Hajo Funke
AfD-Masterpläne
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176 Seiten | EUR 14.80
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Peter Wahl
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Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden
Eine Flugschrift
100 Seiten | Euro 10.00
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Heiner Dribbusch
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Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

26. Juli 2019 Otto König/Richard Detje: Tarifabschlüsse im Einzelhandel

»Keine Entzückungsrufe«

Foto: Marco Verch/flickr.com (CC BY 2.0)

Mehrere tausend Beschäftigte hatten über Wochen hinweg im nordrhein-westfälischen Einzelhandel wiederholt die Arbeit niedergelegt für ihre Forderung nach 6,5%, mindestens aber 163 Euro mehr Entgelt.

Das Mindesteinkommen sollte künftig 2.100 Euro betragen. Für die Auszubildenden wurde eine Erhöhung um 100 Euro gefordert. Die Laufzeit des neuen Tarifvertrags sollte zwölf Monate nicht überschreiten. Ein wichtiges Ziel in der Tarifrunde war außerdem die Verständigung über die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge, um der Tarifflucht von Unternehmen – darunter Kaufhof, Karstadt und Real – einen Riegel vorzuschieben. Die Branche umfasst bundesweit laut Handelsverband HDE in einer weiten Abgrenzung mehr als 338.000 Unternehmen mit über 3,7 Mio. Beschäftigten, die einen Umsatz von mehr als 565 Mrd. Euro erwirtschaften.

Anfang Juli 2019 einigten sich die Arbeitgeber und die Gewerkschaft ver.di für die 487.000 sozialversicherungspflichtig und 205.000 geringfügig Beschäftigten im Tarifgebiet NRW auf einen Tarifabschluss. Die Eckpunkte des Pilotabschlusses, der abgesehen von kleinen Nuancen, mittlerweile in allen weiteren Tarifgebieten übernommen wurde, lauten:

  • Die Löhne und Gehälter für die Beschäftigten, die bis zur Gehaltsgruppe der Verkäuferin im letzten Berufsjahr (2.579 Euro in Vollzeit) eingruppiert sind, werden ab dem 1. Juli 2019 um 3% erhöht.
  • Für alle Beschäftigten in höheren Entgeltgruppen gibt es einen Festbetrag in Höhe von 77,50 Euro.
  • Ab dem 1. Mai 2020 bekommen alle Beschäftigten weitere 1,8% mehr.
  • Die Ausbildungsvergütungen werden zum Beginn des Ausbildungsjahres 2019 überproportional zwischen 45 Euro und 60 Euro und zu Beginn des Ausbildungsjahres 2020 zwischen 50 Euro und 80 Euro erhöht.
  • Die Laufzeit des Tarifvertrages beträgt 24 Monate. Mit der Forderung nach einer Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge der Branche konnte sich ver.di nicht durchsetzen.

Ver.di interpretiert den Tarifabschluss mit kritischem Blick auf den Zustand der Branche als »Erfolg der Beschäftigten, die sich aktiv in dieser Tarifrunde dafür eingesetzt haben«. Es sei erstmals gelungen, »für die unteren Entgeltgruppen leicht überproportionale Erhöhungen durchzusetzen«. Das erreichte Volumen könne »aller Wahrscheinlichkeit nach reallohn-steigernd sein«, sofern die Teuerungsrate nicht deutlich über zwei Prozent ansteige, erklärte der baden-württembergische ver.di-Verhandlungsführer Bernhard Franke.

Das Resultat könne der Gewerkschaft jedoch keine »Entzückensrufe« entlocken, da die strukturellen Probleme der Branche nicht gelöst werden konnten. So sei das Ziel eines tariflichen Mindesteinkommens nicht durchsetzbar gewesen. In den untersten zwei Stufen gebe es nach wie vor Löhne, von denen man nicht leben könne. »Das sind Jobs, bei denen die Leute Aufstockungsleistungen nach Hartz IV beantragen können«, erklärte der Landesfachbereichsleiter gegenüber der Stuttgarter Zeitung 09.7.2019).

Schon die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag im Frühjahr hatte auf diesen Tatbestand hingewiesen. Von den gut drei Millionen Beschäftigten im Einzelhandel (engere Abgrenzung) arbeiten knapp eine Million zu Niedriglöhnen. »Während in der Gesamtwirtschaft die Zahl derjenigen zurückgegangen sei, die ihren Lohn mit Hartz IV aufs Existenzminimum aufstocken müssten, sei er im Einzelhandel gestiegen, um 13% auf 68 000.« (SZ, 27.7.2019)

Dabei ist der Einzelhandel keine Branche, in der die Unternehmen darben. Seit 2015 zeigen sowohl die HDE-Konjunkturumfrage wie auch die realen Umsatzzahlen nach oben – bis 2017 mit Wachstumsraten zwischen drei und gut vier Prozent. Auch für das laufende Jahr wird mit realen Umsatzzuwächsen gerechnet (Abbildung "Einzelhandelsumsatz"). Von 2015-2019 dürften die Umsätze um knapp 60 Mrd. Euro steigen.



Die Feststellung von ver.di-Seite, dass es in der Tarifrunde gelungen sei, »die Arbeitgeber zu ärgern«, klingt nicht nur defensiv, sondern offenbart zugleich die organisationspolitische Schwäche von ver.di, deren Organisationsgrad im Einzelhandel bei rund zehn Prozent liegt. Den Fakt des niedrigen Organisationsgrades kalkulieren die Arbeitgeber in ihrer Tarifpolitik ein, Streikaktionen der Gewerkschaftsmitglieder können sie deshalb relativ gelassen entgegensehen.

Die Organisationsentwicklung ist wiederum in hohem Maße Ausdruck der Beschäftigungsstruktur in der Branche. Von den insgesamt gut drei Millionen Beschäftigten ist nur ein gutes Drittel (1,17 Millionen) in Vollzeit beschäftigt, ein weiteres Drittel in Teilzeit. Über 800 Tsd. sind im Einzelhandel nur geringfügig beschäftigt – es versteht sich von selbst, wie schwierig unter diesen Bedingungen gewerkschaftliche Mitgliederkampagnen zu organisieren sind.

Die Durchsetzungskraft von ver.di in den Tarifverhandlungen wird zusätzlich durch die abnehmende Tarifbindung im Einzelhandel erschwert (Abbildung "Tarifbindung im Einzelhandel"). Bereits zur Jahrtausendwende hatte sich die Arbeitgeberseite von der Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge verabschiedet und damit eine Tarifflucht ausgelöst. Nur noch jedes vierte Unternehmen (23%) war zuletzt laut einer Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung tarifgebunden. Während in der Gesamtwirtschaft 2018 rund 54% der Beschäftigten in einem tarifgebundenen Unternehmen tätig waren, waren es im Einzelhandel nur 36%. Die Tarifflucht, hat nochmals an Fahrt gewonnen, nachdem sich die Handelsriesen Kaufhof und Real[1] des Flächentarifvertrags entledigt hatten.

So gilt beispielsweise der neue Flächentarifvertrag für NRW nur für rund 40% der Beschäftigten, und zwar für jene, die in tarifgebundenen Unternehmen wie den Discountern Aldi, Penny, Netto und in den Metro-Großmärkten beschäftigt sind. Die beide Handelsketten Lidl und Kaufland, die zur Schwarz-Gruppe gehören, zahlen über Tarif (WAZ, 3.7.2019). Anders sieht es bei den großen Supermarktketten Edeka und Rewe aus: Zum einen sind sie »genossenschaftlich« organisiert, zum anderen setzen sie auf eigenständige Kaufleute, die laut ver.di in der Regel nicht tarifgebunden sind. Bei Edeka gilt das für rund 80% und bei Rewe für etwa die Hälfte der Supermärkte. Nur in den zentral gesteuerten Filialen gilt der Flächentarif.

Die vielen kleineren Händler sind in der Mehrheit nicht tarifgebunden. Doch viele von ihnen orientieren sich an den Flächentarifverträgen und übernehmen diese ganz oder teilweise durch eine entsprechende Vereinbarung im Arbeitsvertrag. Auf diese Weise hat der Branchentarifvertrag Einzelhandel 2018 nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) für weitere 37% (West) bzw. 37,5% (Ost) der Beschäftigten Anwendung gefunden. Dabei gibt es nach Angaben von ver.di unterschiedliche Praktiken. »Viele zahlen ein monatliches Entgelt nach Tarif, sparen aber an den Sonderzahlungen«, so die ver.di-Verhandlungsführerin im Handel NRW, Silke Zimmer.

Das ist auch der Hintergrund, warum die Forderung nach einer Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge im Einzelhandel auch in dieser Tarifrunde für die Gewerkschaft erneut eine zentrale Rolle eingenommen hatte, aber letztlich doch nicht durchgesetzt werden konnte. »Eine Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge ist mit uns auf gar keinen Fall zu machen«, betont die Hauptgeschäftsführerin des Handelsverbandes Baden-Württemberg, Sabine Hagmann. Zum einen sei dies ordnungspolitisch ein massiver Eingriff in die Tarifautonomie und stelle eine Einschränkung der negativen Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz dar, und zum anderen seien die Mantel- und Entgeltverträge »in Teilen völlig veraltet und müssten überarbeitet werden«. Unter »Modernisierung« versteht die Arbeitgeberseite jedoch im Wesentlichen eine weitergehende »betriebliche Öffnung« der Tarifverträge im Einzelhandel. Das hieße, den Flächentarifvertrag als Rahmen bestehen zu lassen, seine innere Erosion jedoch voranzutreiben – auf Kosten branchenweit vergleichbarer Entgelt-, Arbeits- und Arbeitszeitbedingungen.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) kann einen Tarifvertrag auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären, wenn die AVE im öffentlichen Interesse geboten erscheint, heißt im Paragraf 5 des Tarifvertragsgesetzes. Das öffentliche Interesse liegt in der Regel vor, wenn der Tarifvertrag entweder in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat. Hier schlummert jedoch ein immenses Problem, wenn die Tariferosion bereits so weit vorangeschritten ist, dass 62% der im westdeutschen und 75% der im ostdeutschen Einzelhandel Beschäftigten außerhalb der unmittelbaren Tarifbindung arbeiten. Tarifflucht kann also auch die AVE ausbremsen!

Hinzu kommt: Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung setzt ein Einvernehmen mit dem Tarifausschuss voraus, der aus je drei Vertretern des Arbeitgeberverbandes und der Gewerkschaft besteht. Das Veto-Recht der Arbeitgeber kann jegliche positive Entscheidung verhindern. Deshalb fordert ver.di von der Bundesregierung, die Blockademöglichkeit der Arbeitgeber in den paritätisch besetzten Tarifausschüssen aufzuheben. Wenn der Gesetzgeber die im bestehenden Rechtsrahmen vorgesehene Zustimmung des Arbeitgeberlagers nicht beseitigt, wird man lange auf einen (wieder) allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag warten müssen.[2]

Doch letztlich kommt die gewerkschaftliche Interessenvertretung nicht um eine Stärkung ihrer Organisationsmacht herum, um den Sumpf der tarifvertragsfreien Zonen auch im Einzelhandel trockenzulegen bzw. die Handelsriesen wieder in den Flächentarif zurück zu zwingen. Deshalb investiert ver.di zurecht in »Organizing«-Maßnahmen. Dabei könnte aber auch ein anderes institutionelles Instrument helfen, das kampagnefähig sein könnte: Tarifflucht darf nicht länger als »Kavaliersdelikt« verharmlost, sondern muss als ein Verstoß gegen demokratische Grundprinzipien politisch skandalisiert werden. Nicht nur im Einzelhandel, sondern in allen Branchen. Eine wahrlich einheitsgewerkschaftliche Aufgabe!


[1] Vgl. Otto König/Richard Detje: »Real(e) Tarifflucht«. Widerstand gegen Lohndumping bei der Metro-Tochter Real, Sozialismus Aktuell 7.8.2018.
[2] Derzeit sind von den rund 73.000 im Tarifregister des BMAS eingetragenen Tarifverträgen über alle Tarifbereiche hinweg nur 443 (= 0,6%) für allgemeinverbindlich erklärt.

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