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Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
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29. November 2020 Joachim Bischoff: Wie stabil ist die Wirtschaft aktuell?

Konjunktur-Bazooka und Schulden-Tsunami

Foto: dpa

Der verlängerte und verschärfte Lockdown-Light in Deutschland wird nach Einschätzung von Wirtschaftsexperten kaum gravierende Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Leistung haben. Die hauptsächlich betroffenen Branchen wie Gastronomie, die Kulturszene oder die Verkehrsbranche hätten einen vergleichsweise geringen Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung.

Beispielsweise habe das derzeit weitgehend geschlossene Gastgewerbe einen Anteil von 1,6% an der gesamten Bruttowertschöpfung – die vergleichsweise gut laufende Industrie dagegen einen Anteil von über 20% und der ebenfalls geöffnete Einzelhandel von um die 10%.

Die Gesamtwertschöpfung wird durch die neuen Einschränkungen nur begrenzt tangiert. Durch den Lockdown-Light wird das Bruttoinlandsprodukt zwar weiter schrumpfen, allerdings weit weniger stark als im Frühjahr. Die Zahl der Arbeitslosen könnte sich durch die Betriebsschließungen um etwa 100.000 erhöhen, die Zahl der Kurzarbeiter*innen vorübergehend um bis zu einer halben Million. Betroffen sind vor allem Geringqualifizierte, Minijobber*innen und Beschäftigte im unteren Einkommensbereich.

Unter dem Blickwinkel der sozialen Gerechtigkeit ist unverzichtbar, den betroffenen Unternehmen und Solo-Selbständigen ein wirtschaftliches Überleben durch staatliche Zuschüsse zu ermöglichen. Deshalb sind die erneuten Milliarden-Ausgaben vor allem vom Bund für die erweiterten Antikrisenprogramme gerechtfertigt. Die große Koalition will im Jahr 2021 die fragile Konjunktur weiter stützen. Sie will daher fast 180 Mrd. Euro neue Schulden aufnehmen und deutlich mehr Geld als geplant in Gesundheit, Verkehr und Infrastruktur investieren.

Nach Beratungen im Haushaltausschuss sollen im Bundeshaushalt für 2021 insgesamt rund 498,6 Mrd. Euro ausgegeben werden – kaum weniger als im laufenden Jahr, als wegen der Pandemie milliardenschwere Hilfsprogramme finanziert wurden. Allein die letzte Aufstockung für neue Wirtschaftshilfen für den Dezember-Lockdown schlägt mit über 20 Mrd. Euro zu Buche. Für die Beschaffung von Corona-Impfstoffen sind rund 2,7 Mrd. Euro eingeplant.

Große Summen fließen auch in die Entlastung für viele Privathaushalte. Im kommenden Jahr müssen die meisten Bürger*innen keinen Solidaritätszuschlag mehr zahlen – das ist die größte Steuersenkung der vergangenen Jahre. Außerdem sollen Familien pro Kind und Monat 15 Euro mehr Kindergeld bekommen. Für alle Steuerzahler*innen steigt der Grundfreibetrag, auf den man keine Einkommensteuer zahlt.

Die Haushälter*innen beschlossen zudem etwa höhere Mittel zur Sanierung kommunaler Einrichtungen in den Bereichen Sport, Jugend und Kultur und stockten die humanitäre Hilfe um 170 Mio. Euro auf. Letztlich sollen mit diesen neuen Hilfszahlung die schwierigen Monate vom Herbst bis in die Mitte nächsten Jahres überbrückt werden, wo dann nach dem massiven Einsatz von Impfstoffen der gesellschaftliche Reproduktionsprozess ohne weitere Unterstützungszahlungen wieder rund laufen soll.


Wie stabil ist die Wirtschaft aktuell?

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist im 3. Quartal 2020 gegenüber dem 2. Quartal 2020 – preis-, saison- und kalenderbereinigt – um 8,5% gestiegen. Damit konnte die deutsche Wirtschaft einen großen Teil des durch die Corona-Pandemie bedingten massiven Rückgangs des Bruttoinlandsprodukts im 2. Quartal 2020 wieder aufholen. Allerdings lag das BIP im 3. Quartal 2020 noch um 4,0% niedriger als im 4. Quartal 2019, dem Quartal vor der globalen Corona-Krise.

Die Corona-Krise wirkt sich auch deutlich auf die Beschäftigung aus. Die Wirtschaftsleistung wurde im 3. Quartal 2020 von rund 44,7 Mio. Erwerbstätigen mit Arbeitsort in Deutschland erbracht. Das waren 654.000 Personen oder 1,4% weniger als ein Jahr zuvor. Dabei ist zu beachten, dass die Kurzarbeit sich nicht auf die Erwerbstätigenzahlen auswirkt, weil Kurzarbeitende weiter als Erwerbstätige zählen.

Die Corona-Pandemie ist 2020 zur entscheidenden Bestimmungsgröße für die kapitalistische Ökonomie geworden. Weil es den verschiedenen kapitalistischen Ländern höchst unterschiedlich gelang, das Infektionsgeschehen zu kontrollieren, fallen die Schrumpfungsprozesse der Ökonomie auch unterschiedlich aus.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet für 2020 einen Rückgang der globalen Wirtschaftsleistung um 4,4%. Wäre nicht so umfassend und schnell mit staatlichen Hilfsprogrammen, Steuer- und Geldpolitik sowie regulatorischen Eingriffen gegengesteuert worden – in den kapitalistischen Hauptländern im Volumen von ca. 12 Bio. US-Dollar – wären die Schrumpfungsprozesse weitaus stärker ausgefallen.

Laut Prognose der EU-Kommission wird der Euroraum 2020 7,8% seiner Wirtschaftsleistung verlieren und im Jahr 2021 wieder um 4,2% zulegen. Deutschland gehört mit voraussichtlich -5,6% und +3,5% 2020 und 2021 zu den Ländern des Euroraums, die noch relativ glimpflich davonkommen. Auch das Herbstgutachten und die Prognosen des Sachverständigenrats besagen, dass Deutschland mit nur etwas mehr als -5% 2020 und mit +4,7% bzw. +3,7% 2021 die Krise relativ gut bewältigen könnte. Diese positive Einschätzung wird durch die Daten des 3. Quartals 2020 befestigt. Und die Rückwirkungen der Lockdown-Beschlüsse von November könnten ein passables Ergebnis im letzten Quartal und einen gleitenden Übergang ins Frühjahr gewährleisten.

Die Daten des dritten Quartals in fast allen kapitalistischen Hauptländern erlauben eine Erhöhung der Wachstumsschätzungen vor allem für das Jahr 2021. Die Aussicht auf die Bereitstellung von diversen Impfstoffen beflügelt die Annahme einer Überwindung der Pandemie und die Phantasien von einer V-förmigen Erholung und Expansion des kapitalistischen Akkumulationsprozesses. Dass die Rezession in Deutschland 2020 wahrscheinlich mit ca. 5% etwas milder ausfällt als die Finanzkrisen-Rezession 2009 ist auch dem 130 Mrd. Euro schweren Konjunkturpaket geschuldet. Laut Sachverständigenrat wurde dadurch die Wirtschaftsleistung 2020 und 2021 zusammen um 1,1% bis 2% gesteigert.

Allerdings ist die Coronakrise noch nicht bewältigt. Solange die Infektionszahlen hoch sind, bleibt die wirtschaftliche Lage fragil. Für die weitere Entwicklung ist entscheidend, wann die Pandemie eingedämmt werden kann und wie sich die Wirtschaft im Ausland entwickelt, d.h. die internationalen Wertschöpfungsketten ihre alte Dynamik wiedergewinnen.


Schuldentsunami?

Die hohen Kreditaufnahmen sind erforderlich, um Deutschland einigermaßen ungerupft durch die Jahrhundert-Pandemie zu bringen. Die Verlängerung der Einschränkungen bis Weihnachten und wohl bis ins neue Jahr ist für viele Betriebe schmerzhaft. Rund 40% der Betriebe in der Reisewirtschaft, Gastronomie, Kultur-, Kreativ- und Eventwirtschaft sehen sich nach eigenen Angaben existenziell bedroht. Eine Konsequenz der Hilfsprogramme ist, dass im Bundestag erneut die grundgesetzlich verankerte Schuldenbremse ausgesetzt werden muss.

Die anvisierte Neuverschuldung für 2021 fällt fast doppelt so hoch aus, wie sie Ende September von Finanzminister Olaf Scholz (SPD) im ersten Etatentwurf geplant wurde. Die Koalitionsfraktionen haben die kreditfinanzierten Ausgaben gegenüber dem Regierungsentwurf um rund 90 Mrd. Euro angehoben. Die hohen Ausgaben und den massiven Einbruch der Steuereinnahmen können nur mit einer deutlich höheren Neuverschuldung als im Regierungsentwurf vorgesehen finanziert werden.

Die deutsche Staatsverschuldung wächst in der Corona-Krise wie in anderen kapitalistischen Ländern auch, aber das große Vertrauen der Anleger in die Finanzkraft des Bundes verschafft dem Bundesfinanzminister eine komfortable Lage, was auch der Europäischen Zentralbank (EZB) und ihrer Präsidentin Christine Lagarde zu verdanken ist . Denn die Zentralbank kauft seit Jahren umfangreich Staatsanleihen, was den Staaten die Finanzierung in der Pandemie deutlich erleichtert.

Die steigende Schuldenlast hat aktuell zur Bedingung ein niedriges Zinsniveau und damit wird die Illusion befestigt, dass die Tilgung bzw. die Bedienung der bestehenden Schulden gelingen kann. Es gibt freilich die verbreitete Sorge, dass die schon seit längerem gestiegene öffentliche und private Verschuldung in Zukunft zu einem gigantischen Problem wird – nämlich dann, wenn das Zinsniveau wieder steigt.

Die weltweit gesunkenen Nominalzinssätze haben im Kern zwei Ursachen: erstens immer tiefere Inflationsraten über die letzten Jahrzehnte, und zweitens ein starker Rückgang der Investitionen im Verhältnis zur gesamtwirtschaftlichen Ersparnis. Die Notenbanken sind mit ihren Leitzinssenkungen diesen Entwicklungen mehr gefolgt, als dass sie sie ausgelöst haben. Und mit der expansiven Kreditpolitik wird darauf reagiert, dass trotz günstigem Zinsniveau die Investitionsbewegung schwach bleibt. Zum Erscheinungsbild dieser »säkularen Stagnation« gehört mithin, dass die Notenbanken längst vor der Corona-Pandemie die Ausweitung der öffentlichen Verschuldung stützen.

Allerdings gibt es über die Ursachen dieser Entwicklung (säkulare Inflation) weithin keinen Konsens. Unterstellt man, dass das niedrige Zinsniveau durch eine angeblich überzogene Kreditpolitik der Notenbanken ausgelöst wurde, kann man – verstärkt durch die Beschwörung der Gefahr von einer drohenden Inflation – zügig eine politische Kehrtwende fordern und vielleicht auch politisch durchsetzen. Nach Jahrzehnten mit Zinssenkungen würde in diesem Fall ein Schock ausgelöst, weil viele private und öffentliche Schuldner*innen nicht auf eine solche Entwicklung vorbereitet sein dürften.

Auslöser des drastischen Anstiegs der Kreditaufnahmen von öffentlichen Institutionen im Laufe dieses Jahres ist die Corona-Pandemie und die dadurch ausgelöste Krise in den gesellschaftlichen Reproduktionsprozessen. Alle betroffenen Staaten müssen zu diesem Mittel greifen, um den Einbruch der Wirtschaftsleistung durch Shutdowns und Lockdowns abzufedern. Auch die Unternehmen haben sich mit Schulden vollgesogen, um bei wegbrechenden Einnahmen flüssig zu bleiben. Privatbürger*innen versuchen ihren Lebensstandard in der schwersten Wirtschaftskrise seit Generationen halbwegs aufrechtzuerhalten. All das kommt auf Schuldenstände obendrauf, die bereits vor Ausbruch der Pandemie hoch waren.

Der IWF rechnete dieser Tage vor, dass allein die Schulden der Staaten in Relation zur Wirtschaftsleistung Rekordniveaus erreicht haben. Die westlichen kapitalistischen Hauptländer zusammengenommen stehen in Relation zur Wirtschaftsleistung so tief in der Kreide wie zuletzt am Ende des Zweiten Weltkriegs. In den Schwellen- und Entwicklungsländern sind die Werte so hoch wie niemals zuvor. Aktuell sei die Anfälligkeit des globalen Finanzsystems »hoch und steigend«. Statistiken der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zeigen ähnliche Tendenzen. Das IIF (Institute of International Finance) rechnet bis Ende des Jahrzehnts mit einem Anstieg der weltweiten Gesamtverschuldung auf über 360 Bio. US-Dollar.


Finanzielle Repression

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die extrem hohen Schuldenstände über Jahre hinweg abgebaut, was vor allem an der Entwicklung der USA und Großbritannien gezeigt werden kann. Dieser Schuldenabbau basierte auf einer starken Dynamik des Akkumulations- und Wachstumsprozesses. Es gelang also, mit einer Mischung aus Wirtschaftswachstum und leichter Inflation die Last der Verbindlichkeiten allmählich zu erleichtern. Dazu kam in den letzten Jahrzehnten die Strategie der »finanziellen Repression«: Die Zinsen waren phasenweise niedriger als die Inflationsrate, sodass Gläubiger einen Wertverlust erlitten. Eine strikte Finanzmarktregulierung sorgte dafür, dass das Geld nicht in attraktivere Anlagen abfloss und die Tilgung erfolgte mehr und mehr durch Vernachlässigung der Investitionen und der Unterhaltung der öffentlichen Infrastruktur.

Die Bürger*innen akzeptierten mehrheitlich eine Politik der finanziellen Repression, d.h. die Vernachlässigung der sozialen Lebensverhältnisse und der Zurücksetzung der öffentlich-sozialen Infrastruktur. Diese Art der schleichenden Enteignung zugunsten der Gläubiger*innen hatte eine soziale Mehrheit, solange zugleich die Einkommen nicht auch noch abgesenkt wurden.

In gewisser Weise erleben wir derzeit eine Neuauflage dieser Strategie. Bei Nullzinsen und leichter Inflation sind die Realzinsen heute wieder negativ. Was fehlt, ist die realwirtschaftliche Dynamik. Ohne Wachstum und ordentlich steigende Einkommen wird es schwierig, hohe Schuldenlasten auf Dauer zu tragen – wirtschaftlich und politisch. Allerdings ist die Entwicklung in anderen Ländern noch weit schwieriger, darunter in hoch verschuldeten, stagnierenden Eurostaaten wie Italien und Griechenland. Eine europäische Wachstumsagenda (Corona-Hilfspaket von 750 Mrd. Euro) ist deshalb keine Geldverschwendung, sondern notwendig, um eine kohärente europäische Wachstumsdynamik sowie Finanzstabilität zu erhalten.

Deutschland kann sich unter den gegebenen Bedingungen den Anstieg der öffentlichen Schulden leisten. Unter den kapitalistischen Hauptländern ist die Berliner Republik eher die Ausnahme – mit Verbindlichkeiten von aktuell um die 70% des BIP, trotz Corona-Bazooka. In anderen westlichen Ländern sind 120% inzwischen die Norm. Auch die Privatwirtschaft ist moderat verschuldet, anders als das etwa in den USA oder in Frankreich der Fall ist.

Der deutsche Staat zahlt derzeit für neue Schulden kaum Zinsen. Im Kontext der Negativzinsen kann er sogar einen kleinen Gewinn aus der Schuldenökonomie herausschlagen. Die Schuldenaufnahme zur Stabilisierung der Ökonomie ist keineswegs von einem Schulden-Tsunami bedroht. Die eigentliche Bedrohung liegt vielmehr darin, dass zu sehr gezögert wird, eine kreditfinanzierte Transformation in Richtung eines nachhaltigen Wirtschaftens auf den Weg zu bringen. Investitionen in Bereiche, die langfristig positive volkswirtschaftliche Ergebnisse bringen – etwa: Bildung, Forschung, klimaneutrale Energie- und Verkehrsnetze –, sind die aktuelle Anforderung der Zukunftsgestaltung.

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