29. November 2023 Adam Tooze: Kompensationsfonds für Klimaschäden als COP28-Thema
Klimanotstand und globale Ungleichheit
Der Klimanotstand geht mit einer dreifachen Ungleichheit einher. Es handelt sich um eine Krise neuen Typs. Weltkonferenzen wie die Klimakonferenz COP28 mögen nüchtern und ritualisiert erscheinen. Aber sie sind und bleiben wichtig.
Betrachtet man eine Klimakarte der Welt, in der wir in 50 Jahren leben werden, so erkennt man ein Band extremer Hitze, das sich um die Mitte der Erde zieht. Klimamodelle, die vor drei Jahren erstellt wurden, zeigen, dass in einem halben Jahrhundert etwa 30% der prognostizierten Weltbevölkerung – sofern sie ihren Lebensraum nicht schon vorher verlassen mussten – an Orten mit einer Durchschnittstemperatur von über 29°C leben werden.[1] Das ist eine unerträgliche Hitze. Derzeit ist nicht mehr als ein Prozent der Landfläche der Erde so heiß, und das sind vor allem unbewohnte Teile der Sahara.
Das Szenario ist deshalb so dramatisch, weil in den von der Erderwärmung am stärksten betroffenen Regionen der Welt – vor allem in Afrika südlich der Sahara – in den kommenden Jahrzehnten das stärkste Bevölkerungswachstum zu erwarten ist.
Trotz dieses Bevölkerungswachstums sind dies aber auch die Regionen, die bei den derzeitigen Trends am wenigsten zu den Emissionen beitragen werden, die die Klimakatastrophe verursachen. Die Ungleichheit ist so groß, dass die ärmsten 50% der Weltbevölkerung – vier Milliarden Menschen – nur 12% der Gesamtemissionen verursachen.[2]
Die Emissionen der Menschen am unteren Ende der Einkommensskala fallen kaum ins Gewicht. Die CO2-Emissionen pro Kopf betragen in Mali nur ein Fünfundsiebzigstel der Emissionen der USA.[3] Selbst wenn das einkommensschwächste Drittel der Weltbevölkerung – mehr als 2,6 Milliarden Menschen – über die Armutsgrenze von 3,20 US-Dollar pro Tag käme, würde das die Gesamtemissionen nur um 5% erhöhen. Und das wäre gerade mal ein Drittel der Emissionen, die das reichste Prozent der Einkommensskala (80 Millionen Menschen) verursacht.[4]
Die Hälfte der Weltbevölkerung – angeführt von den oberen 10% der Einkommensverteilung und vor allem von der globalen Elite – treibt ein globales Produktionssystem an, das die Umwelt für alle destabilisiert. Die ärmsten Menschen leiden am stärksten unter den Folgen, die sich in den kommenden Jahrzehnten noch verschärfen werden. Aufgrund ihrer Armut können sie sich aber kaum schützen.
Das ist die dreifache Ungleichheit in der globalen Klimagleichung:
- Ungleichheit in der Verantwortung für die Entstehung des Problems,
- Ungleichheit in der Betroffenheit von den Auswirkungen der Klimakrise und
- Ungleichheit in den verfügbaren Ressourcen für Klimaschutz und Anpassung.
Nicht alle Menschen in der Gefahrenzone des Klimawandels sind arm und schutzlos. Der Südwesten der USA hat die Ressourcen, sich selbst zu helfen. Indien als Staat hat gewisse Kapazitäten. Aber die globale Erwärmung wird enorme Verteilungsprobleme aufwerfen. Wie werden die Klimaflüchtlinge umgesiedelt? Wie wird sich die Wirtschaft anpassen?
Schwache Staaten wie der Irak könnten überfordert sein. Es besteht die Gefahr, dass sie von der reinen Gefahrenabwehr in den totalen Kollaps abgleiten, weil sie nicht in der Lage sind, Wasser und Strom für die Kühlung bereitzustellen, die bei extremer Hitze überlebenswichtig sind. Im Irak saßen in diesem Sommer Tausende von Menschen in ihren klimatisierten Autos und ließen die Motoren stundenlang laufen, um Hitzespitzen von über 50°C zu überstehen.
Alles wie immer, könnte man sagen: Die Armen leiden, den Reichen geht es gut. Doch die Folgen der klimabedingten dreifachen Ungleichheit sind radikal und neu. Die reichen Länder haben mit den armen Ländern schon lange unter ungleichen Bedingungen gehandelt. Während des Kolonialismus plünderten sie Rohstoffe und versklavten Millionen von Menschen. Nach der Entkolonialisierung ging das Wirtschaftswachstum zwei Generationen lang weitgehend an der damals sogenannten Dritten Welt vorbei.
Seit den 1980er-Jahren hat sich mit der Beschleunigung des Wirtschaftswachstums in China das Entwicklungsgefälle dramatisch vergrößert. Die mittleren 40% der globalen Einkommensverteilung sind heute für 41% der globalen Emissionen verantwortlich, was bedeutet, dass sie ein beträchtliches Energieniveau erreicht haben. Aber diese »globale Mittelschicht«, die sich vor allem in Ostasien konzentriert, verdrängt das Kohlenstoffbudget, das den Menschen mit den niedrigsten Einkommen verbleibt, und ihr Wachstum fügt einigen der ärmsten und am stärksten benachteiligten Menschen der Welt irreversiblen Schaden zu.
Das ist das historisch Neue an der gegenwärtigen Situation. Während wir uns immer mehr den ökologischen Grenzen nähern – den Bedingungen, innerhalb derer unsere Spezies gedeihen kann –, untergräbt die Entwicklung der reichen Welt systematisch die Überlebensbedingungen von Milliarden von Menschen in der Klima-Risiko-Zone. Sie werden nicht direkt ausgebeutet oder übergangen, sondern werden zu Opfern der klimatischen Auswirkungen des Wirtschaftswachstums, das anderswo stattfindet. Diese gewaltsame und indirekte Verflechtung ist in ihrer Qualität und ihrem Ausmaß neu: eine ökologische Viktimisierung großer Teile der Weltbevölkerung.
Gewalttätige und ungleiche Beziehungen zwischen Gruppen sind in der Regel mit einem gewissen Grad an Interaktion verbunden und können daher auch Widerstand hervorrufen. Lohnabhängige können streiken. Wer in unfaire Handelsbeziehungen verwickelt ist, kann boykottieren und Sanktionen verhängen. Bei einer geographisch entkoppelten ökologischen Viktimisierung gibt es jedoch keine solchen Beziehungen und damit auch weniger Widerstandsmöglichkeiten innerhalb des Systems. Es ist möglich, dass die Sprengung von Pipelines, die Energie aus armen Ländern zu reichen Verbrauchern transportieren, zu einer Protestform wird. Dies hätte sicherlich eine Signalwirkung.
Aber können wir nicht auf konstruktivere Reaktionen auf die dreifache Ungleichheit hoffen? Diese Frage macht die Weltklimakonferenzen wie die COP28, die am 30. November beginnt, so wichtig.[5] Sie mögen nüchtern und rituell erscheinen, aber gerade hier kann der tödliche Zusammenhang zwischen der Öl-, Gas- und Kohleproduktion, dem Konsum der reichen Welt und den tödlichen Risiken für die Menschen in der Klima-Gefahrenzone politisch artikuliert werden.
Auf dieser Bühne können Aktivist*innen und Regierungen die schändliche Weigerung der reichen Länder anprangern, sich an der Einrichtung eines Kompensationsfonds für Verluste und Schäden (Loss and Damage Fund) zu beteiligen, um die am stärksten gefährdeten Länder zu entschädigen. [6] Die Notwendigkeit eines solchen Fonds wurde auf der COP27-Konferenz in Ägypten grundsätzlich anerkannt. Seither hat sich jedoch der Widerstand der amerikanischen und europäischen Verhandlungsführer verhärtet. Im Vorfeld der COP28 sind Organisation und Finanzierung des Fonds noch nicht geklärt.[7]
Ein solcher Fonds löst das Problem der dreifachen Ungleichheit nicht. Dafür brauchen wir eine globale Energiewende und neue Modelle für eine wirklich inklusive und nachhaltige Entwicklung. Aber der Klimaschäden-Kompensationsfonds leistet einen wichtigen Beitrag. Er erkennt an, dass die globale Klimakrise kein Zukunftsproblem mehr ist, sondern ein Gegenwartsproblem. Wir sind in eine Phase eingetreten, in der das Versäumnis, die sich zuspitzende Krise vordringlich anzugehen, zu einem aktiven Prozess der Viktimisierung wird. Eine Viktimisierung, die zumindest ein Eingeständnis der Verantwortung und eine angemessene Entschädigung einfordert.
Anmerkungen
[1] Xu, Chi; Kohler, Timothy A.; Lenton, Timothy M.; Svenning, Jens-Christian; Scheffer, Marten: Future of the human climate niche. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America vol. 117, no. 21 (26.5.2020), S. 11350–11355. DOI: 10.1073/pnas.1910114117; https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.1910114117. Vgl. hierzu: Fleming, Sean: 3 billion people could live in places as hot as the Sahara by 2070 unless we tackle climate change. World Economic Forum, 13.5.2023; https://www.weforum.org/agenda/2020/05/temperature-climate-change-greenhouse-gas-niche-emissions-hot/.
[2] Chancel, Lucas: The richest 10% produce about half of greenhouse gas emissions. They should pay to fix the climate. The Guardian, 7.12.2021; https://www.theguardian.com/commentisfree/2021/dec/07/we-cant-address-the-climate-crisis-unless-we-also-take-on-global-inequality.
[3] Ritchie; Hannah; Roser; Max; Rosado, Pablo: Mali: CO₂ Country Profile. CO₂ and Greenhouse Gas Emissions. Our World in Data; https://ourworldindata.org/co2/country/mali?country=MLI~USA.
[4] Chancel, Lucas; Bothe, Philipp; Voituriez, Tancrède: Climate Inequality Report 2023. Fair Taxes for a Sustainable Future in the Global South. World Inequality Database, 30.1.2023 (World Inequality Lab Study, 2023,1); https://wid.world/news-article/climate-inequality-report-2023-fair-taxes-for-a-sustainable-future-in-the-global-south.
[5] Radke, Björn: Vor der COP 28 in Dubai: Weit vom 1,5-Grad-Pfad entfernt. Sozialismus.de Aktuell, 17.11.2023, https://www.sozialismus.de/nc/vorherige_hefte_archiv/kommentare_analysen/detail/artikel/weit-vom-15-grad-pfad-entfernt/. (Anm. d. Ü.)
[6] Editorial: »Loss and damage« - the most controversial words in climate finance today. Nature 623 (22.11.2023), S. 665–666. DOI: 10.1038/d41586-023-03615-0; https://www.nature.com/articles/d41586-023-03615-0.
[7] G., Visakha: Climate Justice and COP28: Analysing the Progress on the Loss and Damage Fund. Earth.Org, 9.11.2023; https://earth.org/climate-justice-and-cop28-analysing-the-progress-on-the-loss-and-damage-fund/. (Anm. d. Ü.)
Adam Tooze ist Professor für Zeitgeschichte und Direktor des European Institute an der Columbia University in New York. Zahlreiche Buchpublikationen, darunter »Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen« (München 2021). In Sozialismus.de schrieb er zuletzt in Heft 5-2022 über »Krieg und Frieden. Neue Weltordnung oder Ära zäher Kompromisse am Ausgang des ›Endes der Geschichte‹«. Sein hier dokumentierter Kommentar erschien zuerst am 23. November 2023 auf der Website des Guardian unter dem Titel »The climate emergency really is a new type of crisis – consider the ›triple inequality‹ at the heart of it«. (Übersetzung: Hinrich Kuhls).