6. Juli 2024 Hinrich Kuhls: Nach den Wahlen in Großbritannien
Labour als Rettungsanker des »westlichen Wertesystems«
Der Wahlsieg der Labour Party katapultiert Premierminister Sir Keir Starmer auf die internationale Bühne. In einer Welt des Umbruchs, in der die politischen Kräfteverhältnisse in den anderen G7-Staaten nach rechts driften, wird Großbritannien zum neuen Hoffnungsträger progressiver Entwicklung. Unterstützt die innenpolitische Situation, die hinter dem hohen Wahlsieg steht, diese Hoffnung?
Im Gegensatz zur politischen Volatilität in den anderen G7-Staaten hat das britische Mehrheitswahlrecht (»first past the post«) der Labour Party eine mandatsstarke Regierungsmehrheit beschert, die für die nächsten fünf Jahre die Option einer unangefochtenen Machtausübung verspricht. Dass der sozialdemokratische »Summer of Change« (Starmer) nicht für die britische Außenpolitik gilt, wird sich bereits bei der ersten Auslandsreise des neuen Premierministers nach Washington zum NATO-Gipfeltreffen vom 9. bis 11. Juli zeigen, bei dem der Gründung des nordatlantischen Bündnisses vor 75 Jahren gedacht wird. Die auch von Starmer versprochene Erhöhung der britischen Militärausgaben auf 2,5% des BIP bis 2030 steht von Anfang der Regierungstätigkeit an im Konflikt mit der angekündigten Sozialpolitik von »Changed Labour«.
Am 18. Juli, einen Tag nach der Verlesung der Regierungserklärung durch König Charles III., wird die neue Labour-Regierung Gastgeber des nächsten Gipfeltreffens der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) sein. Die EPG wurde 2022 auf Vorschlag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron als Plattform für die politische Koordinierung zwischen den europäischen Ländern gegründet. Eine »wertebasierte und gut koordinierte Außenpolitik« sei die Voraussetzung für ein geopolitisch handlungsfähiges Europa.
Die Labour Party strebt laut Wahlprogramm eine »neue geopolitische Partnerschaft« mit der Europäischen Union an. Im Zentrum dieser Partnerschaft soll ein Sicherheitspakt stehen, der eine engere Abstimmung nicht nur in Fragen der militärischen Sicherheit, sondern auch in relevanten Fragen der Wirtschafts-, Klima-, Gesundheits-, Cyber- und Energiepolitik vorsieht. Ein solcher Sicherheitspakt sollte ausdrücklich im Einklang und nicht im Gegensatz zur kollektiven Verteidigung in der NATO stehen, da die Allianz aus Sicht der Labour Party weiterhin der primäre Rahmen für die britische und europäische Sicherheit bleibt.
Eine Rückkehr zum Binnenmarkt oder zur Zollunion, aber auch zur Freizügigkeit von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital sowie jede Form der dynamischen Übernahme von EU-Regeln schließt Labour heute und damit anders als vor fünf Jahren kategorisch aus. Stattdessen strebt die Partei einen Ausbau der bilateralen Beziehungen zu engen EU- bzw. NATO-Partnern wie Frankreich, Polen und insbesondere Deutschland an.
Wie die Tories hatte auch die Labour Party den Abschluss eines deutsch-britischen Verteidigungspaktes nach dem Vorbild des britisch-französischen Vertrages als vorrangiges Ziel in ihr Wahlprogramm aufgenommen. Die von führenden Vertretern der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament öffentlich geäußerten Überlegungen, eine europäische Militärorganisation mit Nuklearwaffen auszustatten, finden in diesen Verträgen ihren Boden. Die Vorgespräche zwischen dem neuen britischen Verteidigungsminister John Healey und dem außenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, über einen Vertrag zwischen Großbritannien und Deutschland sollen weit fortgeschritten sein.
Das Ziel der Labour-Regierung, die Position des Vereinigten Königreichs als Konstante des »westlichen Wertesystems« zu stärken und gleichzeitig Distanz zu den wirtschaftlichen und politischen Strukturen der EU zu wahren, erfordert einen großen innenpolitischen Spagat. 78% der britischen Wähler*innen würden heute für eine Rückkehr in die EU stimmen.
Auf der einen Seite wird das erstarkte grün-liberale Spektrum eine engere Kooperation mit der EU fordern, auf der anderen Seite werden Konservative und Rechtspopulisten die Sicherung der vollen Souveränität nicht nur in der Migrationsfrage aggressiver vertreten, vor allem nach den weiteren Verschiebungen im politischen Spektrum rechts der Mitte. Die anhaltende Spannung zwischen den politischen Polen in der britischen EU-Frage ist einer der markantesten Aspekte des historischen Wahlergebnisses.
Das Wahlergebnis
Im Ergebnis ist die vorgezogene Parlamentswahl eine dreifache Protestwahl. Erstens ist die Wahlbeteiligung im Verglich zu 2019 stark gesunken. Weniger als 60% der Wahlberechtigten haben ihre Stimme abgegeben. Bei der Wahl 2019 lag die Wahlbeteiligung bei 67,3%, 2017 bei 68,8%. Das Vertrauen in die politischen Institutionen des Vereinigten Königreichs ist auf einem Tiefpunkt angelangt.
Nur einmal seit 1885 haben anteilig weniger wahlberechtigte britische Staatsbürger*innen an einer allgemeinen Erneuerungswahl des Unterhauses teilgenommen: 2001, als »New Labour« in einer vorgezogenen Wahl ihren Wahlerfolg von 1997 (418 Mandate) mit 412 Mandaten wiederholen konnte, aber nach zuvor 71,6% nur noch 59,4% der Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben.
Zweitens haben die beiden großen Parteien zum ersten Mal seit 1945 weniger als 60% der Stimmen erhalten; bei den Unterhauswahlen 2017 entfielen auf die Konservativen und die Labour Party zusammen noch 82% der Stimmen. Das Mehrheitswahlrecht verhindert, dass sich der Zuspruch für andere Parteien in einer angemessenen Vertretung der Wählerschaft im Parlament und in einer Neuordnung des Parteiengefüges niederschlägt.
Und drittens war die Wahl vor allem eine Abwahl der Konservativen. Selbst wenn man bis zum Vorläufer des heutigen Parteiensystems und der damaligen Formierung der Tories im Jahre 1835 zurückblick, findet sich kein schlechteres Ergebnis als der Stimmenanteil 2024 von weniger als 24%. Der abgewählte Premierminister Rishi Sunak konnte, selbst darin verstrickt, den Fehlern und Überheblichkeiten der Tory-Abgeordneten, der Regierungschefs und der Kabinettsmitglieder keine politische Wende entgegensetzen. Keinen der Wahlkreise seiner Vorgänger*innen konnten die Tories verteidigen. »Historisch« an diesem Wahlergebnis ist die Niederlage des Konservatismus und die Konsolidierung des britischen Rechtspopulismus, der jahrzehntelang aus den Kreisen der Tories begünstigt wurde.
650 Mandate waren zu vergeben, davon 543 in England, 57 in Schottland, 32 in Wales und 18 in Nordirland. Die Konservative Partei hat im Vergleich zu 2019 zwei Drittel ihrer Mandate verloren – eine in diesem Ausmaß nur von wenigen prognostizierte Wahlniederlage für eine Partei, die wie keine andere für sich in Anspruch nimmt, die Union der Nationen des Vereinigten Königreichs zu bewahren. Die Labour Party verdoppelte ihre Mandate von gut 200 auf über 400, und die Liberaldemokraten konnten ihre Sitze von 11 auf 72 um mehr als das Sechsfache steigern – bei einer Ausweitung des Stimmenanteils von weniger als einem Prozentpunkt. Die Grünen konnten ihren Stimmenanteil fast verdreifachen und stellen nun vier Abgeordnete.
Mit Reform UK zieht erstmals seit 1945 eine rechtspopulistische Partei mit mehr als einem Mandat ins Parlament ein. Den fünf Mandaten der Reform-UK-Partei steht ein Stimmenanteil 14,3% gegenüber. 4,1 Mio. Wahlberechtigte haben für die Rechtspopulisten gestimmt, während die Liberaldemokraten 3,5 Mio., die Grünen 1,95 Mio. und die Tories 6,8 Mio. Stimmen erhielten.
In Schottland ist die linkssozialdemokratische Volkspartei SNP, die in Edinburgh in einer Koalitionsregierung mit den schottischen Grünen der größere Partner ist, nach mehreren Partei- und Regierungskrisen implodiert: Sie verlor bis auf neun alle bisherigen Sitze im Westminster-Parlament, vor allem an die Labour Party, die in einem ihrer »Stammlande« jetzt wieder 37 Mandate gewinnen konnte.
In Wales konnte die Konservative Partei kein einziges Mandat erringen. In Nordirland gewann die linksrepublikanischen Partei Sinn Féin – nachdem sie schon im der nordirischen Legislativversammlung stärkste Kraft geworden war – erstmals bei einer Unterhauswahl die meisten Mandate. In einer antiquiert anmutenden Geste werden ihre sieben Abgeordneten aber auch diesmal ihrer parlamentarischen Tätigkeit in London fernbleiben.
Labours »Superwahlerfolg« – entzaubert
Für die Labour Party haben dieses Mal 9,7 Mio. Wähler*innen gestimmt. Das ist ein weiterer Rückgang um 600.000 Stimmen im Vergleich zum Wahlergebnis von 2019, das hinsichtlich der Mandatsverluste als das schlechteste Wahlergebnis für Labour seit 1935 herausgestellt worden war und aus den Kreisen der aktuellen Labour-Führung vor allem mit der Person des damaligen Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn, der 2024 als unabhängiger Kandidat seinen Wahlkreis Islington North verteidigen konnte und wieder ins Parlament einzieht, in Verbindung gebracht worden ist. Im Dezember 2019 hatten 10,3 Mio. Wahlberechtigte für Labour gestimmt, im Juni 2017 waren es 12,9 Millionen.
Mit 34% der Stimmen hat Labour dieses Mal 64% der Sitze errungen. Dagegen entspricht bei den Liberaldemokraten ihr parlamentarisches Gewicht von 11% der Sitze in etwa ihrem Stimmenanteil von 12%. Entscheidend für die hohen Zugewinne von Labour und Liberaldemokraten ist jedoch, dass das Mehrheitswahlrecht jeweils die stärkste Partei begünstigt wird, wenn mehrere Parteien im gegnerischen politischen Spektrum miteinander konkurrieren und keine taktischen Wahlabsprachen treffen.
So verdankten die Tories ihre Wahlerfolge im letzten Jahrzehnt der Tatsache, dass die damaligen Oppositionsparteien jeweils auf ihre eigene Stärke pochten. Entscheidend für die hohen Mandatsgewinne der Liberaldemokraten und der Labour Party war diesmal, dass in mehr als der Hälfte der Wahlkreise, die von den progressiven Parteien in England gewonnen wurden, die Stimmenanteile der Konservativen Partei und der Reformpartei zusammen zwar höher waren als die der erfolgreichen Kandidat*innen, die sehr hohen Zustimmungswerte für die Rechtspopulisten aber den Tory-Kandidat*innen den Weg versperrten.
Neben den fünf gewonnenen Wahlkreisen kamen die Rechtspopulisten in fast 100 der 575 Wahlkreise in England und Wales auf den zweiten Platz, und selbst dort, wo sie auf dem dritten oder vierten Platz landeten, reichte ihr Stimmenanteil oft aus, um den/die Berwerber*in der Tories am Mandatsgewinn zu hindern. Dies bestätigt einmal mehr, dass der Rechtsruck in der britischen Gesellschaft eine treibende Kraft in der britischen Politik ist, die immer noch nicht angemessen berücksichtigt wird und die sich erst recht nicht mit Hinweisen auf die Reaktivierung des Trump-Freundes und neuen Reform-UK-Führers Nigel Farage oder die vorzeitige Abreise Sunaks von den D-Day-Gedenkfeiern erklären lässt.
Der Anstieg des Stimmenanteils der Labour Party um 1,6 Prozentpunkte von 32,1% auf 33,7% ist ausschließlich auf den Stimmenzuwachs in Schottland aufgrund der Implosion der SNP zurückzuführen. Bei den Wähler*innen in England und Wales, die 2019 für Labour gestimmt haben und jetzt zur Wahl gingen, verliert Labour mehr als ein Prozent. Allein bei den ehemaligen Tory-Wähler*innen kann Labour leichte Zugewinne vermelden, während die größte Wählerbewegung von den Tories zu Reform UK geht. In der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen ist das Wahlergebnis für Labour überproportional hoch.
Das taktische Wahlverhalten der Rechtspopulisten 2019 – sie stellten in Wahlkreisen, in denen Tory-Abgeordnete kandidierten, keine eigenen Kandidaten auf – ermöglichte den hohen Sieg der Konservativen. Das politische Ziel der Führungsgruppe von Reform UK, der Konservativen Partei den Rang abzulaufen oder die Tories in eine rechtspopulistische Parteiformation zu zwingen und in allen Wahlkreisen Kandidat*innen aufzustellen, ermöglichte 2024 den hohen Mandatszuwachs der Labour Party.
Bedenklich ist, dass die Parteizentrale der Labour Party entgegen ihrer Parole »country first, party second« den rechtspopulistischen Angriff auf die Konservativen für ihre Wahlkampftaktik instrumentalisierte. So entzog sie dem Labour-Kandidaten im Wahlkreis des Reform-UK-Vorsitzenden Farage Wahlkampfressourcen und lenkte sie in andere Wahlkreise um.
Reflektionen über das britische Mehrheitswahlrecht seien müßig für eine Einschätzung der politischen Entwicklung in Britannien und man müsse es als gegeben hinnehmen, heißt es seitens vieler Beobachter. Dem ist entgegenzuhalten, dass zumindest die Mehrheit der Delegierten der letzten Jahreskonferenz der Labour Party anderer Auffassung war. Sie hatten einen Beschluss gefasst, dass das Ziel, im Rahmen einer größeren Verfassungsinitiative das Mehrheits- durch ein Verhältniswahlrecht (»proportional representation«) zu ersetzen, in das Wahlprogramm aufgenommen werden sollte. Die Parteiführung folgte diesem Beschluss nicht.
Start und Ziel
Unabhängig von der Diskussion über Wahlsysteme: Der neue Premierminister hat mit der starken Mandatsmehrheit hervorragende Voraussetzungen, nicht nur die negativen Zustimmungswerte, mit denen er sein Amt angetreten hat, ins Gegenteil zu wenden, sondern auch sein Ziel zu erreichen, nach dem »Umbau« der Labour Party jetzt auch das Land zu erneuern.
Ob die Labour-Regierung international und innenpolitisch zu einem Bollwerk gegen das weitere Abdriften in Richtung Rechtspopulismus und Autoritarismus werden kann, hängt vor allem davon ab, ob es ihr gelingt, die drängenden Probleme der Sozialpolitik und des sozial-ökologischen Umbaus in Großbritannien zu entschärfen.
Die Labour-Führung setzt dabei auf ein von privaten Investitionen getragenes Wirtschaftswachstum, das zu höheren Steuereinnahmen führt. Um eine ökonomische Wende einzuleiten, die den Wachstums- und Produktivitätstrend der letzten Jahrzehnte umkehrt, bedarf es größerer Anstrengungen. Der Wachstumstrend ist nicht nur im Zeitverlauf, sondern auch im internationalen Vergleich negativ.
Wie das magische Dreieck aus Vermeidung von Sparmaßnahmen im öffentlichen Sektor, Vermeidung von Steuererhöhungen und Einhaltung strenger fiskalischer Regeln bei der Aufnahme öffentlicher Kredite erreicht werden soll, hat die Labour-Führung im Wahlkampf offengelassen.
In einer Antrittsrede im Finanzministerium versprach die neue »Schatzkanzlerin«, die Ministerin für Finanzen und Makroökonomie Rachel Reeves, das wachstumsfreundlichste Ministerium aller Zeiten zu führen und eine Industriepolitik zu unterstützen, von der die Labour Party hofft, dass sie die schwächelnden Investitionen ankurbeln wird. »Dieses Finanzministerium wird seine volle Rolle in einer neuen Ära der Industriestrategie spielen und Hand in Hand mit der Wirtschaft arbeiten, um sicherzustellen, dass Großbritannien wieder wirklich offen für Unternehmen ist«, sagte sie.
Schon in der Regierungserklärung vom 17. Juli müssten die Andeutungen etwas konkreter werden, soll die mal als »missionsorientierte Wirtschaftspolitik«, mal als »Securonomics« bezeichnete Wirtschaftspolitik nicht zu einem leeren Versprechen verkommen, wie es die Ökonomin Mariana Mazzucato schon vor einem Jahr und jüngst wieder kritisierte: »Großbritannien muss wieder wachsen. Eine missionsorientierte Industriestrategie kann Großbritannien helfen, den Teufelskreis der Unterinvestition zu durchbrechen.« (New Statesman, 19.6.2024).
Die neue Labour-Regierung hat im Vorfeld viele positive Vorschusslorbeeren aus Wirtschaft und Gesellschaft erhalten. Noch nie haben die britischen Medien in ihren traditionellen Wahlempfehlungen in dieser Breite zur Wahl der Labour Party aufgerufen. Zum Beispiel die Financial Times: »Wir glauben an liberale Demokratie, freien Handel, privates Unternehmertum und ein weltoffenes Großbritannien. Das hat uns oft näher an die britischen Konservativen gebracht. Aber diese Generation der Tories hat ihren Ruf als Partei der Wirtschaft und ihren Anspruch, die natürliche Regierungspartei zu sein, verloren. Die Partei braucht eine Zeit in der Opposition, um ihre internen Differenzen zu überwinden. [...]
Die Labour Party von Sir Keir Starmer ist heute besser in der Lage, die Führung zu übernehmen, die das Land braucht. Vor fünf Jahren, unter der Führung des linksradikalen Jeremy Corbyn, wäre diese Vorstellung noch abwegig gewesen. Starmer hat aus einem chaotischen Haufen, der sich nach dem gescheiterten Interventionismus der 1970er-Jahre sehnte, wieder eine glaubwürdige Regierungspartei gemacht. [...] Die FT ist immer noch besorgt über den interventionistischen Instinkt und die Regulierungswut von Labour. Ihre historische Sympathie für die Gewerkschaften muss mit den Interessen der Wirtschaft und der Öffentlichkeit in Einklang gebracht werden.
Ihr verständlicher Eifer, sich vom Corbynismus und ihrer steuer- und ausgabenorientierten Vergangenheit zu distanzieren, hat sie zu übertriebener Vorsicht gezwungen. Wie bei den Konservativen werden ihre unrealistischen fiskalischen Annahmen dazu führen, dass sie Schwierigkeiten haben wird, den maroden öffentlichen Gesundheitsdienst und andere öffentliche Dienstleistungen zu finanzieren und in sie zu investieren. Die Antworten der Labour Party auf viele innenpolitische Fragen sind unzureichend. In ihrem Manifest wird zu oft an den Rändern herumgedoktert.
Aber Labour hat positive Ideen, und Starmer und seine designierte Schatzkanzlerin haben hart daran gearbeitet, das Vertrauen der Wirtschaft und der City of London zurückzugewinnen. Ein weniger ideologischer Ansatz in der Regierung ist willkommen. Die Partei hat zu Recht die Wiederbelebung des Wachstums in den Mittelpunkt ihres Programms gestellt. Die Stabilität, Berechenbarkeit und Kompetenz, die sie verspricht, fehlen der britischen Regierung seit Jahren. Das sind die Zutaten, die notwendig sind, um Investitionen anzuziehen« (FT vom 1.7.2024).
Angesichts der hohen Erwartungen irrt sich die Financial Times in einem Punkt: Auch vor fünf Jahren wurde das Wahlprogramm der Labour Party, insbesondere die Vorschläge zur Industriepolitik und zur Finanzierung der Transformationsaufgaben, von progressiven finanzpolitischen Kreisen gelobt. Der Chefkommentator der FT, Martin Wolf, gehörte nicht dazu (FT 28.11.2019). Politisch setzte man nicht auf sozialdemokratische Führungspersönlichkeiten, sondern auf einen clownesken Lügner aus dem rechtspopulistischen Lager, um dann mit Krokodilstränen seine wirtschaftlichen und sozialen Verwüstungen – und die seiner Nachfolgerin – zu beweinen.
Ob diejenigen, die mit einem Schatzkanzler John McDonnell das Land in der Traufe wähnten, nun von einer Schatzkanzlerin Reeves in den Regen gestellt werden, bleibt ebenso abzuwarten wie die Antwort auf die Frage, ob Labour ein »Rettungsanker der westlichen Wertegemeinschaft« wird.
Die Führung der Labour Party und ihrer Parlamentsfraktion hat sich weit von ihrer Basis in den Wahlkreisorganisationen und in den Gewerkschaften entfernt. Die Aussichten, dass sie in einer Regierungs- oder Gesellschaftskrise zu einer Politik der Erneuerung der öffentlichen Infrastruktur und der industriellen Basis, verbunden mit einer inklusiven Sozialpolitik, zurückfindet, wie sie die Partei vor ihrem tiefgreifenden Umbau in den Jahren 2015 bis 2019 entwickelt hatte, sind gering.
Während im Krieg einer Redeweise nach zuerst die Wahrheit stirbt und dann die Soldaten und Zivilisten, sind es im Frieden auch in Britannien die Vernachlässigten und Elenden, die unter den von Ungleichheit geprägten sozialen Verhältnissen leiden – und die Hoffnung stirbt zuletzt.