7. Januar 2019 Otto König/Richard Detje: »Rassist und Diktaturverherrlicher« – Brasiliens neuer Präsident
»Kugel, Vieh und Bibel«
Lateinamerika und die Karibik sind 2018 noch einmal weit nach rechts gerückt. Ausschlaggebend war zuletzt der gravierendste politische Einschnitt in Brasilien seit dem Ende der Militärdiktatur (1964-1985). Eine Regression kontinentalen Ausmaßes.
»Mit seiner flächenmäßigen Größe, der über 210 Millionen zählenden Bevölkerung und einem wirtschaftlichen Gewicht, das fast dem der restlichen Länder Südamerikas zusammengenommen gleichkommt, wird – wie schon der frühere US-Präsident Nixon Anfang der 1970er Jahre formulierte – der Kontinent ›sich dorthin bewegen, wohin Brasilien geht‹.«[1]
In der Hauptstadt Brasilia hat am 1. Januar 2019 der ultrarechte Politiker Jair Bolsonaro im Nationalkongress den Amtseid als 42. Präsident in der Geschichte des Landes abgelegt. Er werde das Land »vom Sozialismus, ideologischer Unterwerfung, der Verkehrung der traditionellen Werte, der staatlichen Gigantomanie und politischer Korrektheit befreien«, so Bolsonaro. Seine Ideologie wird als »Bala, Boi e Bíblia« (Kugel, Vieh und Bibel) beschrieben. Schon im Wahlkampf hatte sich der Hauptmann der Reserve, der offen die zwanzigjährige Diktatur der Militärs in seinem Land verherrlicht, einen Namen mit menschenverachtenden Diffamierungen von Frauen, Afro-Amerikanern, Indigenen und Homosexuellen gemacht.
Der erklärte Antikommunist Bolsonaro, der sich wie Donald Trump Vulgarität, Brutalität und Lügen als Mittel der Politik bedient, will der traditionellen Familie, Gott, der Nation und dem Militär neue Geltung verschaffen. »Die Gefahr in Brasilien ist jetzt, dass es ganz viele kleine Schritte gibt, die die Demokratie aushöhlen werden«, so der Politologe Oliver Stuenkel, Professor für Internationale Beziehungen an der Hochschule Fundação Getúlio Vargas in São Paulo.
Diese Entwicklung ist umso dramatischer, da sich Brasilien nach 500 Jahren grausamer Kolonialgeschichte mit Beginn des neuen Jahrtausends ökonomisch und gesellschaftlich schneller modernisierte als die Nachbarstaaten, von der Weltkarte des Hungers verschwand und unter Präsident Lula da Silva einen langjährigen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte. Der ehemalige Gewerkschaftschef und die Arbeiterpartei PT konnten, solange das Wachstum stimmte, die Rohstoffpreise stabil blieben und von den Gewinnen aus der staatlichen Ölproduktion genug übrig blieb, um Hunger und absolute Armut zu bekämpfen, mit Wohlfahrtsprogrammen und Investitionen in Bildung und Gesundheit vielen Brasilianer*innen sozialen Aufstieg ermöglichen.
Doch die überwiegend weiße Mittelschicht reagierte auf die aufstrebende Unterschicht mit Missgunst und Hass. Gestützt auf evangelikale Christen, nationalistische Militärs, hemdsärmelige Agrarunternehmer und neoliberale Wirtschaftseliten konnte der rechtsextreme Politiker im Herbst 2018 mit einer beispiellosen Hetzkampagne, mit Tabubrüchen und gnadenloser Polarisierung die Wahl[2] gewinnen. Und alles spricht dafür, dass er als Präsident genau da weitermachen wird, wo er im Wahlkampf aufgehört hat. »Brasil encima de tudo, Deus encima de todos«. Gott und die Nation über alles, die traditionelle Familie als Hort der Moral, das Militär als Hüter der Ordnung – ist das Leitmotiv seiner Politik, die auf eine Militarisierung der Innenpolitik, die Bekämpfung sozialer Bewegungen und einen Kulturkampf setzt, mit der der »kulturelle Marxismus« ausgemerzt und links-progressives Denken zugunsten einer konservativ-religiös, teilweise faschistisch geprägten Denkweise zurückgedrängt werden soll. »Alles, was nicht ins rechte Denken passt, wird als Kommunismus abgestempelt: die Diskussion über Homosexualität, über Quoten für People of Color an Universitäten, über Sozialpolitik«, schlussfolgert Marcelo Markus Teixeira von der brasilianischen Hochschule Fundação Getúlio Vargas.
Zum Kernthema des Regierungsprogramms gehört die »öffentliche Sicherheit«. Die patriotische Mission lautet: »dar um jeito no país« – das Land wieder »hinkriegen«, zur Ordnung zurückführen. In Folge dessen soll der in Brasilien verbreiteten Gewalt mit Gewalt begegnet werden. »Waffen sind Instrumente, leblose Objekte, die man zum Töten benutzen kann – aber auch zum Retten von Leben«, heißt es im Regierungsprogramm. Bolsonaro will das existierende Waffengesetz[3] am Parlament vorbei per Dekret lockern: Jeder Brasilianer soll eine Waffe tragen dürfen, um sich zu verteidigen. Polizisten – die in der Vergangenheit wesentlich zum Ausmaß der Gewalt beigetragen haben – sollen juristisch nicht mehr verfolgt werden können, wenn sie Verdächtige töten. Die brasilianische Polizei tötete 2017 über 5.000 Personen, ein Fünftel mehr als im Jahr davor.
Auf der Agenda der Rechtsaußenpolitiker stehen insbesondere Brasiliens Schulen, in denen die »Indoktrinierung« und »frühreife Sexualisierung« beendet werden soll. Fächer wie Sexualkunde und Genderthemen sollen aus dem Unterricht verbannt werden, stattdessen kommen Fächer wie »Moralische und bürgerliche Erziehung« auf den Lehrplan, diese wurden zuletzt in den Zeiten der Militärdiktatur unterrichtet. Auf die Linken in der Lehrerschaft zielt das angekündigte Verbot, ihre politische Meinung im Unterricht zu äußern. Schüler*innen werden aufgefordert, ihre Lehrer*innen bei Verstößen zu filmen. Es gelte die traditionellen Werte zu bewahren und das Bildungssystem gegen »die ideologische Instrumentalisierung durch einen inhaltsleeren Sozialismus« zu verteidigen, sagt der künftige Bildungsminister, Ricardo Vélez Rodríguez, der den Militärputsch von 1964 als eine »begrüßenswerte Revolution« bejubelte.
Weder die Aufrechterhaltung der ethnischen Vielfalt noch der Umweltschutz sind Prioritäten für den neuen Präsidenten, der angedroht hat, das Pariser Klimaschutz-Abkommen zu verlassen. Fest steht: Für die zahlreichen indigenen Völker Brasiliens, die in Schutzgebieten leben, brechen unter dem Ex-Militär schwere Zeiten an. »Wenn es nach mir geht, wird Indios in Zukunft keinerlei Land mehr zugesprochen«, erklärte der »Amigo« der Großgrundbesitzer und Soja-Barone. Jair Bolsonaro hält die indigenen Schutzgebiete für »völlig überdimensioniert«; der Regenwald im Amazonasgebiet, davon gehören 152.000 Hektar der indigenen Gemeinschaft im Westen Brasiliens, sei eine »ungenutzte wirtschaftliche Chance«.
Die Holzfällerlobby, Großgrundbesitzer und die Anhänger einer wirtschaftlichen Ausbeutung des Amazonas-Gebiets, der »Lunge der Welt«, sollen künftig freie Hand haben: Umweltauflagen sollen gelockert, Kontrollen und Strafen für illegalen Holzschlag reduziert und die Genehmigung von Infrastruktur- und Bergbauprojekten vereinfacht werden. So ist es nur konsequent, dass Tereza Cristina Corrêa, die bisher im Parlament in Brasilia die Interessen der Agrarindustrie vertrat und die Verringerung geschützter indigener Gebiete sowie die Flexibilisierung des Einsatzes von Pestiziden befürwortet, neue Agrarministerin wird und die Verantwortung für die Schutzgebiete der indigenen und afrobrasilianischen Gemeinschaften übertragen bekommen hat.
Menschenrechtsorganisationen befürchten einen Abbau der Maßnahmen zur gezielten Förderung benachteiligter Gesellschaftsgruppen. »Die Politik der Zugangsquoten für Minderheiten, vor allem Afrobrasilianer, an den Universitäten sehe ich in Gefahr. Ebenso die Rechte der indigenen Völker und die bisherige Politik des Staates, ihr Land anzuerkennen und einzugrenzen«, so Juana Kweitel, Geschäftsführerin der NGO »Conectas Direitos Humanos«. Die Verteidiger der Interessen der Indigenen von der Bewegung der Landlosen (MST) werden als Terroristen beschimpft. Dabei ist die soziale Bewegung MST eine Reaktion auf die Ungerechtigkeiten und das historische Erbe, das Brasilien nach Jahrhunderten der kolonialen Ausbeutung, Sklaverei und rechtem Autoritarismus mit sich schleppt. Während Agrarmultis ganze Landstriche besitzen und das Agrobusiness den Lebensraum von Kleinbauern zerstört, kämpft die MST mit Besetzungen für eine Agrarreform und damit für eine gerechtere Verteilung von Land. Nach Jahren des starken Staates unter den Regierungen der »Partido de los Trajabadores« (PT) zeichnet sich nun ein »Horrorgemälde« ab, »auf das sich Brasilien und die Welt wohl in naher Zukunft einzustellen hat.« (Boris)
Aktuell befindet sich das Land in einer wirtschaftlichen Krise. Auf die seit 2010 geringeren Wachstumsraten folgte zwischen 2014 und 2016 eine tiefe Rezession mit einem starken Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion. Das Pro-Kopf-Einkommen ist auf das Niveau von Anfang der 2000er Jahre zurückgefallen: Die offiziell gemessene Arbeitslosenquote ist von 4 auf 14% gestiegen; das Haushaltsdefizit ist nach wie vor hoch und die Staatsverschuldung steigt. Letzteres geschieht trotz wiederholter »Sparmaßnahmen«, die in einer Verfassungsänderung gipfelten, welche die realen Staatsausgaben für die nächsten 20 Jahre eingefroren hat.
Ganz oben auf der Agenda steht eine Rentenreform, die die Altersvorsorge weitgehend privatisieren soll. Ebenso ist die komplette Privatisierung von Staatsbetrieben, darunter der Erdölriese Petrobras und der massive Verkauf staatlicher Anteile an den Erdölvorkommen geplant, über die der Staat bisher die Ausgaben für das Gesundheits-[4] und Bildungssystem finanzierte. Letztere sollen nach Wunsch des künftigen Ministers für Wirtschaft und Finanzen, Paulo Guedes, eines früheren Investmentbankers, nach dem Vorbild der Wirtschaftspolitik unter dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet privat organisiert werden. Die ohnehin schon riesige Kluft zwischen Arm und Reich wird noch größer werden.
Bolsonaros Kabinett wird von Militärs, ultrakonservativen Evangelikalen und Vertretern der Agrarlobby dominiert. Die auf Anhieb sichtbarste Veränderung ist die Rückkehr des Militärs auf die politische Bühne: Sieben ehemalige Angehörige der Streitkräfte, darunter vier Ex-Generäle, wurden zu Ministern berufen – für Infrastruktur, Bergbau und Energie, Wissenschaft und Technologie. Armeegeneral a.D. Hamilton Mourao wurde Vizepräsident. Der neue Justizminister Sergio Moro hat den Ex-Präsidenten Lula, Bolsonaros Hauptrivalen, kurz vor den Wahlen ins Gefängnis gebracht. Die künftige Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, Damares Alves, ist eine evangelikale Predigerin, die keinen Hehl aus ihrer Ablehnung von Abtreibungen macht und laut darüber nachdenkt, Frauen dafür bis zu 15 Jahre ins Gefängnis zu schicken. Die Agrarministerin will mehr Pestizide auf die Felder sprühen lassen und Außenminister Ernesto Araújo verbreitet auf seinem Blog in Trumpscher Manier, dass die ökonomische Globalisierung »antichristlich« sei und sich unter der Herrschaft eines »kulturellen Marxismus« befinde.
Wie zerstörerisch Bolsonaros Präsidentschaft für die brasilianische Demokratie ausfallen wird, hängt nicht zuletzt davon ab, ob es den demokratischen Kräften in Zukunft gelingt, sich zu vereinen. Einen Hoffnungsschimmer bilden in dieser Situation die sozialen Bewegungen und Gewerkschaften, die in den letzten Wochen immer wieder zehntausende Menschen gegen den Rechtsaußen auf die Straßen brachten – Arbeiter*innen, Indigene und vor allem Frauen, deren Rechte mit am stärksten bedroht sind.
Ausblick: Im Jahr 2019 werden zwei Wahlen für die politische Entwicklung in Lateinamerika wichtig sein – die Präsidentschaftswahlen in Argentinien und Bolivien. »Die Linke (steht) vor der Herausforderung, das Erreichte zu retten, den Neoliberalismus zu stoppen, der über uns hereingebrochen ist und versucht, das von unseren Völkern Erreichte auszulöschen«, so der kubanische Präsident Miguel Díaz-Canel Bermúdez beim 24. Treffen des Sao Paulo-Forums in Havanna. Nach diesen beiden für die Region wichtigen Wahlen wird zu beurteilen sein, ob aus den bisherigen politischen Rückschlägen die notwendigen Schlüsse gezogen wurden und Anstöße für einen neuen Aufschwung der fortschrittlichen Kräfte in der Region gegeben werden können.
[1] Dieter Boris: Politischer Tsunami in Brasilien. Reflexionen zu den Wahlen im Oktober 2018, in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung Nr. 116, Dez. 2018, S. 152.
[2] Dieter Boris (ebd.) hat eine Skizze von lang-, mittel- und kurzfristigen Faktoren vorgelegt, deren Zusammenwirken die politischen Umbrüche in Brasilien bedingen, die schließlich im Wahlsieg Bolsonaros an der Spitze eines reaktionären sozialen Blocks aus »rechten Strömungen und Parteien, eine in eine bestimmte Richtung politisierten Justiz, einer Polizei und eines Militärs, das immer häufiger indirekt und direkt in die Politik eingreift und der überaus starken Lobby der Großgrundbesitzer sowie evangelikaler Gruppierungen, die den konservativen Grundtrend verstärkten« (ebd., S. 156) mündeten. Dagegen hat es die PT in ihrer Regierungszeit nicht nur versäumt, den privaten Mediensektor zu »entflechten« und ihn zugunsten einer offeneren Zivilgesellschaft zu »pluralisieren«, sondern auch die zwei Jahrzehnte der Militärdiktatur für jene Generation der 20-40-Jährigen aufzuarbeiten, die neu auf die politische Bühne getreten ist.
Wir können es nur sehr begrüßen, wenn Boris seine »Reflexionen« ausarbeitet und damit eine profunde Analyse der Veränderung der sozio-ökonomischen Entwicklung, der Klassen- sowie der sozialen und politischen Kräfteverhältnisse vorlegt. In der Tat hat sich unser Kommentar zum Wahlkampf in Brasilien vom 28. August 2018 als zu »optimistisch« erwiesen, wie auch die »meisten Vorberichte, Analysen oder Wahlprognosen (...) den Ausgang der Wahlen nicht erahnt« hatten (ebd.: 152).
[3] Brasilien hat bis heute ein strenges Waffengesetz. Wer eine Waffe kaufen will, muss mindestens 25 Jahre alt sein, einen festen Job und einen festen Wohnsitz nachweisen können sowie einen psychologischen Test und ein Waffentraining absolvieren und darf keine Vorstrafen haben. Im Zuge der Gesetzesverschärfung im Jahr 2003 wurden über eine Million Waffen abgegeben. Der Staat entschädigte Waffenbesitzer mit umgerechnet bis zu hundert Dollar. In den ersten vier Jahren nach der Verabschiedung des Gesetzes sank die Mordrate um 12%, nahm danach wieder zu, und war 2017 so hoch wie nie. Ein Grund dafür sind Auseinandersetzungen zwischen kriminellen Organisationen, die in den Drogenhandel verwickelt sind (NZZ, 1.1.2019).
[4] In Sachen Gesundheitspolitik wurden bereits Pflöcke eingeschlagen. Anfang November 2018 kritisierte Bolsonaro den Einsatz von über 8.000 kubanischen Ärzt*innen, die im Rahmen einer zwischenstaatlichen Kooperation in verarmten Regionen und gefährlichen Favelas in Großstädten praktizierten. Der designierte Präsident forderte einen nachträglichen Nachweis ihrer medizinischen Qualifikation und lehnte ab, dass der Großteil der Arztgehälter direkt an den kubanischen Staat gezahlt wird. Havanna verbat sich die Drohungen und beorderte die Mediziner*innen nach Kuba zurück. Nach einer Erhebung sind in Folge dessen über 285 Städte in 19 Bundesstaaten von Ärztemangel betroffen (NPLA, 28.11.2018).