22. Dezember 2020 Redaktion Sozialismus: Von Blendern, Chaos und einer Chimäre
Johnsons erfolgreiche Zerstörung des United Kingdom
Boris Johnson verfügt über das große Talent, katastrophale Konstellationen mit rhetorischen Floskeln zu überdecken. Was die jüngsten Wirtschaftsdaten angeht, zog es der geniale britische Blender vor, seinen Finanzminister Rishi Sunak vorzuschicken.
»Ich habe vor einigen Monaten gesagt, dass harte Zeiten auf uns zukommen«, sagte Sunak dem Fernsehsender ITV. »Die heutigen Zahlen zeigen, dass die harten Zeiten da sind.« Der aktuelle britische Konjunktureinbruch erinnert historisch an aus Kriegszeiten gewohnte Rückgänge der Wirtschaftsleistung. Laut Regierung schrumpft die Wirtschaft im Jahr 2020 um 11,3% – das gab es seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr. Im zweiten Quartal ist die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas um 20,4% geschrumpft – nach einem Minus von 2,2% im ersten Quartal. Die Bank of England geht von einem deutlichen Aufschwung im dritten Quartal aus: Die Wirtschaft sei um 18% gegenüber dem Vorquartal gewachsen. Danach werde sich die Erholung wieder verlangsamen. Für das Gesamtjahr erwartet die Notenbank ein Minus von 9,5%.
Andere Expert*innen halten dies für zu optimistisch. Echtzeit-Indikatoren deuteten auf eine langsamere Erholung hin. Im Schnitt erwarten Ökonom*innen für das kommende Jahr ein Wachstum von 6%. Das Land steckt nun offiziell in der schwersten Rezession seit drei Jahrhunderten. Zwar hat die Krise alle Industriestaaten schwer getroffen, aber Großbritannien übertrifft sie alle.
Der konservative Finanzminister Sunak sagte dazu in einer Parlamentssitzung: »Unser Gesundheitsnotstand ist noch nicht vorbei und unser wirtschaftlicher Notstand hat gerade erst begonnen.« Zugleich prognostizierte er eine Erholung der britischen Wirtschaft von 5,5% im kommenden Jahr, sowie ein Wachstum von 6,6% im Jahr 2022. Demnach werde die britische Wirtschaft erst Ende des Jahres 2022 zum Vorkrisenniveau zurückkehren.
Die angekündigten Entlassungen werden doppelt so hoch sein wie während der Rezession nach der Finanzkrise 2008/09: Der Arbeitsmarkt in Großbritannien befindet sich in einer tiefen Krise. Mindestens 650.000 Menschen dürften zwischen Juli und Dezember 2020 ihre Jobs verlieren – so das Forschungsorganisation Institute for Employment Studies.
Mit der in Britannien verbreiten Mutation des Corona-Virus verschlechtert sich die ökonomisch-soziale Konstellation auf der Insel dramatisch, das Land gerät immer mehr in die Isolation. Mehrere Staaten verhängten Einreiseverbote, Frankreich schloss Seewege und den Eurotunnel. Premierminister Johnson hofft nach einem Telefonat mit dem französischen Präsident Emmanuel Macron auf eine rasche Wiederaufnahme des Warenverkehrs mit dem Festland. »Wir wollen das Problem so schnell wie möglich lösen.« Es müsse sichergestellt werden, dass Lastwagen in beide Richtungen »covid-frei« fahren könnten.
Die Gründe für den britischen Konjunktureinbruch sind vielfältig. Auf den ersten Blick erstaunt das Ausmaß, weil Johnson die Pandemie zu Beginn nicht ernst genommen hatte und im Unterschied zu seinen Kollegen in Italien und Spanien lange auf einen Shutdown verzichtet hatte. »Eine Rolle hat gespielt, dass der Shutdown im Vereinigten Königreich später kam und entsprechend später wieder gelockert wurde«, sagt Ifo-Chef Clemens Fuest. »Außerdem dürfte die rapide Ausbreitung des Virus Konsumenten und Investoren stärker verunsichert haben als in anderen Ländern.«
Ein zweiter Grund für den Rekordeinbruch ist der große britische Dienstleistungssektor. Er macht 80% der Gesamtwirtschaft aus. Der Sektor ist vom Shutdown besonders hart betroffen, die Abstandsregeln haben Branchen wie die Gastronomie, Kultur und Entertainment weitgehend stillgelegt. Der private Verbrauch fiel im zweiten Quartal um 23,1% gegenüber dem Vorquartal. Da die Bewegungsfreiheit der Menschen im zweiten Quartal eingeschränkt war, ist es nicht überraschend, dass die genannten Branchen die volle Wirkung des Shutdowns gespürt haben.
Die Investitionen sanken im zweiten Quartal um 25,5%. Dabei spielt auch der Brexit eine Rolle. Da sich in den Freihandelsgesprächen mit der Europäischen Union (EU) noch keine Einigung abzeichnet, bleibt die Unsicherheit über die künftige Handelsbeziehung zwischen den Partnern bestehen. Sollten die Gespräche scheitern, gelten ab Januar Zölle und Regeln der Welthandelsorganisation, was britische Unternehmen zusätzlich belasten würde.
Die beiden größten Risiken für die kommenden Monate sind die Pandemie und ein harter Brexit. Die Bank of England fürchtet, dass die erneute Pandemiewelle zu weiteren Ausgangsbeschränkungen führen und die Erholung bremsen könnte. Johnson hat in den vergangenen Wochen bereits lokale Lockdowns in Leicester und Manchester verhängt. Er ist inzwischen besonders vorsichtig, nachdem sein bisheriges Krisenmanagement scharf kritisiert worden war. Die Folgen der Rezession werden durch die Notprogramme der Regierung noch verdeckt. So liegt die Arbeitslosenquote weiterhin nur bei rund 4%. Das liegt daran, dass Millionen Brit*innen in Kurzarbeit sind.
Im Corona-Chaos deutet sich das Brexit-Chaos an. Großbritannien und die EU verhandeln seit Monaten über ein Austritts-Abkommen. Eine ursprünglich bis 20.12. geltende Deadline haben EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der britische Premier Boris Johnson noch einmal verlängert. Die Knackpunkte haben sich seit Monaten nicht geändert: Fischerei, fairer Wettbewerb und die Frage, wie Vereinbarungen im Streitfall rechtlich durchgesetzt werden. Am 31. Dezember ist Schluss: Großbritannien verlässt den EU-Binnenmarkt und die Zollunion. Daran werde auch der jüngste Corona-Ausbruch nichts ändern, stellte ein Minister klar.
Der Weg vom Referendum 2016 bis zu diesem harten Brexit in Sichtweite ist ein Weg voller gebrochener Versprechen – von Boris Johnsons Artikel im »Daily Telegraph«, in dem er fröhlich behauptete, dass »es weiterhin freien Handel und Zugang zum Binnenmarkt geben wird«, bis zu Handelsminister Liam Fox, der sagte, das Freihandelsabkommen mit der EU »sollte eines der einfachsten in der Geschichte der Menschheit sein«.
Timothy Ash verweist zu Recht auf ein Paradoxon: »Den ›Brexiteers‹ gelang es in einem Meisterstück von kognitiver Dissonanz, zwei unvereinbare Gedanken gleichzeitig zu vertreten: dass einerseits ›Europa‹ ein abscheuliches deutsch-französisches Komplott sei, um England in ein napoleonisches Imperium zu versenken, dass aber andererseits dieselben neuen Napoleons – auf Anweisung der deutschen Autoindustrie – verpflichtet wären, dem Vereinigten Königreich privilegierten, ungehinderten Zugang zum Binnenmarkt zu gewähren, damit die Briten – wie Boris Johnson so gern sagt – ihren Kuchen haben und gleichzeitig essen können.«[1]
Vier Jahre nach der Volksabstimmung und kurz vor dem definitiven Ende der Übergangsfrist, herrscht noch immer Unklarheit, wohin der Brexit eigentlich führen soll – das Ganze getoppt durch die harten Grenzschließungen gleichsam als Entree. Das Versprechen der Regierenden, der Brexit werde ein Kinderspiel sein, hat sich als grundfalsch erwiesen. Die Formel von Johnson und seinem langjährigen politischen Einflüsterer Dominic Cummings vom »Global Britain« ist kein Bild der künftigen Rolle des Landes, sondern eine lächerliche Karikatur – Phantasie- und Wunschbild, Chimäre und Märchen zugleich. Einerseits drückt sie die Träumereien einer niedergehenden Oberschicht aus, andererseits ist dies das Trugbild zur Beruhigung der prekären Lohnabhängigen.
»Global Britain« sollte als leitendende Vision der Rückkehr zu globalem Freihandel die Wähler*innen blenden. Denn die Wirklichkeit sah schon früh anders aus. Der Höhepunkt des multilateralen Freihandels ist überschritten. Die USA verfolgen seit 2016 einen strikten Kurs des »America first«, Strafzölle waren zentrales Element von Donald Trumps Außenpolitik. Dieser Kurs ist gescheitert und Boris Johnsons vermeintliche autoritäre Trump-Karte wurde abgewählt. Die Zukunftskonzeption der neuen Administration von Joe Biden und Kamala Harris gegenüber Großbritannien ist noch offen.
Regionale und bilaterale Handelsverträge regeln weithin den internationalen Wirtschaftsverkehr. Die Corona-Krise demonstriert die Bedeutung der internationalen Kooperation. Renationalisierung, protektionistische Handelsschranken und regionale Barrieren kanalisieren den Welthandel. Lieferketten sollen verkürzt und weniger verwundbar werden. Die WTO ist nur noch ein Schatten ihrer selbst, ihr Streitschlichtungsverfahren gelähmt. Die neue US-Administration muss die angeschlagene WTO, die WHO und die Weltklimakonferenz der Uno erst noch wieder zum Leben erwecken.
Die Weltwirtschaft schrumpft in diesem Jahr absehbar um mindestens 5%. Mit dem Brexit verlieren die Brit*innen den privilegierten Zugang zu einer der leistungsstärksten Regionalorganisationen. Sie müssen sich an anderer Stelle neue Märkte erschließen.
Die Hoffnung, die Kontrolle der nationalen Grenzen zurückzugewinnen, entpuppt sich als Illusion. Das Nordirland-Protokoll schafft für diesen Teil des Vereinigten Königreichs eine Zwitterrolle: ein Land, zwei Systeme. Nordirland bleibt Teil der Wirtschaftsordnung der EU ohne Mitspracherecht in Brüssel. »Take back control« mag für London gelten, für die Regionalregierungen im Vereinigten Königreich bedeutet der Brexit einen Kontrollverlust.
Der Brexit sollte dem Westminster-Parlament uneingeschränkte Souveränität zurückgeben. Das chaotische Auf und Ab der letzten Jahre hat das Ansehen dieses Parlaments beschädigt. Gegen seine Suspendierung im Herbst 2019 war es machtlos. Erst das Oberste Gericht konnte klären, dass sie rechtswidrig war. Der Brexit hat Großbritannien in eine Verfassungskrise gestürzt, die Machtbalance zwischen Parlament, Regierung, Krone und Volk ist gestört.
Und das Vereinigte Königreich droht auseinander zu brechen. Von dem erträumten glamourösen Bild eines Premiers Johnson bleibt die traurige Erinnerung an die erfolgreiche Zertrümmerung eines Great Britain. Die schottische Regierungschefin, Nicola Sturgeon, hält an ihren Plänen zum Beitritt Schottlands zur EU fest. Nach einem Unabhängigkeitsreferendum werde sie den bislang nördlichsten Teil Großbritanniens zügig in die EU führen, sagte sie europäischen Medien. Mehr als die Hälfte der Schott*innen wollten laut jüngsten Umfragen die Unabhängigkeit. Ein unabhängiges Schottland werde unmittelbar einen Antrag zur EU-Mitgliedschaft stellen. Allerdings braucht Schottland für ein Referendum die Zustimmung Londons. Sollte Boris Johnson ein Referendum nicht zulassen, schließt Sturgeon den gerichtlichen Weg nicht aus.
Johnson und sein mittlerweile unehrenhaft entlassener Berater Cummings wollten die Rolle von Parlament und Civil Service zurückdrängen und quasipräsidiale Vollmachten beim Premierminister konzentrieren. Erreicht haben sie, dass jetzt ein krankes, verarmtes und auseinandertriftendes Königreich nurmehr verwaltet wird und auf die britische Wirtschaft hohe Umstellungs- und Risikokosten zukommen. Die von ihnen in der politischen Kommunikation stark gemachte Vision eines »Global Britain« wurde in nur wenigen Monaten unter dem Druck der Corona-Pandemie und des politischen Abenteurertums von rechtsgewendeten Konservativen als Chimäre enthüllt.
In der griechischen Mythologie war die Chímaira eine Tochter der Ungeheuer Echidna und Typhon, ihre Geschwister waren die Hydra, der Kerberos und die Sphinx. Sie lebte in dem Ort Chimaira in Lykien, wo sie Mensch und Tier bedrohte. Homer beschreibt sie in der Ilias als feuerspeiendes Mischwesen mit drei Köpfen: dem eines Löwen, im Nacken dem einer Ziege, und als Schwanz hat sie den Kopf einer Schlange oder den eines Drachen. König Lobates gab Bellerophon, einem Enkel des Sisyphos, den Auftrag, die Chimära zu töten. Hierzu stellte ihm eine griechische Gottheit (Athene oder Poseidon) ihrerseits ein Mischwesen, das geflügelte Pferd Pegasus, zur Verfügung: Aus der Luft konnte er die Chimära mit seinen Pfeilen erlegen.
Dieser Schlussakt steht für Britannien freilich noch aus. Die britische Labour Party mag ein Mischwesen sein, aber ein erfolgreicher Enkel des Sisyphos wird noch gesucht.
Anmerkung
[1] Timothy Garton Ash, Was ist schlimmer für die EU – Großbritanniens Abschied oder Ungarns Bleiben?«, in: Tagesspiegel vom 10.12.2020.