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1. Mai 2022 Redaktion Sozialismus.de: Zur Wortmeldung von Jürgen Habermas

Krieg und Empörung

Grafik: Süddeutsche Zeitung

Jeder Krieg ist mit immensem humanitärem Elend, aber auch mit großen wirtschaftlichen Verwüstungen verbunden. In den Ukraine-Krieg ist mit Russland ein großer Energieexporteur und mit der Ukraine ein wichtiger Exporteur zahlreicher anderer Rohstoffe, insbesondere von Getreide, verwickelt.

Allein die Einschränkung dieser Exporte hat enorme Rückwirkungen auf andere Weltregionen. Zugleich sehen wir eine neue Form des Krieges – einen Weltwirtschaftskrieg neuer Ausprägung, in dem Währungen und Finanzen zu Waffen gegen den Feind geworden sind. Es geht hierbei konkret um die Abschaltung und Schädigung des russischen Finanzsystems.

Schon vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hatte sich die Welt noch nicht von den wirtschaftlichen Kosten der Covid-Pandemie erholt, ganz zu schweigen von deren weitreichenden sozialen und politischen Auswirkungen. Der Krieg in der Ukraine hat die Fragmentierung der Welt, die bereits seit einigen Jahren im Gange ist, weiter beschleunigt.

Die Pandemie, die Kriegszerstörungen in der Ukraine und der Wirtschaftskrieg erschüttern den Welthandel, was zu einer weiteren Aufspaltung in separate geopolitische Blöcke führen dürfte. Der Krieg in der Finanzwelt wird diese Entwicklung befördern und das aus auf dem US-Dollar basierte Weltwährungssystem weiter untergraben (siehe hierzu auch den Beitrag von Martine Orange »Tektonische Bewegungen in der internationalen Finanzordnung« auf Sozialismus.deAktuell vom 27.4.2022).

Der Westen nutzt die Chance zu einer lang nachwirkenden Schwächung des militärischen, wirtschaftlichen und politischen Potenzials Russlands in der Hoffnung, dass es dem Imperialismus abschwört und dauerhaft die regelbasierte liberale Wirtschaftsordnung anerkennt.

Rund 60 Tage nach dem Überfall Russlands hat sich nun Jürgen Habermas angesichts einer schockierten Öffentlichkeit in den teils schrillen Meinungskampf in der Berliner Republik eingemischt.[1] In den Medien ist dies überwiegend als Parteinahme für die Politik von Bundeskanzler Olaf Scholz im Ukraine-Krieg bewertet worden.

»Der Chef-Kritiker der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit«, dem »seine Felle davonschwimmen« und der damit »in die Untiefen der Jugendbeschimpfung« abrutsche (wie ihn Simon Strauss im Feuilleton der FAZ vom 30.4.2022 abzumeiern versucht), sucht in den landesweit aufwallenden Emotionen nach dem rationellen Hintergrund für die »selbstverständliche Parteinahme gegen Putin und eine russische Regierung, die einen massiven völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaune gebrochen haben und mit ihrer systematisch menschenverachtenden Kriegsführung gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen«.

Habermas sieht den Kern des Konflikts zwischen denen, die sich emphatisch an die Seite der ukrainischen Kämpfer*innen stellen und ihre pazifistischen Ziele vertagen oder gar als Illusionen verwerfen. Die andere Seite wird durch die Anhänger*innen der Friedenspolitik vertreten, die schon in den Zeiten des Kalten Krieges für eine Koexistenz- und Kooperationspolitik gekämpft haben.

Habermas ist zugleich irritiert über Art und Umfang des von Medien geschürten Meinungskampfes über die Waffenhilfe an die Ukraine, was letztlich in eine Auflösung des Konflikts durch eine atomare Ausweitung des Krieges bedeuten könne. Man kann – so unsere Sichtweise – auch von Meinungs»krieg« sprechen, an dem sich das Feuilleton der FAZ ganz vorn an der Front beteiligt: Auf der Medienseite der bereits erwähnten Ausgabe sind für Michael Hanfeld die 28 Unterzeichner eines offenen Briefes an den Bundeskanzler (unter ihnen Alice Schwarzer, Alexander Kluge, Andreas Dresen, Dieter Nuhr [!], Antje Vollmer, Ranga Yogeshwar, Juli Zeh), in dem sie ebenfalls auf die Risiken der Ausweitung des Krieges hinwiesen, Wortführer einer Forderung nach »Kapitulation«, auf deren »Manifest […] der Kreml gewartet haben« dürfte.

Insbesondere verstört Habermas »die Selbstgewissheit mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundesregierung auftreten«. Bei diesem Auftreten der Ankläger*innen fällt für ihn ein zentrales Problem unter den Tisch, deshalb zitieren wir ihn an dieser Stelle ausführlich:

»Nachdem sich der Westen entschlossen hat, in diesen Konflikt nicht als Kriegspartei einzugreifen, gibt es eine Risikoschwelle, die ein ungebremstes Engagement für die Aufrüstung der Ukraine ausschließt. Diese ist durch den jüngsten Schulterschluss unserer Regierung mit den Alliierten in Ramstein ebenso wie durch Lawrows erneute Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen soeben wieder in ein grelles Licht gerückt worden. Wer ungeachtet dieser Schwelle den Bundeskanzler in aggressiv-selbstgewissem Tenor in diese Richtung immer weiter vorantreiben will, übersieht oder missversteht das Dilemma, in das der Westen durch diesen Krieg gestürzt wird; denn dieser hat sich mit dem auch moralisch gut begründeten Entschluss, nicht Kriegspartei werden zu wollen, selbst die Hände gebunden.

Das Dilemma, das den Westen zur risikoreichen Abwägung zwischen zwei Übeln nötigt – eine Niederlage der Ukraine oder die Gefahr der Eskalation eines begrenzten Konflikts zum dritten Weltkrieg – liegt auf der Hand. Einerseits haben wir aus dem Kalten Krieg die Lehre gezogen, dass ein Krieg gegen eine Atommacht nicht mehr in irgendeinem vernünftigen Sinne ›gewonnen‹ werden kann, jedenfalls nicht mit Mitteln militärischer Gewalt innerhalb der überschaubaren Frist eines heißen Konflikts.

Das atomare Drohpotenzial hat zur Folge, dass die bedrohte Seite, ob sie nun selber über Atomwaffen verfügt oder nicht, die in jedem Fall unerträglichen Zerstörungen militärischer Gewaltanwendung nicht durch einen Sieg, sondern bestenfalls mit einem für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiss beenden kann. Dann wird keiner Seite eine Niederlage zugemutet, die sie als ›Verlierer‹ vom Feld gehen lässt. Die derzeit mit den Kämpfen noch parallel laufenden Waffenstillstandsverhandlungen sind ein Ausdruck dieser Einsicht; sie halten einstweilen den reziproken Blick auf den Gegner als möglichen Verhandlungspartner offen [...] Das verleiht der russischen Seite einen asymmetrischen Vorteil gegenüber der NATO, die wegen des apokalyptischen Ausmaßes eines Weltkrieges – mit der Beteiligung von vier Atommächten – nicht zur Kriegspartei werden will.«

Die These von Habermas lautet also: Angesichts des unbedingt zu vermeidenden Risikos eines Weltenbrandes ist der politische Spielraum eingeschränkt, ist jede militärische Hilfsleistung daraufhin zu prüfen, ob der Westen die Schwelle zur Kriegspartei überschreitet. Der Westen habe – so Habermas weiter – schon mit der Verhängung drastischer Sanktionen von Anbeginn »keinen Zweifel an seiner faktischen Kriegsbeteiligung gelassen«, mehr noch er hat Russland damit offen den Wirtschaftskrieg erklärt, und er muss deshalb bei jedem weiteren Schritt der militärischen Unterstützung prüfen, ob er die Grenze zu einem formalen Kriegseintritt überschreitet.

Irritierend ist für Habermas also nicht nur die aktuelle kriegstreiberische Rhetorik in vielen Medien, sondern auch die Fixierung auf die Person Putins, die wilde Verschwörungsphantasien der Leitmedien auslöst – eine Rückkehr der Kremlastrologie.

Das aufgeheizte Räsonnement in der Berliner Republik hat mehrere Gründe, die sich in der von Bundeskanzler Scholz selbst ausgerufenen »Zeitenwende« zusammenfassen. Unter dieser ideologischen Formel soll – so Habermas weiter – ein »historischer Wandel der von rechts immer wieder denunzierten, tatsächlich schwer genug errungenen Nachkriegsmentalität der Deutschen« eingeleitet werden – »und damit überhaupt das Ende eines auf Dialog und Friedenswahrung angelegten Modus der deutschen Politik«.

Habermas spielt auf die Herausbildung der Mentalität einer erkämpften großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung an, die Willy Brandt nach der Entgegennahme des Friedensnobelpreises als Grundauffassung der Politik der sozialliberalen Koalition im Dezember 1971 in der Formel zusammenfasste: »Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen.«

In seiner Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises resümierte Brandt damals die Anstrengungen der Außenpolitik von Walter Scheel und ihm: »Friedenspolitik ist eine nüchterne Arbeit. Auch ich versuche, mit den Mitteln, die mir zu Gebote stehen, der Vernunft in meinem Lande und in der Welt voranzuhelfen: Jener Vernunft, die uns den Frieden befiehlt, weil der Unfriede ein anderes Wort für die extreme Unvernunft geworden ist. Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio. Auch wenn das noch nicht allgemeine Einsicht ist: Ich begreife eine Politik für den Frieden als wahre Realpolitik dieser Epoche.«[2]

Die von den rechten Interpreten der »Zeitenwende« begrüßte Abkehr von dieser epochalen Einsicht stützt sich auf die »neue heroische Mentalität« von Teilen der Bevölkerung und politischer Klasse. Dagegen steht die »postheroische Mentalität«, die sich im Westen Europas während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem atomaren Schutzschirm der USA herausgebildet hat, wie Habermas weiter argumentiert. »Im Hinblick auf die möglich gewordenen Verwüstungen eines Atomkrieges hat sich in den politischen Eliten und dem jeweils weit überwiegenden Teil der Bevölkerungen die Einsicht verbreitet, dass internationale Konflikte grundsätzlich nur durch Diplomatie und Sanktionen gelöst werden können.« Was wir gegenwärtig unter der Parole »Zeitenwende« erleben, ist der Versuch diese Friedens- und Entspannungspolitik seit den 1970er Jahren bis heute zu diskreditieren.

Hinter der Ablehnung der Politik der friedlichen Koexistenz verbergen sich politisch-mentale Differenzen, die sich aus ungleichzeitigen historischen Entwicklungen erklären. Gleichwohl muss am Ende des Krieges mit Putin und seiner politischen Klasse wenigstens ein Waffenstillstand verhandelt werden. »Ich sehe keine überzeugende Rechtfertigung für die Forderung nach einer Politik, die – im peinigenden, immer unerträglicher werdenden Anblick der täglich qualvolleren Opfer – den gleichwohl gut begründeten Entschluss der Nichtbeteiligung an diesem Krieg de facto aufs Spiel setzt.«

Diese Warnung vor weiterer Eskalation in der politischen Debatte dürfte wenig Folgen zeitigen. Denn die Eskalation im Diskurs reflektiert eine Eskalation des Ukraine-Kriegs selbst, der in den letzten Tagen die Landesgrenzen in verschiedener Hinsicht überschritten hat. Es geht nun nicht mehr nur um das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine. Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin hat in Kiew unverblümt zum Ziel erklärt, Russland so geschwächt zu sehen, dass es »solche Dinge wie eine Invasion der Ukraine künftig nicht mehr anstellen« könne.

Für die Strategen im Weißen Haus hat sich der russische Überfall auf die Ukraine in den letzten zwei Monaten von einer bloßen Bedrohung zur Chance gewandelt. Und Präsident Joe Biden scheint fest entschlossen, diese Chance auch zu nutzen. Dank dem tapferen Verteidigungswillen der Ukrainer*innen und den unerwarteten Schwächen der russischen Streitkräfte ist plötzlich ein Szenario aufgetaucht, das westliche Geostrategen sich noch vor wenigen Monaten wohl kaum erträumt hätten.

Der Westen kann durch bloße Geld- und Waffenlieferungen, ohne ein signifikantes Risiko eigener Verluste an Menschenleben, zu einer möglichen – noch keineswegs gewissen – Niederlage und lang nachwirkenden Schwächung nicht nur des militärischen und politischen Potenzials Russlands beitragen. Es wäre naiv, zu glauben, eine amerikanische Regierung würde sich diese Chance zum Sieg auch im Wirtschaftskrieg entgehen lassen.

Über allem – so Habermas – müsse das Ziel stehen, »dass die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren darf«. Und gleichwohl müsse es um eine diplomatisch erarbeitete konstruktive Lösung mit dem Diktator Putin gehen. Wie eine Auflösung dieses Dilemmas möglich ist, weiß auch Habermas nicht. Zugleich erleben wir eine weitere Eskalation des Krieges von den Kräfteverhältnissen außerhalb Deutschlands, die hierzulande ideologisch massiv befeuert wird.

Auch deshalb sind mahnende Wortmeldungen wie die von Jürgen Habermas oder von den 28 »Medienschaffenden« mit ihrem offenen Brief an den Bundeskanzler dringend geboten. Wir erinnern in diesem Zusammenhang – auch um den Vorwurf, erneut »aus der Zeit gefallen« zu sein – an die Worte eines gewissen Karl Marx, der bereits vor mehr als 177 Jahren notierte: »Es handelt sich darum, den Deutschen keinen Augenblick der Selbsttäuschung und der Resignation zu gönnen. Man muss den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewusstsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert. Man muss jede Sphäre der deutschen Gesellschaft als den Schandfleck der deutschen Gesellschaft schildern, man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt! Man muss das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen.«[3]

Anmerkungen

[1] Vgl. Jürgen Habermas, Krieg und Empörung, in: Süddeutsche Zeitung vom 29.4.2022
[2] Willy Brandt, Rede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo, 11. Dezember 1971
[3] Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW, Bd.1., S. 381.

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