26. September 2023 Klaus Bullan: Zum Tod von Giorgio Napolitano (29.6.1925–22.9.2023)
Kommunist, Reformer, Staatspräsident
Am 22. September 2023 ist in Rom Giorgio Napolitano im Alter von 98 Jahren gestorben. Er hat herausragende Bedeutung in der Politik Italiens über mehr als ein halbes Jahrhundert erlangt.
1925 im süditalienischen Neapel geboren, trat er 1944 in die kommunistische Partei Italiens (PCI) ein und hat ihr bis zu ihrem Ende 1991 in führenden Funktionen angehört. Er hat den Übergang zur Demokratischen Linkspartei (Partito Democratico della Sinistra – PDS) mit vorangetrieben und dann auch die weiteren Häutungen zur Linksdemokratischen Partei (Democratici di Sinistra) 1998 und dem Partito Democratico 2007.
Napolitano war ein Urgestein linker Politik in Italien und repräsentiert als Politiker die vielfältigen Wandlungen, die die Linke in Italien seit dem Widerstand gegen den Faschismus durchlaufen und manchmal auch durchleiden musste. In den ersten Nachkriegsjahren ist Napolitano ein Mitglied der kommunistischen Partei und teilt die Suche nach dem eigenen Weg zum italienischen Sozialismus. Der PCI wird zur Massenpartei, verteidigt die Sowjetunion bedingungslos – einschließlich der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956 – und Napolitano ist dabei.
Ab Ende der 1960er-Jahre als Protagonist des Eurokommunismus und des historischen Kompromisses wird er gemeinsam mit seiner Partei immer kritischer gegenüber der Sowjetunion und stimmt zu, als die Partei nach dem Militärputsch in Polen den Bruch vollzieht. Seit den 1980er-Jahren beschreitet er, erstmals in der Partei der Mehrheit zugehörig, den Weg mit, das »Kommunistische« nicht nur im Namen der Partei zu überwinden, um neue Mehrheiten zunächst auf der Linken und bald auch im Mitte-Links-Spektrum zu gewinnen.
Napolitano hat schon früh leitende Funktionen im PCI wahrgenommen, auf kommunaler und regionaler Ebene in seiner süditalienischen Heimat, im Zentralkomitee und später in der nationalen Leitung der Partei. Seit den frühen 1960er-Jahren gehörte er immer zur »rechten« Minderheit in der Partei, die sich stärker als die Gesamtpartei, auf Übergangsforderungen und schrittweise Reformen orientierte und gegenüber bewegungsorientierten Strömungen sich eher auf parlamentarische Optionen konzentrierte.
Seit Beginn der 1950er-Jahre ist er mehr als 40 Jahre ununterbrochen Parlamentsabgeordneter mit hohen Ämtern in der Fraktion und als Parlamentspräsident. Auch im Europaparlament in den 1990er-Jahren spielte er eine herausragende Rolle als Exponent der italienischen linken Reformer.
Als 1972 eine neue Parteiführung gewählt werden muss, gehen die meisten innerhalb des PCI von einer Entscheidung zwischen Pietro Ingrao und Napolitano aus, den Exponenten der beiden Flügel innerhalb der Partei. Es wird aber der »Kompromisskandidat« Enrico Berlinguer. Napolitano spielt eine entscheidende Rolle in der Parteiführung und ist u.a. für Wirtschaftsfragen zuständig. Freunde werden Berlinguer und Napolitano nicht und als Berlinguer schließlich die Politik des historischen Kompromisses aufkündigt und die Partei stärker als Oppositionspartei profiliert, widerspricht Napolitano. Bis zu diesem Zeitpunkt gehört er stets zur Minderheit in der Partei.
Als erster Politiker des PCI erhält Napolitano 1978 ein Visum für einen USA-Besuch anlässlich einer Vortragsreise. Henry Kissinger nennt ihn » seinen Lieblingskommunisten« und für den damaligen amerikanischen Botschafter in Rom ist er der einzige Gesprächspartner des PCI.
Napolitano ist einer der ersten in der Partei, der mit NATO und der EU seinen Frieden macht, zu einer Zeit, in der die amerikanische Außenpolitik und europäische Regierungen noch aktiv auf die italienischen Christdemokraten einwirkten, um eine kommunistische Regierungspolitik zu verhindern.
In einem Gespräch mit seinem Freund Eric Hobsbawm über den »Weg zum ›historischen Kompromiss‹« aus dem Jahr 1975 (deutsch 1977) umreißt Napolitano seine Vorstellung: »Wenn sich die Arbeiterbewegung darauf beschränkt, die Widersprüche des kapitalistischen Systems und die Verantwortung der alten herrschenden Klassen anzuprangern, und nur Aktionen der reinen Interessenvertretung der Arbeiter betreibt, so schließt sie sich auf einem engen Raum, der wenig Operationsfreiheit gewährt, ein, isoliert sich, gibt auf der politischen Ebene dem Manöver von rechts, der reaktionären Gegenoffensive, von der wir zuvor sprachen, Waffen an die Hand und begünstigt de facto, sei es auch nur vorübergehend, einen Wiederaufschwung der kapitalistischen Wirtschaft auf den alten Grundlagen oder trägt, schlimmer noch, zu einem Weiterschwelen der Krise bei, das den Zerfall, die Auflösung der Gesellschaft heraufbeschwören kann.
Genau dies stellt eine reale Gefahr dar, die wir deutlich empfinden. Vielleicht erinnerst du dich an den Artikel Gramscis, Contro il pessimismo (gegen den Pessimismus) – einen dramatischen, aus schweren inneren Konflikten hervorgegangenen Aufsatz, in dem von den Jahren, in denen sich die Niederlage der Arbeiterbewegung, der Sieg des Faschismus vorbereitet haben, die Rede ist und von uns Kommunisten gesagt wird: Wir waren, ohne es zu wollen, ein Element der allgemeinen Auflösung der italienischen Gesellschaft. Ich glaube, dass wir, die Arbeiterbewegung, uns ganz präzise der Notwendigkeit und der Möglichkeit bewusst sein müssen, in dieser Phase der tiefen Krise des Kapitalismus kein Faktor der Auflösung, sondern ein Faktor der Erneuerung der Gesellschaft auf einer neuen Linie zu sein, die eine sozialistische Transformation anbahnen kann. Dies ist die ideelle und politische Voraussetzung, der Suche nach einem Ausweg Italiens aus der Krise, die die KPI gemeinsam mit den anderen demokratischen Kräften unternimmt.«[1]
Rechtsradikale Gewalt und die Gefahr der Zerstörung der Gesellschaft waren in diesen Krisenzeiten der 1970er-Jahre in Italien real. Das gesamte politische Leben Napolitanos war davon bestimmt, breite Bündnisse gegen diese Gefahren zu knüpfen. Schon bald ist nicht mehr von »sozialistischer Transformation« die Rede und er wird zum wichtigsten Exponenten der »Miglioristi« (Verbesserer), die die Lage für die arbeitenden Klassen in der bestehenden Gesellschaft verbessern wollen, ohne diese direkt zu überwinden.
Das Bündnis mit den anderen demokratischen Kräften ist Napolitano immer wichtig gewesen, zunächst vor allem mit der sozialistischen Partei Italiens, später auch mit den Liberalen und Christdemokraten. Insofern ist sein Weg von der kommunistischen Partei bis hin zur demokratischen Partei heute, die aus Exkommunist*innen, Liberalen und Christdemokrat*innen besteht, konsequent.
Die völlige Zerrüttung des Parteiensystems im Italien der Folgejahre mit der Auflösung der christdemokratischen und der sozialistischen Partei im Gefolge der zahlreichen Schmiergeldskandale (Tangentopoli) nach der Selbstauflösung des PCI, der darin nie verwickelt war, bestärkt Napolitano noch in seinem Kurs, die demokratischen Kräfte in Italien auch bei der Neujustierung des Parteiensystems zu stärken – jetzt vor allem gegen Berlusconi und den Aufschwung von Rechtspopulismus und Fremdenfeindlichkeit (Lega Nord, Neofaschisten).
Er wird als langjähriger Abgeordneter zum Vorsitzenden der Abgeordnetenkammer, später Innenminister einer Mitte-Links-Regierung und schließlich 2006 Staatspräsident Italiens, ein Amt, das er nach einer Wiederwahl bis 2015 bekleidet. Dabei erwirbt er sich – wie in zahlreichen Nachrufen in Erinnerung gebracht wird – hohes Ansehen, weil er das Amt mit hohem politischen Instinkt, getrieben von der Sorge um den Erhalt der Einheit Italiens, in einem demokratischen Europa ausfüllt, und weil er in einer massiven Staatskrise Italiens, in der der Staatsbankrott droht, Berlusconi 2011 zum Rücktritt drängt und eine Technokraten-Regierung unter dem früheren EU-Kommissar Mario Monti beruft.[2]
Unter anderem deshalb hat Giorgia Meloni, die Ministerin im letzten Kabinett Berlusconi war, Napolitano 2016 heftig kritisiert und jetzt auch nur ein kühles Beileidsschreiben an Napolitanos Familie geschickt.
Napolitanos Wirken war stets darauf gerichtet, den Zusammenhalt der demokratischen Kräfte in Italien in den Mittelpunkt zu rücken, weil die Zerstörung der Demokratie in Italien in seinem antifaschistischen Gedächtnis immer präsent war.
Anmerkungen
[1] Eric Hobsbawm/Giorgio Napolitano: Auf dem Weg zum »historischen Kompromiss« Ein Gespräch über Entwicklung und Programmatik der KPI, Frankfurt a. M. 1977, S. 85f.
[2] Anders als z.B. in der Bundesrepublik Deutschland hat das Amt des Präsidenten in Italien neben repräsentativen Funktionen auch weiterreichende Befugnisse bei der Installation von Regierungen und der Entscheidung über Neuwahlen.