28. Oktober 2014 Dieter Boris: Dilma Rousseff bleibt Präsidentin in Brasilien
Knapper Sieg der Linken
Die Amtsinhaberin und Kandidatin der Linken, Dilma Rousseff, konnte sich in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl in Brasilien am letzten Wochenende mit 51,45% knapp gegen ihren konservativ-neoliberalen Kontrahenten Aécio Neves, der auf 48,55% kam, bei der Stichwahl durchsetzen. Sie wird das Land bis 2018 weiter regieren können.
Die Auffassung von Brasilienbeobachtern, wonach die Stichwahl letztlich »wenig Bedeutung« habe (so Thilo F. Papacek, in Lateinamerika Nachrichten Nr. 485 vom Nov. 2014: 38), weil es die Gouverneurs-, den Abgeordneten- und Senatorenwahlen vom 5. Oktober eine Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse im Kongress nach rechts gebracht hätten, trifft die Situation nicht wirklich. Die bisherige, von der Partei der Arbeiter (PT) geführte Mitte-Links Koalition besitzt dort immer noch die Mehrheit und die Präsidentin verfügt über erhebliche Kompetenzen und Initiativspielräume.
Durch den Verlauf des Wahlkampfes – der schon seit Juni/Juli 2013 im Kontext der großen Massenbewegungen begonnen hatte – wurde deutlich, dass es sich um einen klaren Kampf zweier entgegen gesetzter Lager handelte, dessen Ausgang bis zum letzten Tag sehr ungewiss war, da die beiden Bewerber um das Amt – die bisherige Präsidentin Dilma Rousseff (PT) und Aécio Neves von der konservativ-neoliberalen Partei PSDB – mehr oder minder gleichauf lagen.
Vor eineinhalb Jahren rangierte die Nachfolgerin von Präsident Lula (PT) noch mit ca. 60 bis 70% Popularitätswerten weit an der Spitze aller möglichen Kandidaten. Dann kamen Rückschläge verschiedener Art: Die großen Defizite öffentlicher Infrastrukturen (Verkehr, Gesundheitswesen, Bildungssystem) hatten bereits angesichts der erheblichen (zum Teil kaum nachvollziehbaren) Ausgaben für die immer kommerzieller und elitärer werdenden Fußballweltmeisterschaft im Sommer 2014 schon Mitte 2013 (anlässlich des Confed-Cup) millionenfache Proteste ausgelöst, wie sie seit über 25 Jahren in Brasilien nicht mehr aufgetreten waren.
Die Proteste zielten auf diese Diskrepanzen und waren nur zum geringen Teil mit der Forderung nach Ablösung der Mitte-Links Regierung verbunden. Vielmehr waren die – durch eine schon seit einem Jahr andauernde ökonomische Schwächeperiode verstärkte – Furcht vor einem erneuten, schnellen sozialen Abstieg und die Erwartung einer dauerhaften, qualitativ verbesserten Lebenslage die wesentlichen Impulse der zumeist jungen, von ihrem Ausbildungsstand her relativ qualifizierten Protestierenden im Juni 2013.
Kaum einer proklamierte die Rückkehr zum Neoliberalismus, vielmehr waren die Forderungen nach Ausbau des Sozialstaats und der öffentlichen Güterversorgung von zentraler Bedeutung. Die neoliberale brasilianische Rechte versuchte Kapital aus der Situation zu schlagen, und die Zustimmungswerte für Rousseff sanken zeitweise auf 30 bis 40% ab. Hier spielte das Überraschungsmoment für die Regierung und das mäßige Krisenmanagement sowie das Auftauchen neuer Korruptionsfälle (vor allem im halbstaatlichen Erdölriesen »Petrobras«) eine Rolle.
Der zwischenzeitliche rasante Aufstieg von Marina da Silva zur zentralen Kontrahentin von Dilma Rousseff schien gefährlich für die Amtsinhaberin, da Silva aus ärmsten Verhältnissen stammt, ökologisch sehr stark engagiert ist und ein gewisses (teilweise asketisch gefärbtes) Charisma ausstrahlt. Der Umstand allerdings, dass sie einer reaktionären evangelikalen Gruppierung angehört und sich zuletzt zum Sprachrohr der Banken und des international orientierten Großkapitals machte (und unter anderem eine klare Annäherung an die USA postulierte) – ließ sie im ersten Wahlgang dann doch ziemlich unglaubwürdig erscheinen; sie erzielte gleichwohl immerhin 21% der Stimmen.
Davon profitierte Aécio Neves, der einer alteingesessenen konservativen Politikerdynastie entstammt und den in den letzten Monaten und Wochen kaum ein Beobachter oder Befragungsinstitut ernsthaft noch als Hauptgegner der Amtsinhaberin »auf dem Zettel« hatte. Überraschenderweise erhielt er im ersten Durchgang 33,5% (Rousseff in der ersten Runde 41,5%). Obwohl Silva (und Teile ihrer Partei PSB) ihren Wählern empfahlen, für Neves zu stimmen, ging eine Addition der Stimmenanteile beider Oppositionskandidaten und damit eine deutliche Mehrheit gegenüber Rousseff nicht auf.
Die Frage war, ob und wie die fast 30% Nicht- oder Ungültig-Wähler aus dem ersten Wahlgang sich entscheiden würden, und ob bzw. in welchem Maße den Wahlempfehlungen tatsächlich gefolgt würde. Da in den letzten beiden Wochen auch den regierungsskeptischen und/oder entpolitisierten Segmenten der Bevölkerung die Gefahr einer Wiederkehr des neoliberalen Kahlschlags offenkundig bewusster wurde, und die PT auf einen gut organisierten, in allen Teilen des Landes und auf allen Ebenen präsenten Parteiapparat zurückgreifen konnte, scheint das Rennen auf den letzten Metern des Wahl-Marathons durch die polarisierte Alternative und einen entsprechenden Kraftakt der linken Strömungen entschieden worden zu sein.
Mit diesem knappen Sieg wird es in Zukunft für die Linke noch schwieriger werden, innerhalb des politischen Systems Brasiliens (Parteienstruktur, Parlament als Blockade etc.) einen konsequenteren anti-neoliberalen Kurs zu steuern. Dazu bedürfte es einer direkten Mobilisierung ihrer Anhänger und aller Unzufriedenen sowie einer plebiszitären Komponente, zu deren Einsatz Dilma Rousseff und die PT sich bislang nicht verstehen konnten.
Dieter Boris ist emeritierter Professor für Soziologie an der Philipps-Universität Marburg. Von ihm erschien 2014 das Buch »Bolívars Erben. Linksregierungen in Lateinamerika, PapyRossa Verlag Köln.