunternehmen konzentriert. Im Gegensatz zu anderen entwickelten kapitalistischen Industrieländern werden in Deutschland Unternehmensvermögen und Profite überwiegend von Unternehmen in Privatbesitz erwirtschaftet (rund 60%). Viele mittelständische Unternehmen bleiben in privatem, oft familienkontrolliertem Besitz, auch wenn sie international expandieren und zu großen multinationalen Unternehmen heranwachsen. Selbst von den verbleibenden 40% der börsennotierten Unternehmen werden rund 65% überwiegend von einer Familie kontrolliert. Der größte Mehrheitsaktionär (in den meisten Fällen eine Einzelperson, Familie oder Stiftung) hält durchschnittlich 54,5% der Stimmrechte an einer deutschen börsennotierten Gesellschaft, verglichen mit 20-25% in Großbritannien und 31% in Schweden.
  • Privates Unternehmens- bzw. Betriebsvermögen ist in Deutschland stark konzentriert. Die reichsten 10% der Haushalte verfügen über rund 60% des gesamten Nettovermögens der Wirtschaft, davon entfallen 40% auf private Unternehmen.

 

IWF fordert expansivere Finanzpolitik und schnelleres Lohnwachstum

Deutschland verzeichnete 2018 den größten Haushaltsüberschuss seit der Wiedervereinigung (+1,7% des BIP) und hatte trotz deutlich abgeschwächtem Wachstum damit das fünfte Jahr in Folge einen Überschuss. Der vorhandene finanzpolitische Handlungsspielraum von Bund, Ländern und Gemeinden blieb damit, wie der IWF-Bericht kritisch vermerkt, ein weiteres Mal ungenutzt. Dadurch unterblieben nicht nur notwendige Investitionen zum Erhalt und Modernisierung der Infrastruktur sowie zur Stärkung des Innovations- und Wachstumspotenzials, auch die Binnennachfrage wurde geschwächt. Ohne die existierende »Schuldenbremse« – die inzwischen auch von konservativen Ökonomen kritisch beurteilt wird[6] – im Detail zu würdigen, legt der Bericht dar, dass sie zur Verringerung der öffentlichen Investitionsausgaben geführt hat. Ebenso hebt er hervor, dass Kürzung und Konsolidierung der öffentlichen Haushalte zu einer Verschlechterung der Infrastruktur in Deutschland geführt haben.

Vor diesem Hintergrund besteht aus IWF-Sicht die wichtigste wirtschaftliche Herausforderung für Deutschland darin, sein langfristiges Wachstumspotenzial zu steigern und gleichzeitig seine Wirtschaft wieder in ein angemessenes außen- und binnenwirtschaftliches Gleichgewicht zu bringen. Dazu empfiehlt der Bericht mit Nachdruck, Haushaltsüberschüsse und hohe Steuereinnahmen für spürbar höhere Investitionen in Sach- und Humankapital sowie zur Förderung von Innovationen zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung zu nutzen.

Zugleich empfiehlt er, die Abgabenbelastung für Haushalte mit niedrigem Einkommen zu verringern und so deren Kaufkraft zu stärken. Auch das steuerliche Ehegattensplitting in Deutschland gilt dem IWF weiterhin als reformbedürftig. Schon in seinem Jahresbericht 2018 hatte er dieses kritisiert. Der aktuelle Bericht plädiert deshalb erneut für eine Senkung des hohen effektiven Grenzsteuersatzes für Zweitverdiener, z.B. durch Ablösung des derzeitigen Ehegattensplittings durch einen Steuerfreibetrag oder eine Steuer-Gutschrift für Paare mit dem Ziel, die Vollzeitbeschäftigung von Frauen zu fördern.

Deutschland – kein Hochsteuerland für Vermögens und Unternehmenseinkommen

Für reformbedürftig gelten dem IWF ferner ebenso die Systeme der Grund-, Vermögens- und Erbschaftssteuer in Deutschland. Die Einnahmen aus diesen Steuern, die rückläufig sind und sich auf 1% des BIP belaufen, so der Bericht, sind »im Vergleich zu anderen OECD-Ländern niedrig« und tragen mit dazu bei, »dass die hohe Vermögensungleichheit fortbesteht«. Dies gilt besonders für die geltende Regelung der Erbschaftssteuer, bei der es sich um »um eine regressive Steuer (handelt)«, die »in erster Linie den Wohlhabenden zugute (kommt), weil sie die Befreiung von Unternehmensvermögen in Anspruch nehmen können, während durchschnittliche Familien aufgrund relativ niedriger Freibeträge und hoher Grenzsätze mit viel höheren Belastungen konfrontiert sind«.[7]

IWF hält höheren Mindestlohn für angemessen

Angesichts der hohen Exportüberschüsse Deutschlands ist es nicht überraschend, dass der IWF wirtschafts-, steuer- und lohnpolitischen Maßnahmen zur Steigerung des verfügbaren Einkommens, insbesondere bei Haushalten mit mittlerem und niedrigem Einkommen, besondere Bedeutung zubilligt. Sie tragen aus seiner Sicht dazu bei, ein integrativeres Wachstum zu fördern und den Abbau außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte zu beschleunigen. In bester keynesianischer Manier plädiert der IWF-Bericht deshalb für »ein schnelleres Lohnwachstum, das dem hohen Beschäftigungsstand entspricht«, als direktem Weg um das verfügbare Einkommen und die Binnennachfrage zu steigern. »Davon würden insbesondere Haushalte mit niedrigem und mittlerem Einkommen profitieren, die zur Finanzierung ihres Konsums hauptsächlich auf Arbeitseinkommen angewiesen sind. Jüngste Lohnerhöhungen sind daher zu begrüßen. Zugleich sollte die öffentliche Hand einen robusten Lohnanstieg unterstützen. Angesichts der angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt und des moderaten Mindestlohnniveaus sollte bei seiner Revision im Jahr 2021 eine stärkere Erhöhung des Mindestlohns in Erwägung gezogen werden.«[8]

Der Mittelstand – Verursacher der Ungleichheit?

Die hohen jährlichen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands sind schon seit Langem Gegenstand der Kritik. Nicht nur der IWF, auch die OECD, die Europäische Kommission und andere haben sie aus guten Gründen wiederholt kritisiert. Auf Einsicht und Verständnis ist diese Kritik in Deutschland bisher nicht gestoßen. Meist wurde sie heruntergespielt, so geschehen im Frühjahr 2019 in einem Gutachten des von ordoliberalen Ökonomen dominierten Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie zum Thema »Wirtschaftspolitische Probleme der deutschen Leistungsbilanz«.[9] Gelegentlich gab es aber auch patzige Reaktionen aus der Wirtschaft.[10]

Irritierte und teilweise verärgerte Reaktionen prägten auch die Medienberichterstattung über die aktuelle Ausgabe des IWF-Deutschland-Berichts. Die Süddeutsche Zeitung berichtete unter der Überschrift »Export-Boom verschärft soziale Unterschiede« eher sachlich über die zentralen Befunde der IWF-Analyse und die daraus abgeleiteten Empfehlungen. Dagegen titelte das Handelsblatt »IWF macht Familienunternehmen für Ungleichheit in Deutschland verantwortlich«. Und die WELT berichtete unter der Überschrift »Ausgerechnet der Mittelstand fördert die Ungleichheit in Deutschland«, dass die Ökonomen des IWF in ihrem Bericht »vor allem Familienunternehmen vor(werfen), mitverantwortlich zu sein« für die diagnostizierte steigende Ungleichheit.[11]

Angesichts der Medienberichterstattung zeigten sich viele Vertreter von Familienunternehmen sowie ihre ansonsten wenig zimperliche Lobbyorganisation verärgert und wiesen die vermeintliche Kritik des IWF empört zurück. In einem Gastbeitrag in der FAZ verwahrte sich der Vorsitzende des Vorstands der Stiftung Familienunternehmen, Brun-Hagen Hennerkes, gegen die nach seiner Auffassung provozierende und grob falsche Aussage, in Deutschland liege das größte Vermögen in der Hand von »Industriedynastien«. Der Bericht, zeige, dass dem IWF »wesentliche Erkenntnisse abhandengekommen sind«. Für ihn ist die »aktuelle Analyse des IWF (…) einseitig, unangemessen und fehlerhaft.« Die Tatsache, dass Familienunternehmen in Deutschland in vielfältiger Weise der Ungleichheit entgegenwirkten, widerlege die Behauptungen des IWF.[12]

Der Verband der Familienunternehmer, der sich als »starke Stimme des Unternehmertums« bezeichnet, brachte seine Empörung über den Deutschland-Bericht in einem offenen Schreiben an den amtierenden Geschäftsführenden Direktor des IWF, David Lipton, zu Ausdruck. Er wies jegliche (Mit)Verantwortung familiengeführter Unternehmen in Deutschland »für eine vermeintlich wachsende Vermögensungleichheit« zurück. Eine solche Behauptung sei »eine in der Sache nicht gut begründete und geradezu fahrlässig interpretierte Zuschreibung«.[13]

Im IWF-Bericht finden sich allerdings keine Belege für die vielfach kritisierte Verantwortungszuweisung. Stattdessen weist der Bericht wiederholt auf die hohe Ungleichheit von Vermögen und verfügbaren Einkommen sowie deren Konzentration auf die reichsten Haushalte hin. In dieser Hinsicht stimmt er mit vielen neueren Untersuchungen zur wachsenden Problematik der sozialen Spaltung in Deutschland überein. Mit seiner Analyse der Zusammenhänge von Kapitalakkumulation, Vermögenskonzentration, Einkommensungleichheit und Steuerpolitik sowie der Vorlage von Handlungsempfehlungen zugunsten einer sozial inklusiven Wirtschaftsentwicklung geht er jedoch über diese hinaus. Kurz: Der Bericht illustriert das aktuelle Wirken des Matthäus-Effektes, der in Deutschland dafür sorgt, »dass die Reichen reicher und die Armen ärmer werden«.[14]

Dazu, daran lässt der Bericht keinen Zweifel, tragen neben der privaten Aneignung von Profiten vor allem die Folge-Wirkungen der Unternehmenssteuerreformen in den Jahren 2001 und 2008 bei. Diese haben Gewinnreserven gegenüber Dividendenausschüttungen und Neuemissionen begünstigt und den Ausschüttungsanteil reduziert.[15] Das Schreiben des Verbandes der Familienunternehmer bestätigt dies. Es räumt ein, was der IWF-Bericht kritisch notiert hatte, nämlich das in Deutschland tatsächlich »ein im internationalen Vergleich erheblicher Teil des gesamten privaten Vermögens in Unternehmen gebunden (ist).« Dabei weist es zugleich darauf hin, dass die gegenwärtig »relativ geringe Erbschaftssteuer auf Betriebsvermögen« diesen eine »besondere Verschonung« gewährt.

Das Bestreben, diese auch für die Zukunft zu sichern, dürfte der eigentliche Anlass für die harsche Kritik des IWF-Berichtes durch Mittelständler und ihre Lobbyorganisationen gewesen sein. Die Sorge vor einer drohenden Reform der Erbschafts- und Vermögenssteuer veranlasste sie offensichtlich, gemäß dem Motto »Wehret den Anfängen!«, vor einer aus ihrer Sicht verderblichen Entwicklungen in der Steuerpolitik zu warnen. In der Tat sind diese Befürchtungen nicht grundlos – der IWF-Bericht präsentiert überzeugende Argumente für eine unumgängliche Reform der Erbschafts- und Vermögenssteuer! Sein Befund, dass Einkommenszuwächse zugunsten der Reichen und Vermögenden in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht zu den Lohanhängigen durchsickern, unterstreicht die Notwendigkeit einer verteilungspolitischen Korrektur der Einkommens- und Vermögensungleichheit in Deutschland. Die Diskussion um Steuergerechtigkeit, die der von Finanzminister Scholz vorgeschlagene Soli-Abbau ausgelöst hat, sollte genutzt werden, die dazu erforderlichen Schritte einzuleiten.

Der Deutschland-Bericht – Ausdruck einer Neuausrichtung des IWF?

Die aktuelle Ausgabe des Deutschland-Berichtes des IWF belegt, dass der Weg zu hohen und dauerhaften Leistungsbilanzüberschüssen mit hohen sozialen Kosten einherging. Sozial- und steuerpolitisch folgenreich ist sein Befund, dass Einkommenszuwächse zugunsten der Reichen und Vermögenden in einer Gesellschaft nicht zu den Lohanhängigen durchsickern. Einkommenszuwächse der Reichen können damit nicht länger (wie von der Trickle-down-Theorie behautet, auch bekannt als Pferdeäpfel-Theorie) als notwendige Voraussetzung für die Einkommenszuwächse beim Rest der Bevölkerung angesehen werden. Die Konsequenz: Eine inklusive Wirtschaftsentwicklung bedarf sozial- und steuerpolitischer Eingriffe zur Korrektur der Ungleichheit der Markteinkommen.

Das Plädoyer des IWF-Berichtes zugunsten einer inklusiven Wirtschaftsentwicklung hat nicht nur viele Journalist*innen, Mittelständler und ihre Lobbyorganisationen überrascht. Auch viele kritische Zeitgeister, vor allem auf der Linken, nahmen die Befunde einer vermeintlich neoliberalen Organisation verblüfft zur Kenntnis. Ihnen war entgangen, dass die Aktivitäten des IWF nicht mehr länger auf systemische Überwachung von globalen Finanzströmen und Zahlungsbilanzen, die rigorose Durchsetzung von Strukturanpassungen und die Bekämpfung von Kapitalverkehrskontrollen beschränkt sind. Seit der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise lässt sich seine allmähliche Neuausrichtung beobachten. Am Ende des Jahres 2008, als viele Regierungen noch verzweifelt versuchten, zusammenbrechende Finanzinstitute zu retten und die anhaltenden Folgen der Finanzkrise einzudämmen, verwies der IWF auf die Notwendigkeit, die sinkende Binnennachfrage zu stabilisieren und zu stärken. Um den krisenbedingten Rückgang sowohl der Nachfrage als auch der Produktion zu begrenzen, schlug er ein umfangreiches Konjunkturprogramm mit einem Volumen von 2% des globalen BIP vor.[16] Und seit 2012 hat der IWF wiederholt eingeräumt, auch im Zusammenhang mit dem Wirken der Troika in Griechenland, dass er die Schäden, die Kürzungen öffentlicher Ausgaben in einer kriselnden Wirtschaft anrichten, massiv unterschätzt hat.

Kurz, es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass der IWF die globale Wirtschafts- und Finanzkrise genutzt hat, um seine eigene Rolle und seine traditionellen Politikempfehlungen – bekannt als Washington Konsensus: Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung als Wege zu steigendem Wohlstand – auf den Prüfstand zu stellen. Auch wiederholt vorgetragene Mahnungen, dass die bislang ergriffenen Maßnahmen zur Re-Regulierung der Finanzmärkte nicht ausreichend seien, gehören dazu. Gleichwohl ist die Lern- und Reformfähigkeit des IWF bisher begrenzt geblieben. Der Widerspruch zwischen Befunden, Einsichten und Politikempfehlungen von IWF-Analysen einerseits und dem praktischen Handeln seiner Akteure zugunsten der Schwächung von Arbeitsmarktinstitutionen, Lohnabsenkungen, der Kürzung von Sozialausgaben in Krisensituationen andererseits unterstreicht dies. Gerade deshalb ist zu hoffen, dass der Prozess der Neuausrichtung des IWF anhält und eine umfassende Abkehr von der vormals durchgängig neoliberalen Ausrichtung erfolgt. Noch mehr ist aber zu hoffen und zu wünschen, dass die Befunde des aktuellen Deutschland-Berichtes Eingang finden in eine verteilungspolitische Korrektur der Einkommens- und Vermögensungleichheit.

Roland Schneider lebt nach langjähriger Tätigkeit für nationale und internationale Gewerkschaftsorganisationen in Düsseldorf. Er arbeitet in der Sozialistischen Studiengruppe (SOST) mit.


[1] Huffschmid, Jörg (1969): Die Politik des Kapitals. Konzentration und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik, Frankfurt, S. 36
[2] ebenda, S. 34
[3] IMF (2019a): Germany. 2019 Article IV Consultation, Washington, D.C., S. 29
[4] IMF (2019a): Germany. 2019 Article IV Consultation, Washington, D.C., S. 4
[5] IMF (2019b): Germany. Selected Issues. Wealth Inequality and Private Savings in Germany. Washington, D.C., S. 5ff.
[6] Ökonomen stellen Schuldenbremse infrage. Handelsblatt v. 26.2.2019
[7] IMF (2019b), S. 9.
[8] IMF (2019a); a. a. O., S. 11.
[9] BMWi (2019) Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Wirtschaftspolitische Probleme der deutschen Leistungsbilanz, Berlin.
[10] Angesichts einer Rüge des deutschen Exportwunders durch die EU-Kommission sagte der damalige Präsident des Industrieverbands BDI, Ulrich Grillo, »Wir können stolz sein auf diese Ohrfeigen.« Die Welt vom 18.11.2013.
[11] Die Welt; 11.7. 019 (www.welt.de/wirtschaft/article196683317/IWF-Ausgerechnet-der-Mittelstand-foerdert-die-Ungleichheit-in-Deutschland.html)
[12] Hennerkes, B.-H.: Familienunternehmen wirken Ungleichheit entgegen. FAZ v. 14.7.2019 (www.faz.net/aktuell/wirtschaft/familienunternehmen-wirken-der-ungleichheit-entgegen-16284576.html).
[13] Schreiben des Präsidenten und des Hauptgeschäftsführers des Verbandes DIE FAMILIENUNTERENEHMER vom 17.7.2019 (https://mt.familienunternehmer.eu/fileadmin/dateien/user_upload/dateien/famu/Brief_David_Lipton.pdf)
[14] Schrooten, M.: Reich wird, wer reich ist. Der Freitag. Ausgabe 30/2019 vom 24.7.2019
[15] In der den Bericht ergänzenden Analyse zur Vermögensungleichheit heißt es dazu: »Die Unternehmenssteuerreform 2008 hat die Steuerbelastung der Gewinnrücklagen deutlich reduziert und gleichzeitig den effektiven Steuersatz auf Dividenden, insbesondere für Personengesellschaften, leicht erhöht, was zu einem starken Anreiz für Unternehmen führt, ihre Gewinne nicht auszuschütten, sondern zu behalten.« (IMF 2019b, S. 11)
[16] Spilimbergo, Antonio, Steve Symansky, Olivier Blanchard, and Carlo Cottarelli (2008).Fiscal Policy for the Crisis, IMF Staff Position Note, December 29, 2008, SPN/08/

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