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2. September 2022 Joachim Bischoff/Bernhard Müller: Kein Befreiungsschlag auf der Meseberg-Klausur

Kann die Ampel den Vertrauensverlust beheben?

Foto: Bundesregierung/Denzel

Die Ampel-Koalition ist seit Wochen auf der Suche nach wirksamer Entlastung für die wegen der massiven Kaufkraftverluste beunruhigten Bürger*innen. Steigende Gas- und Strompreise und die bedrohliche Gasumlage samt staatlicher Mehrwertsteuer verunsichern die Menschen wegen explodierenden Kosten des Lebensunterhalts.

Nicht erst seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind die Energiepreise in Deutschland hoch. Doch seit Kriegsbeginn haben die Preise für Strom, Gas, Heizöl, Benzin und Diesel über das ohnehin schon hohe Niveau hinaus einen deutlichen Sprung nach oben gemacht. Bei den Heizkosten sieht es noch schlimmer aus, vor allem beim Gas droht in vielen Fällen mindestens eine Verdoppelung der Kosten. Für viele Mieter*innen kommt der große Hammer erst mit der Nebenkostenabrechnung für 2022, die sie 2023 erhalten. Gegensteuern will die Bundesregierung mit sogenannten Entlastungspaketen: Nach einem Steuer- und einem Energie-Entlastungspaket soll nun ein drittes Paket folgen.

Die Bundesregierung hatte angesichts steigender Energiepreise in den letzten Monaten bereits einen umfangreichen Katalog von Entlastungen für die Bürger*innen beschlossen. So steigen die Entfernungspauschale, der Grundfreibetrag und der Arbeitnehmerpauschbetrag. Es wird ein Heizkostenzuschuss vor allem für Wohngeldempfänger*innen und Studierende mit BAföG gezahlt und die EEG-Umlage für Stromkunden fällt bereits seit dem 1. Juli 2022 weg.

Das Energie-Entlastungspaket von Ende Mai hatte einen Tankrabatt, das 9-Euro-Ticket und eine Energiepreispauschale zum Inhalt. Alle Arbeitnehmer*innen und Selbständigen mit Einkommen erhalten aus dem Energie-Entlastungspaket einmalig 300 Euro extra (brutto). Gedacht ist das Geld als sogenannte Energiepreispauschale, um besser die Rechnungen für Strom, Gas und Heizöl bezahlen zu können.

In der Tat verweist die »Koalition der Vernunft« auf diese »Kompensationen«. Vor allem die FDP hat beim dritten noch ausstehenden Paket auf die angespannte Finanzsituation des Bundes verwiesen. Über Monate prägten Streitereien über Gasumlage, über Ausgestaltung eines dritten Entlastungspakets und eine Übergewinnsteuer das öffentliche Erscheinungsbild der Ampel. Konsequenz: Die politische Stimmung verschlechtert sich. Die Zufriedenheit mit der rot-grün-gelben Koalition erreicht den schwächsten Wert seit Amtsantritt. In einer aktuellen Allensbach-Umfrage antworten nur 16% der Befragten, sie hätten sehr großes oder großes Vertrauen, dass die Bundesregierung die richtigen Maßnahmen gegen die steigenden Preise ergreift.

Wer vor diesem Hintergrund darauf gesetzt hatte, die Koalitionäre würden auf ihrer Klausurtagung in Meseberg einen Befreiungsschlag wagen, wurde enttäuscht. Man habe dort »Zukunftsfragen« erörtert und die »veränderte Weltlage sehr sogfältig bewertet«, so Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Außer einer »Digitalisierungsstrategie« und einer »Exzellenz-Initiative für die berufliche Bildung« wurden keine weiteren Beschlüsse gefasst. Scholz kündigte für die nächste Zeit »ein maßgeschneidertes« drittes Entlastungspaket gegen die steigenden Energiepreise an, ohne Details zu nennen.

Den engen finanziellen Rahmen für ein solches Entlastungspaket steckte in Meseberg noch einmal Finanzminister Christian Lindner (FDP) ab. Im laufenden Jahr stehe für eine Entlastung der privaten Haushalte noch eine »einstelliger Milliardenbetrag« zur Verfügung. Im nächsten Jahr könne es, eine Beteiligung der Bundesländervorausgesetzt, ein »zweistelliger Milliardenbetrag« sein.

Lindner ist entschiedener Gegner der Übergewinnsteuer, die Unternehmen, die von der Explosion der Energiepreise enorm profitieren, nach den Wünschen von Grünen, SPD-Linken und Gewerkschaften treffen soll. Immerhin: Der Finanzminister räumt ein: »Wir haben an den Strommärkten Spekulation«, und »wir haben an den Strommärkten Regeln, die eine Art politisch gemachten Rendite-Autopiloten etabliert haben«. Dieser Rendite-Autopilot müsse jetzt abgeschaltet werden, sagte Lindner zur Freude des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck, der sich für staatliche Eingriffe in den Strommarkt ausgesprochen hatte.

Ansonsten herrschte in Meseberg eitel Sonnenschein. Scholz versicherte, »alle Entscheidungen, die wir in den letzten Wochen und Monaten getroffen haben, sind dazu geeignet«, dass Deutschland gut durch den bevorstehenden Winter kommen könne. Und: »Als Regierung der Tat wollen wir weiter wirksam sein.« Wie Scholz gab auch Habeck nicht nur Zuversichts-Bekundungen ab, sondern lobte den Kanzler über den grünen Klee. Die Klausurtagung habe einmal mehr gezeigt, »wie gut es ist, dass Olaf Scholz diese Regierung führt«. Mit »Ruhe, Umsicht und Erfahrung« regiere er das Land. Das war zugleich eine stille Botschaft an die Unionsparteien, die immer wieder dafür werben, mit den Grünen und Habeck gemeinsame Sache zu machen.


Steigende Lebenshaltungskosten auf Rekordniveau

Der Hintergrund für den Vertrauensverlust der Ampel ist die deutliche Abschwächung der wirtschaftlichen Leistung und die massiv steigenden Lebenshaltungskosten, die durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und den daraus folgenden Wirtschaftskrieg einen zusätzlichen Schub erfahren haben. So ist die Inflation im Euroraum im August auf 9,1% gestiegen, im Juli hatte die Rate nach bei 8,9% gelegen. Damit ist das Preisniveau im Euroraum auf Jahressicht gestiegen wie noch nie in der Geschichte der Europäischen Währungsunion. Inflationstreiber waren weiterhin die Preise für Energie, aber auch Nahrungsmittel haben sich noch mal außergewöhnlich verteuert. So hat etwa auch Brot deutlich im Preis zugelegt.

In manchen Euroländern, wie den baltischen Staaten, liegt die Inflation inzwischen bei 20% und mehr. Zweistellig ist die Rate mittlerweile auch in Spanien und den Niederlanden. Deutschland liegt da eher noch im Mittelfeld, dennoch sorgen die stark gestiegenen Preise hierzulande bereits für die viel Empörung.

In Deutschland ist die Inflationsrate im August 2022 auf +7,9 % gestiegen. Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine sind insbesondere die Preise für Energie merklich angestiegen, im August 2022 lagen sie 35,6% höher als im Vorjahresmonat. Auch die Preise für Nahrungsmittel stiegen mit +16,6 % überdurchschnittlich. Deutliche Preisanstiege auf den vorgelagerten Wirtschaftsstufen wirken sich dabei preiserhöhend aus. Hinzu kommen die preistreibenden Effekte unterbrochener Lieferketten infolge der Corona-Pandemie. Mäßigende Sondereffekte wie das 9-Euro-Tickets und der Tankrabatt sind in den Ergebnissen bereits enthalten. In welchem Ausmaß sie sich genau ausgewirkt haben, lässt sich noch nicht darstellen.

Ab 1. September sind sowohl das 9-Euro-Ticket als auch die Benzinsteuer-Rabatte ausgelaufen. Das dürfte die Inflationsrate auf deutlich mehr als 8% steigen lassen. Hinzu kommt, dass bisher noch nicht alle Preissteigerungen von Haushaltsenergie im Großhandel an die Privathaushalte weitergegeben worden sind und ein weiterer drastischer Anstieg der Gas- und Strompreise, insbesondere dann, wenn Russland den Gashahn zudreht, nicht ausgeschlossen werden kann. Schließlich wird allein die Gasumlage die allgemeine Inflationsrate ab Oktober um zusätzlich 1,0 Prozentpunkt erhöhen, wenn darauf auch noch Mehrwertsteuer erhoben wird.

Ein Ende des Anstiegs der Lebenshaltungskosten ist noch gar nicht abzusehen. In vielen Haushalten flattern die Stromrechnungen erst gegen Ende des Jahres ins Haus. Dies stellt Studierende und Bezieher*innen von Sozialtransfer, Geringverdienerinnen, aber auch Haushalte mit mittleren Einkommen vor große Probleme, auch weil die Reallöhne deutlich gesunken sind.


Rückgang der Reallöhne trotz erhöhter Tarifabschlüsse

Die anhaltend hohe Inflation im 2. Quartal 2022 hat erneut zu einem Reallohnrückgang geführt: Zwar war der Nominallohnindex um 2,9% höher als im Vorjahresquartal, allerdings stiegen die Verbraucherpreise im selben Zeitraum um 7,6%. Dies ergibt einen realen (preisbereinigten) Verdienstrückgang von 4,4%. Schon im 1. Quartal 2022 waren die Reallöhne um 1,8% gesunken.

Unter Berücksichtigung der im 1. Halbjahr 2022 abgeschlossenen Tarifverträge und der in den Vorjahren für 2022 bereits vereinbarten Tariferhöhungen steigen die Tariflöhne in diesem Jahr nominal um durchschnittlich 2,9%. Vor dem Hintergrund der Inflation im ersten Halbjahr 2022 ergibt sich hieraus real ein Rückgang von 3,6%. Dies ist das Ergebnis der aktuellen Halbjahresbilanz, die das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung vorgelegt hat.[1]

Für knapp 11 Mio. Beschäftigte werden im Jahr 2022 Tariferhöhungen wirksam, die bereits 2021 oder früher in Tarifverträgen mit mehrjähriger Laufzeit festgelegt wurden. Hierzu gehören auch große Tarifbranchen wie z.B. der öffentliche Dienst oder der Einzelhandel. Diese älteren Abschlüsse wurden zu einem Zeitpunkt vereinbart, an dem noch von deutlich geringeren Inflationsraten ausgegangen wurde. Demnach schlagen diese Vereinbarungen für 2022 mit einer Tariferhöhung von lediglich 2,5% zu Buche.

Angesichts der im Zuge des Ukraine-Krieges deutlich gestiegenen Inflationsraten ist bei den im ersten Halbjahr 2022 erzielten Tarifabschlüssen auch ein Trend zu höheren Tarifzuwächsen erkennbar. Sie bleiben mit durchschnittlich 4,5% jedoch hinter der aktuellen Preisentwicklung zurück. Da insgesamt die Anzahl der bislang von den tarifvertraglichen Neuabschlüssen betroffenen Beschäftigten mit knapp über drei Mio. relativ gering ausfällt, ergibt sich zusammen mit den älteren Tarifabschlüssen für 2022 eine Tariferhöhung von insgesamt 2,9%.

»Nachdem die Tariflöhne in den 2010er Jahren real relativ deutlich zugenommen haben, drohen 2022 für viele Beschäftigte im zweiten Jahr in Folge Reallohnverluste«, sagt der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Thorsten Schulten.

Die Tarifrunde 2022 wird im zweiten Halbjahr durch eine Reihe weiterer Tarifverhandlungen komplettiert werden, die insgesamt die Tarifbilanz des Jahres noch verschieben können. Hierzu gehören einige Tarifbereiche, in denen bislang noch kein Verhandlungsergebnis erzielt werden konnte oder in denen im Frühjahr 2022 die Verhandlungen bewusst unterbrochen wurden, um sie im Herbst fortzusetzen (wie in der Chemischen Industrie). Hinzu kommen die im September startenden Verhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie sowie die Ende des Jahres beginnende Tarifrunde im Öffentlichen Dienst bei Bund und Gemeinden.

Schulten zufolge gab es in den letzten Jahrzehnten kaum eine Tarifrunde, die unter vergleichbar schwierigen Rahmenbedingungen stattfand: »Angesichts der vollkommen ungewissen Entwicklung des Ukraine-Krieges und seiner wirtschaftlichen Folgen ist die Tarifpolitik allein in vielen Branchen überfordert, die Kaufkraftverluste der Beschäftigten auszugleichen. Hier sind zusätzliche Entlastungsmaßnahmen durch den Staat notwendig.« Zugleich kritisiert der Tarifexperte die Maßhalteappelle an die Gewerkschaften: »Ein nüchterner Blick auf die Tarifdaten zeigt: Die vielbeschworene Lohn-Preis-Spirale ist eine Fata Morgana. Es besteht im Gegenteil die Gefahr, dass Reallohnverluste die private Nachfrage weiter schwächen und damit die wirtschaftliche Entwicklung zusätzlich beschädigen.«


Soziale Schieflage bei Energie-Entlastungspaketen

In einer aktuellen Studie haben Sebastian Dullien und Silke Tober vom IMK[2] die Wirkung der laufenden Entlastungspakete der Bundesregierung untersucht. Ihr Urteil: »sozial ausgewogen mit Nachbesserungsbedarf«. So werde eine durchschnittliche vierköpfige Familie mit zwei Erwerbstätigen und niedrigem Haushaltseinkommen für das Gesamtjahr 2022 um 1.060 Euro entlastet. Dabei musste diese Familie trotz der preislichen Entlastungen bei Strom, Kraftstoffen und im öffentlichen Nahverkehr von Januar bis Juli insgesamt 826 Euro zusätzlich für Haushaltsenergie, Kraftstoffe und Lebensmittel ausgeben.

Auf das Gesamtjahr gerechnet gehen die Forschenden davon aus, dass die staatlichen Hilfen die zusätzlichen Preisschübe bei Energie und Lebensmitteln für solche Familien zu 64% ausgleichen. Bei Familien mit zwei Erwerbstätigen und mittleren Einkommen sind es 54%, bei Alleinlebenden im Grundsicherungsbezug oder mit sehr niedrigen Erwerbseinkommen sind es 90% beziehungsweise 75%. Schwächer fällt die Entlastungswirkung bei Alleinerziehenden und Familien mit mittleren Einkommen aus, bei denen nur ein Elternteil erwerbstätig ist. Sie kommen auf 48% bzw. 44%.

Für Tober und Dullien leiden die bisherigen Entlastungspakete vor allem daran, dass Haushalte von Nicht-Erwerbstätigen mit geringem Einkommen kaum entlastet werden, sofern sie keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben oder diesen nicht geltend machen. So erhält eine alleinlebende Person im Ruhestand ohne Wohngeldanspruch mit einem Nettoeinkommen von unter 900 Euro nur für 10% der zusätzlichen Belastung einen Ausgleich. Es bestehe »daher ein dringender Nachbesserungsbedarf im Bereich niedriger Einkommen, die oberhalb der Grenze für Sozialleistungen liegen«. Weitere staatliche Hilfen im Herbst seien notwendig.


Herkulesaufgabe

Die Ampel-Koalition steht also im Herbst vor einer Herkulesaufgabe: Einerseits geht es um Kompensationen für die unteren und mittleren Einkommen für ihre steigenden Lebenshaltungskosten (Energie, Lebensmittel, Wohnen). Sie tragen die Hauptlast der Veränderung in den Verteilungsverhältnisse. Aber auch viele kleinere und mittlere Unternehmen sind durch die Preisexplosion in ihrer Existenz bedroht, und brauchen Unterstützung. Kommen solche Kompensationen nicht, droht eine wirtschaftliche Rezession, aus der der Ausweg lang und teuer wird.

Schon jetzt hinterlässt die Kaufzurückhaltung vieler Konsument*innen tiefe Spuren, die Konjunkturaussichten verdüstern sich zunehmend. Für das dritte Quartal rechnet das DIW bereits mit einem sinkenden Bruttoinlandsprodukt, gleichzeitig dürften die Verbraucherpreise weiter steigen. Auch die Dienstleistungsbranche kann die Wirtschaft nicht mehr stützen.

Einen gewichtigen Anteil an der Kostenexplosion haben sicherlich die Folgen des Ukraine-Kriegs. Aber für die große Dürre in Europa und das Niedrigwasser vieler Flüsse, wie etwa dem Rhein, ist nicht Putin verantwortlich. Diese Folgen des Klimawandels verweisen vielmehr auf das zweite große Projekt, das zwar immer eine Herzensangelegenheit von Grünen und auch SPD war, bei dem die Ampel aber in den letzten Monaten nicht selten den Rückwärtsgang eingelegt hat: die sozial-ökologische Transformation, ohne die eine Stabilisierung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesse nicht möglich sein wird.

Die dringend notwendige forcierte Umstellung auf regenerative Energie wird nur gelingen, wenn dieser Prozess auf nationaler wie europäischer Ebene politisch gesteuert wird und dafür auch die notwenigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. In diesem Transformationsprozess können dann auch Stadtwerke eine wichtige Rolle spielen.

Innerhalb der Ampel gibt es also reichlich politischen Zündstoff bei der Bewältigung der Krisenkonstellation, wobei unklar bleibt, wie bei den von Scholz akzeptierten Rahmenbedingungen (Schuldenbremse) Lösungen gefunden werden können, die sowohl den Interessen von Lohnabhängigen und Sozialleistungsempfänger*innen gerecht werden als auch der sozial-ökologischen Transformation Rechnung tragen. Die von Lindner statt einer Übergewinnsteuer akzeptierte Abschaltung des Rendite-Autopiloten auf dem Strommarkt löst die festgefahrene Debatte über die Abschöpfung bei den Übergewinnen auf.

Die Bundesregierung will sich in die Richtung bewegen, die schon mehrere andere europäische Länder eingeschlagen haben. Sie will die Zusatzgewinne von Energieunternehmen abschöpfen, die von den hohen Marktpreisen profitieren, aber nicht in jedem Fall auch höhere Kosten haben. Auf die Frage, was das Abschalten des Rendite-Autopiloten von einer Übergewinnsteuer unterscheidet, wissen die Liberalen allerdings keine überzeugende Antwort.

Angesichts immer weiter steigender Energiepreise hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Reform des europäischen Strommarkts angekündigt. Die Kommission arbeite an einer »Sofortmaßnahme und an einer strukturellen Reform des Strommarkts«. Die explodierenden Strompreise zeigten jetzt die Grenzen des »derzeitigen Strommarktdesigns«, das für »andere Umstände« entwickelt worden sei.

Über die Politik der Ampel und ihre Fortexistenz entscheidet nicht zuletzt, ob es gelingt, ein Bündnis aus Sozialverbänden, Gewerkschaften und politischer Linken zu formieren, um unter den extrem schwierigen Rahmenbedingungen die Interessen der Lohnabhängigen, der Rentner*innen, der Empfänger*innen von Sozialleistungen und der Studierenden zu verteidigen. »Wie gut oder schlecht unsere Gesellschaft und Wirtschaft diese Krise meistern werden, hängt von entscheidenden Fragen ab: wie stark die Solidarität innerhalb unserer Gesellschaft in den kommenden, schwierigsten Monaten dieser Krise sein wird. Ob die stärksten Schultern bereit sein werden, die größte Last zu tragen.« (DIW-Chef Marcel Fratzscher)

Deshalb fordert etwa die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi echte Entlastungen: »Wir erwarten von der Politik ein drittes Entlastungspaket, und zwar explizit auch für diejenigen, die keine Arbeit haben: Rentner, Studierende, Arbeitslose. Es ist doch furchtbar, dass Menschen wegen ihrer Strom- und Gasrechnung überlegen müssen, welches Gemüse sie sich noch leisten können. Wir brauchen dringend einen Energiepreisdeckel für Privathaushalte.« Das würde heißen, dass für jeden Erwachsenen und jedes Kind ein Grundbedarf für Strom und Gas festgelegt wird. Für diese Menge gibt es eine Preisgarantie. Für Energie, die jemand darüber hinaus verbraucht, muss er oder sie mehr zahlen. Damit gibt es eine deutliche Entlastung vor allem für Haushalte mit kleinem Einkommen.

Mit der Arbeit von Kanzler Scholz sind laut einer kürzlich veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa für die »Bild am Sonntag« 62% der Bürger*innen unzufrieden, 65% bewerten die Arbeit der Bundesregierung negativ. Seit Anfang März haben sich die Zahlen deutlich verschlechtert. Die Ampel-Koalition sieht die kritische Konstellation: Mit den anhaltenden Kaufkraftverlusten verschiebt sich das Verteilungsungleichgewicht weiter. Die Aufgabe muss daher sein: Erstens muss die Koalition dafür sorgen, dass Menschen im Winter nicht in eine Abwärtsspirale hineingeraten. Zweitens dürfen die Menschen nicht das Gefühl bekommen, dass sie zurückstecken müssen, während sich andere die Taschen voll machen.

Mit einer Krisenpolitik, die vor allem auf Gerechtigkeit setzt, kann nicht nur der sozialen Frieden gesichert werden, sondern zugleich auch die liberale Demokratie. Die allermeisten sind bereit, ihren Teil beizutragen, wenn auch die mit viel Geld, die die viel haben, ihren Beitrag leisten würden. Wenn aber das Gefühl einer gemeinsamen Kraftanstrengung verloren geht, besteht die Gefahr, dass sich Menschen vom demokratischen System abwenden.

Bleiben wirksame Entlastungen aus, wird die soziale Basis der Ampel-Koalition weiter erodieren. Dabei wird es dann aber nicht bleiben. Wir werden in diesem Fall wachsende Proteste aus der Bevölkerung gegen die existenzbedrohliche Situation – Gasknappheit, Energie-Schwierigkeiten, Versorgungsschwierigkeiten, möglicherweise Rezession, Arbeitslosigkeit, aber auch wachsende Armut bis hinein in die Mittelschicht – im Herbst sehen. Die politische Rechte ist schon in den Startlöchern, um diese Not- und Mängellage für ihre Interessen zu instrumentalisieren.

Anmerkungen

[1] Zwischenbilanz des WSI-Tarifarchivs: Nach den bislang vorliegenden Abschlüssen steigen die Tariflöhne 2022 durchschnittlich nominal um 2,9%, nach Abzug der Inflationsrate sinken sie real um 3,6%, WSI-Pressedienst vom 23.8.2022.
[2] IMK-Pressedienst 16.8.2022, Monitor liefert neue Daten für verschiedene Haushalte Inflation: Familien mit niedrigen Einkommen weiter am stärksten belastet – Steuererleichterungen helfen Ärmeren relativ wenig; Sebastian Dullien/Silke Tober: IMK Inflationsmonitor – Preisanstiege bei Haushaltsenergie und Nahrungsmitteln dominieren Inflationsunterschiede im Juli 2022. IMK Policy Brief Nr. 128, August 2022.

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