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31. Juli 2019 Hinrich Kuhls: Auf dem Weg zum Chaos-Brexit

Konfrontationskurs der Tory-Regierung

Boris Johnson

Die Regierungsgewalt im Vereinigten Königreich ist dem nationalistischen und rechtspopulistischen Flügel der Konservativen Partei übertragen worden. Sein Ziel ist der zügige und vollständige Bruch mit der Europäischen Union bei Missachtung internationaler Verträge.

Königin Elizabeth II., das Staatsoberhaupt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (UK), hatte am 24. Juli dem Altphilologen und Journalisten Boris Johnson den Auftrag zur Bildung einer neuen Minderheitsregierung erteilt. Dieser Schritt erfolgte auf Vorschlag der bisherigen Regierungschefin Theresa May, die während des vergangenen Jahres vom Rechtsflügel ihrer Partei desavouiert und demontiert worden war. Der Rechtsflügel blockierte die Ratifizierung des von ihr verhandelten EU-UK-Austrittsabkommens und erzwang ihren Rücktritt.

Der Auftrag zur Regierungsbildung war und ist verfassungsrechtlich umstritten. Noch nie in der jüngeren Geschichte des UK sind in der Mitte der laufenden Legislaturperiode eine Minderheitsregierung und deren Premier ausgetauscht worden. Der Versuch aus den Reihen der Tory-Fraktion, einen Tag vor Ernennung des neuen Premiers zunächst dessen ausreichende parlamentarische Unterstützung feststellen zu lassen, war vom Sprecher des Unterhauses, John Bercow, blockiert worden.

Die britische Monarchin gilt als bestens informiert über Tagespolitik und langfristige politische Linien. Dass die konfrontative Brexit-Politik sowohl Verfassung als auch Bestand der britischen Union bedroht, wird ihr nicht verborgen geblieben sein. Ebenso wenig wird sie übersehen haben, dass innerhalb der Regierungspartei, die die vermögenden Schichten des UK repräsentiert, ein Machtkampf tobt, auf welchem Weg die Restauration der vollständigen nationalen Souveränität erreicht werden soll. In dieser Auseinandersetzung hat die Monarchin Partei ergriffen. Die Ernennung Johnsons zum Statthalter der konfrontativen Abkehr des UK von Europa wird im historischen Rückblick als ein entscheidender Moment herausragen, mit dem der Zerfall des Vereinigten Königreichs beschleunigt worden ist.[1]

Der neue Premierminister setzte den Auftrag zur Regierungsbildung zügig um. Im Kabinett sitzen jetzt alle konservativen Führungskader von Vote Leave, der parteiübergreifenden Pro-Brexit-Kampagne von 2016. Nach dem Brexit-Votum hatten sich Johnson, Gove, Raab, Leadsom und Pratel hinter May weggeduckt oder sich mit ihr arrangiert; jetzt soll der Bruch nach aus ihrer Sicht drei verlorenen Jahren innerhalb von drei Monaten durchgesetzt werden.

Ergänzt wird die Dominanz der Brexit-Hardliner mit jenen Kabinettsmitgliedern, die 2016 für den Verbleib in EU gestimmt hatten, jetzt aber auch die Verpflichtungserklärung abgegeben haben, den Brexit bis zum 31. Oktober durchzudrücken. Hierzu gehören die Personen, die in den Schlüsselministerien Finanzen (Javid) sowie Soziales (Rudd) die Kontinuität der harten Austeritätspolitik garantieren.

Die Zusammensetzung der neuen Regierung bildet die Rechtsverschiebung und Radikalisierung an der Basis und in der Fraktion der Konservativen Partei ab.[2] Mit knapp 100.000 Stimmen haben zwei Drittel der Mitglieder Johnson als den harten Vertreter der Brexit-Lösung gewählt. Bei den Mitgliedern der Konservativen Partei ist die Erwartungshaltung hoch. Bei den Wähler*innen im rechten Spektrum ist die rechtspopulistische Brexit-Partei eine attraktive Alternative; sie holte 29 der 73 britischen Mandate im EU-Parlament, während für die Konservative Partei drei Mandatsträger dort vertreten sind.

Der neue Premierminister hat die Amtsgeschäfte ohne Mehrheit im Parlament, mit einer Wirtschaft am Rande einer Rezession und mit einer volatilen Landeswährung übernommen. Mit Optimismus und Rigidität will er den Pessimismus und die Negativität jener überwinden, die den Glauben an den Erfolgsweg eines Globalen Britanniens außerhalb der EU nicht teilen. Das taktische Ziel, um die strategische Neuausrichtung auf dem Weltmarkt und in Europa praktisch einleiten zu können, ist klar benannt: Vollzug des Austritts aus der EU zum 1. November 2019 – ohne Wenn und Aber.

Die Ratifizierung des vorliegenden Austrittsabkommens lehnt die Regierung strikt ab. Dass es den Oppositionsparteien zusammen mit einigen pro-europäischen Tory-Abgeordneten – anders als bisher – ab September gelingt, einen Chaos-Brexit zu verhindern, ist unwahrscheinlich. Die Default-Situation spielt den Tory-Populisten in die Hände: Wird das Austrittsabkommen nicht ratifiziert, die Austrittsfrist nicht verlängert oder der Austrittsantrag von einer anderen Regierungskonstellation nicht zurückgenommen, verlässt das UK die EU auf Ende Oktober ohne vertragliche Regelung. Die Handelsbeziehungen aller Sektoren müssen nach den WTO-Regeln mit den jeweiligen Außenzöllen abgewickelt werden.

Die Nordirlandfrage als Bruchstelle

Johnsons Vorbedingung, um überhaupt in weitere Gespräche mit der EU einzutreten, ist die Beseitigung der »Backstop«-Lösung im Austrittsvertrag. Zugleich besteht er auf eine wirtschaftliche EU-UK-Kooperation allein im Rahmen eines Freihandelsvertrags. Damit werden aber Inhalt und Wortlaut des Belfaster Abkommens von 1998 zur Befriedung Nordirlands und der konsensgebundenen Kooperation auf der irischen Insel außer Kraft gesetzt.

Die Labour Party hat sich strikt gegen diesen Bruch des völkerrechtlich verbindlichen Belfaster Abkommens ausgesprochen. Darin wird sie auch von den anderen Oppositionsparteien unterstützt, die weitergehend die Rücknahme des Austrittsantrags fordern. Diese Position wird gestützt durch den Europäischen Rat, die Mehrheit des Europäischen Parlaments, die Republik Irland und das US-Repräsentantenhaus mit seiner Mehrheit der Demokratischen Partei. Die Tory-Regierung wird in dieser Frage unterstützt von den nordirischen Unionisten der DUP, von der rechtspopulistischen Brexit-Partei mit ihrem Vorsitzenden Farage und dem US-Präsidenten.

Der Konfrontationskurs ist organisatorisch und finanziell untermauert worden. Als Minister für besondere Aufgaben und faktischer Regierungsvize ist Michael Gove, der zusammen mit Johnson und Farage die Brexit-Kampagne 2016 erfolgreich angeführt hatte, mit der Koordinierung der No-Deal-Vorbereitungen beauftragt worden. Der sechsköpfige Kabinettsausschuss trifft sich täglich im Geheimdienstraum in Downing Street No. 10. Die für die No-Deal-Situation bisher zurückgestellte Summe von 5,4 Mrd. Pfund ist um eine Mrd. aufgestockt worden.

Zur Lösung der sich abzeichnenden Blockade zwischen der neuen Regierung und der EU hat Verhandlungsführer Barnier angedeutet, dass die Politische Erklärung zur künftigen Kooperation neu verhandelt werden kann, nicht jedoch der Austrittsvertrag mit der Nordirland-Regelung. Damit lässt sich allerdings Johnsons doppelschneidiger Angriff auf die Backstop-Lösung nicht abfangen. Ein weiteres Mal fällt der EU die von ihr durchgesetzte Methode zeitlich asymmetrischer Verhandlungen für Austrittsvertrag und neuem Kooperationsvertrag auf die Füße.

Erklärten sich die im Europäischen Rat versammelten Staats- und Regierungschef jetzt zur Annullierung der »Backstop«-Lösung bereit, gäben sie einen zentralen Wert der Global Governance auf: die Anerkennung multilateraler und internationaler Verträge. Lehnten sie die Forderungen Johnsons ab, könnte er ein weiteres Mal diese »Intransigenz« als Blockade darstellen und die supranationale EU als Feind eines national eigenständigen Wegs des britischen Volkes brandmarken – eine Position, die er als Korrespondent des Daily Telegraph seit Anfang der 1990er Jahre vertreten hat.

Neuwahlen – oder politische Initiative der EU?

Die Konsequenz dieser konfrontativ herbeigeführten Konstellation wäre eine vorgezogene Neuwahl des Unterhauses, die wie die Wahl des Europäischen Parlaments zu einem weiteren Plebiszit über EU-Austritt oder Verbleib gemacht wird. Johnson hat sich jedoch festgelegt, dass er »vor dem Brexit« keine Neuwahlen anstrebt. Seine innenpolitischen Vorschläge sind auf eine Post-Brexit-Situation ausgelegt.

Der Labour Party und den anderen Oppositionsparteien ist hingegen die Zeit davon gelaufen, um mit Neuwahlen und nach der erhofften, aber nicht sicheren Veränderung des politischen Kräfteverhältnisses den No-Deal-Brexit noch zu verhindern. Laut britischem Wahlgesetz können Neuwahlen nach einem erfolgreichen Misstrauensantrag gegen die Regierung nach fünf Wochen angesetzt werden, also frühestens für den 10. Oktober.

Bei der Alternative »konstruktives Misstrauensvotum«, bei dem 14 Tage nach einem erfolgreichen Misstrauensantrag gegen das Kabinett Johnson einer anderen Regierung das Vertrauen ausgesprochen werden könnte, müsste ein breites politisches Spektrum nicht nur einen inhaltlichen Übergangskompromiss, sondern auch eine Personallösung finden. Nach Verlauf der Auseinandersetzungen seit dem EU-Referendum ist diese Lösung jedoch höchst unwahrscheinlich.

Der Konjunktiv und der Optativ herrschen aufseiten der Brexit-Gegner vor, die Brexit-Hardliner machen die klaren Ansagen im Indikativ. Der Europäische Rat verharrt im Schweigen. Der scheidende EU-Kommissionspräsident Juncker hat als Fehler eingestanden, dass er wie die Mitglieder des Europäischen Rats vor drei Jahren dem Wunsch des EU-skeptischen Premiers Camerons gefolgt war, vor dem EU-Referendum nicht offen für die proeuropäischen Kräfte im UK einzutreten.

Dieser Fehler wird gerade wiederholt. Denn vonseiten der EU und ihrer Mitgliedsstaaten wird der rechtspopulistischen Behauptung der neuen britischen Regierung, auch ein Chaos-Brexit sei durch das plebiszitäre Votum für den Brexit mandatiert, nicht entgegengetreten – weder entschieden noch lauwarm. Allein der Republik Irland finanzielle Unterstützung für den Fall des Chaos-Brexits in Aussicht zu stellen, reicht nicht aus. Vielmehr muss das Angebot, die Verhandlungen für die künftigen EU-UK-Beziehungen wieder aufzunehmen, mit einer politischen Initiative des Europäischen Rats verbunden werden, die in alle Bereiche der britischen Gesellschaft und Wirtschaft ausstrahlt und die Konfrontationspolitik des Kabinetts Johnson unterläuft, dessen Basis bei den nationalistisch und rechtspopulistisch orientierten Wähler*innen der Konservativen und der Brexit-Partei im südlichen Drittel Englands liegt, jedoch in allen anderen Teilen des Noch-EU-Mitgliedsstaats – vor allem in dessen drei teilautonomen Ländern – umstritten ist.

Diese Initiative kann nicht erst auf der nächsten turnusmäßigen Tagung des Europäischen Rats am 17. Oktober eingeleitet werden, sondern muss spätestens auf einem Sondergipfel Anfang September unmittelbar nach dem G7-Treffen in Biarritz gestartet werden. Es ist die erste und für die nächsten fünf Jahre entscheidende Bewährungsprobe der neuen Mehrheitskonstellation von Europäischer Volkspartei, liberaler Renew-Europe-Fraktion und europäischen Sozialdemokraten, mit der im Europäischen Rat und Parlament die neue Kommissionspräsidentin von der Leyen gewählt und der amtierende belgische Regierungschef Michel als neuer EU-Ratspräsident designiert worden ist.

Nur noch für kurze Zeit hat der Europäische Rat die Wahl. Entweder er beharrt er auf seiner zweistufigen Verhandlungsstrategie, dass erst nach Ratifizierung des Austrittsabkommens und vollzogenem EU-Austritt während der zeitlich nicht exakt begrenzten Übergangsphase die Modalitäten der künftigen Kooperation vertraglich festgelegt werden. Damit stützt sie die rechtspopulistischen Brexit-Befürworter um Johnson und Farage.

Oder er erteilt der Verhandlungskommission ein neues Mandat, aufgrund dessen die Richtlinien für den neuen Kooperationsvertrag so gefasst werden können, dass er zeitgleich mit dem Austrittsabkommen ratifiziert werden kann und eine Lösung für die Nordirlandfrage umfasst. Aufgrund einer derartigen Initiative seitens der EU könnten sich die Oppositionsparteien im Unterhaus und die kleine proeuropäische Gruppe in der konservativen Fraktion auf ein gemeinsames Vorgehen zur Verhinderung des Chaos-Brexits verständigen. Dabei ist entgegen der vor allem diesseits des Kanals verbreiteten Auffassung nicht davon auszugehen, dass das Brexit-Votum aufgrund von Neuwahlen oder eines zweiten Referendums revidiert wird. Es wird aber Zeit gewonnen, um die Sezession des UK mit geringeren ökonomischen und sozialen Verwerfungen zu bewerkstelligen und ein Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs mit den sie begleitenden Unruhen womöglich zu vermeiden.

Das EU-Referendum 2016 hatte die Chance eröffnet, mit dem Verbleib des UK in der EU und einer anderen Regierungskonstellation im UK eine Erneuerung der EU anzustoßen. »Bleiben und Erneuern« stand im Mittelpunkt der Pro-EU-Kampagne von Corbyn und der damals neuen Labour-Führung, was eine Abkehr von der jahrzehntelangen neoliberalen Austeritätspolitik implizierte. Nicht nur dieser Orientierung, sondern selbst der Fortsetzung der britischen Austeritätspolitik im Rahmen der EU versagten damals die europäischen Eliten in Politik und Wirtschaft ihre aktive Unterstützung.

Jetzt steht nicht der geordnete Austritt aus der EU auf der Tagesordnung, sondern der disruptive Bruch und der Angriff auf die EU als eines der Zentren der globalen multilateralen Kooperation. Und wieder setzen die europäischen Eliten keinen Widerstand entgegen. In der Auseinandersetzung zwischen EU und UK-Regierung ist die Austeritätspolitik nicht infrage gestellt. Doch selbst in dieser neoliberal abgesicherten Konstellation werden die ökonomischen, sozialen und politischen Verwerfungen, die der Chaos-Brexit im UK und auf dem europäischen Kontinent nach sie zieht, als das kleinere Übel angesehen. Damit machen sich die Eliten gemein mit der nationalistischen britischen Regierung und deren rechtspopulistischen Kurs. Gefährlicher als der Chaos-Brexit ist für Johnson und die Brexit-Hardliner die Regierungsübernahme einer von Corbyn geleiteten Regierung, die die Macht der Finanzinstitutionen einhegt und eine Perspektive für eine alternative Wirtschafts- und Sozialpolitik öffnet.



[1] Vgl. das Stichwort »Brexit« in: Braunmühl, Claudia von; Gerstenberger, Heide; Ptak, Ralf; Wichterich, Christa (Hrsg.): ABC der globalen (Un)Ordnung. Von »Anthropozän« bis »Zivilgesellschaft«. Hamburg 2019, im Erscheinen.
[2] Vgl. Kuhls, Hinrich: Ein neuer Premierminister im uneinigen Königreich. Wahlkampf bei den britischen Konservativen. In: Sozialismus 7/8-2019, S. 21-24.

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