Nix’ Klassiker und
Gramscis Geist
Dienstag, den 8.10.2024 | Dillenburg | 19:00 Uhr | Wilhelm-von-Oranien-Schule, Jahnstr. 1

Christoph Nix ist Schriftsteller, Regisseur, Strafverteidiger, Wissenschaftler, Honorarkonsul von Malawi – und noch vieles mehr. Das Multitalent kommt an seine alte Dillenburger Schule und liest aus seinen Klassikern sowie aus seinem neuesten Werk »Gramscis Geist. Ein Sardisches Tagebuch«.

Die Entzauberung eines Kanzlers
Mittwoch, den 9.10.2024 | Hamburg | 19:30 Uhr | Buchhandlung Quotes, Waitzstr. 16.

Die wahre Geschichte ist hässlicher als alle Gerüchte. In diesem Sinne stellt der VSA: Autor Torsten Teichert  seine in diesem Frühjahr erschienene Flugschrift über Olaf Scholz vor und stellt sich den Fragen des Publikums. Eintritt frei.

Christoph Nix
Gramscis Geist
Ein Sardisches Tagebuch
Mit Zeichnungen von Katrin Bollmann und Fotos von Sebastiano Piras
144 Seiten |  EUR 14.00
ISBN 978-3-96488-223-3

Hans-Jürgen Urban (Hrsg.)
Gute Arbeit gegen Rechts
Arbeitspolitik: Theorie, Praxis, Strategie – Ausgabe 2024
136 Seiten | EUR 10.00
ISBN 978-3-96488-225-7

Dieter Klein
Gemeinsame Sicherheit –
trotz alledem

Überlegungen für zeitgemäße
linke Strategien
Eine Veröffentlichung
der Rosa-Luxemburg-Stiftung
232 Seiten | EUR 16.80
ISBN 978-3-96488-213-4

Giuseppe Fiori
Das Leben des Antonio Gramsci
Herausgegeben von Christoph Nix
304 Seiten | EUR 19.80
ISBN 978-3-96488-218-9

Gine Elsner
Freikorps, Korporationen und Kolonialismus
Die soziale Herkunft von Nazi-Ärzten
296 Seiten | Hardcover | € 26.80
ISBN 978-3-96488-195-3

Torsten Teichert
Die Entzauberung
eines Kanzlers

Über das Scheitern der Berliner Politik | Eine Flugschrift
108 Seiten | EUR 12.00
ISBN 978-3-96488-216-5

Hajo Funke
AfD-Masterpläne
Die rechtsextreme Partei und die Zerstörung der Demokratie | Eine Flugschrift
108 Seiten | EUR 10.00
ISBN 978-3-96488-210-3

Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
Den Krieg verlernen
Zum Vermächtnis einer Pazifistin | Eine Flugschrift
120 Seiten | EUR 12.00
ISBN 978-3-96488-211-0

10. Oktober 2022 Joachim Bischoff/Bernhard Müller: Die Ergebnisse in Niedersachsen

Landtagswahl in Krisenzeiten

Bei den Landtagswahlen in Niedersachsen waren rund sechs Mio. Wahlberechtigte aufgerufen, ihre Volksvertreter*innen für die neue Legislaturperiode zu bestimmen. Bei der letzten Wahl 2017 hatten sich 63% an diesem Grundrecht beteiligt. Aus dem damaligen politischen Wettbewerb ist eine Große Koalition aus SPD und CDU hervorgegangen. Geleitet wurde diese Wahlallianz von Stephan Weil. Er ist seit 2013 Ministerpräsident.

Diese Landtagswahl hatte keine guten Voraussetzungen, denn die Berliner Republik steckt tief in der größten Krise der Nachkriegszeit. Die mehrjährige Corona-Pandemie war mit großem gesundheitspolitischem Einsatz und erheblichen finanziellen Mitteln keineswegs leichtfüßig durchschritten worden. Aber statt dem versprochenen Aufschwung drücken nun die Folgen des Ukraine-Krieges (Flüchtlingsversorgung, Waffenlieferungen, Hilfsprojekte) und vor allem die dadurch verstärkte Energiekrise die politische Stimmung zu Boden.

Ausweislich eines Regierungsberichtes sind die Menschen in allen Bundesländern höchst unzufrieden mit der Demokratie und mit der Politik. Nur noch 39% der Ostdeutschen sind mit der Demokratie zufrieden – vor zwei Jahren lag der Wert noch knapp bei 50%. Auch im Westen ist der Wert von 65% auf 59% gesunken.

Nicht nur die politische Klasse erhält also parteiübergreifend schlechte Noten, sondern die Entfremdung und Unzufriedenheit hat die gesellschaftlichen Institutionen selbst erfasst. Laut dem aktuellen Deutschlandtrend haben die drei Regierungsparteien der Ampel-Koalition mit zusammen nur noch 43% der Stimmen keine politische Mehrheit mehr, während nicht nur die konservative Opposition, sondern auch die extreme Rechtsaußenpartei AfD wieder Höchstwerte um die 15% verzeichnen kann.

Drei Viertel der Deutschen (76%) beurteilen die bisherigen Entlastungsmaßnahmen der Regierung als »weniger gut« oder schlecht. Eine deutliche Mehrheit der Befragten (70%) ist auch bei der Sicherung der Energieversorgung nicht mit der Arbeit der Bundesregierung zufrieden. Dabei bewerten vier von fünf Deutschen (80%) die wirtschaftliche Lage hierzulande als »weniger gut« oder gar als schlecht.

Die Bewertung ist demnach so schlecht wie zuletzt 2009 in der Finanz- und Wirtschaftskrise. Auch der Blick in die Zukunft ist der Umfrage zufolge sorgenvoll: 53% der Befragten glauben, die wirtschaftliche Lage in Deutschland werde in einem Jahr schlechter sein als heute. Beunruhigt äußerten sich 85%, das sind 34 Prozentpunkte mehr als im April 2020 zu Beginn der Corona-Krise. Seit Beginn der Umfrage zur wirtschaftlichen Lage 1997 war die Zuversicht noch nie so gering. Insgesamt traf also die Landtagswahl in Niedersachsen auf einen tief verunsicherten, entfremdeten und mindestens politisch verstimmten Souverän.


Die Ergebnisse

Die Reaktionen der Wähler*innen sind eher maßvoll ausgefallen. Die Wahlbeteiligung ist auf 60,3% (2017: 63,1%) zurückgegangen. Dies ist sicher das Ergebnis des abgesunkenen Institutionenvertrauens. Die sozialdemokratische Partei konnte trotz Stimmverlusten ihre Position als stärkste Partei behaupten. Mit 33,4% (-3,5%) der abgegebenen Stimmen wird sie auch den nächsten Regierungschef stellen. Gewinner der Wahlen sind die Grünen, die mit 14,5% Zustimmung ihr Wahlergebnis von 2017 (8,7%) deutlich verbessern konnten. Allerdings haben ihre Zustimmungswerte im Laufe der letzten Wochen deutlich abgenommen. Rot-Grün verfügt damit über eine ausreichende Mehrheit im neuen Landesparlament.

Wahlverlierer sind die bürgerlichen Parteien. Die CDU erreichte mit 28,1% ihr schlechtestes Ergebnis seit 1955, und wird auf die Oppositionsbänke verwiesen. Die FDP scheiterte mit 4,7% an der Fünf-Prozent-Hürde – eine Tendenz, die sich seit Monaten auch auf der Bundesebene abgezeichnet hat.

Dagegen hat die AfD deutlich an Zustimmung gewonnen, und konnte nach 6,2% im Jahr 2017 nun 10,9% der Wähler*innenstimmen für sich gewinnen. Der Versuch, die Stimmung im Land mit rechtspopulistischen Themen einzufangen, war offensichtlich erfolgreich, trotz z.T. desaströser Zustände im niedersächsischen Landesverband der AfD.

Beides – Wahlerfolg der AfD und niedrige Wahlbeteiligung – hängen eng zusammen mit dem Einbruch beim Vertrauen in das politische System und die Fähigkeit der Parteien, die eng miteinander verwobenen Krisenkonstellationen zu bewältigen. Die Klasse der etablierten Politik hat hier eine Quittung für ihre politischen Manöver erhalten.

In der Folge sinkt auch die generelle Zufriedenheit mit der Arbeit der Bundesregierung auf einen neuen Tiefpunkt der bisherigen Amtszeit, die im Dezember 2021 begonnen hatte. So sind aktuell 29% mit der Arbeit der Ampelkoalition sehr zufrieden oder zufrieden (-2). 68% sind hingegen weniger oder gar nicht zufrieden (+/-0).

In Niedersachsen ist die Zufriedenheit mit der Politik der Landesregierung noch deutlich höher. Immerhin 56% sind mit der Arbeit der Landesregierung zufrieden oder sehr zufrieden. Davon haben in erster Linie Stephan Weil und die SPD profitiert, was in den Medien gerne als »Amtsbonus« bezeichnet wird. Ein mindestens genauso gewichtiger Faktor war allerdings die schlechte Performance der CDU mit Bernd Althusmann ab der Spitze.

Das bestimmende Thema im Wahlkampf war die Energiekrise und der Umgang mit ihren Folgen. Fast alle Parteien plädierten für eine weitere Entlastung der Verbraucher*innen. Ministerpräsident Weil forderte von der Bundesregierung, die Staatshilfen auszuweiten. Über die Finanzierung zusätzlicher Hilfen wie etwa einen Gaspreisdeckel herrschte zum Teil Uneinigkeit. SPD und GRÜNE sind für die Aussetzung der Schuldenbremse, die FDP dagegen.

Diskutiert wurde auch über den Weiterbetrieb von Atomkraftwerken sowie den Ausbau der erneuerbaren Energien. Klassische landespolitische Themen wie die Bildungspolitik spielten zuletzt eine eher untergeordnete Rolle: Unterschiedliche Vorstellungen haben die Parteien etwa bei der Abschaffung der Förderschulen oder beim Ausbau von Gesamtschulen.

Ministerpräsident Weil präsentierte sich als erfahrener Krisenmanager mit einem engen Draht zu Bundeskanzler Olaf Scholz. Weil will Niedersachsen als Energie-Drehscheibe Deutschlands etablieren – auch wenn er frühere Positionen dafür aufgeben muss. Denn neben dem Ausbau von Wind- und Solarenergie werden gerade nicht nur LNG-Terminals für flüssiges Erdgas im Rekordtempo durchgedrückt, auch die Gasförderung in der Nordsee, die die Landesregierung noch vor einem Jahr mit Verweis auf den Naturschutz vehement abgelehnt hatte, ist auf einmal gewollt. Die Niederlande haben gerade erst die Erlaubnis erhalten, um vor Borkum nach Erdgas zu bohren. Eine längere Nutzung der Atomkraft sehen SPD und Grüne allerdings deutlich kritischer als CDU und FDP.

In Sachen Entlastung hat Weil zudem ein Landesprogramm von 970 Mio. Euro in Aussicht gestellt, finanziert aus höheren Steuereinnahmen, was die CDU als unseriöses Wahlkampfmanöver bezeichnete und vor allem den Bund in der Pflichtsieht, die Energiepreise zu senken.

Die Sozialdemokratie hat im Wahlkampf mit der Parole »Das Land in guten Händen« für sich geworben und ihr Regierungsprogramm unter das Motto »Fortschritt, der alle mitnimmt« gestellt. Laut Wahlprogramm will die SPD die Wirtschaft durch die Einrichtung eines Fonds bei der Bewältigung von Digitalisierung und Klimawandel unterstützen. Bis 2040 soll das Land vollständig durch erneuerbare Energien versorgt werden.

Im Bildungsbereich will die SPD u.a. eine »digitale Lernmittelfreiheit« einführen und kostenlose Tablets für alle Schüler*innen zur Verfügung stellen. Mit der Gründung einer Landeswohnungsbaugesellschaft sollen Wohnungsnot und hohe Mieten bekämpft werden, und bis 2025 soll jeder Haushalt im Bundesland über einen Gigabit-Internetanschluss verfügen. Weiterhin soll die Polizeipräsenz ausgebaut werden. Den ländlichen Raum will die Partei durch eine gute Anbindung an den ÖPNV, eine Landarztquote und regionale Gesundheitszentren stärken.

Profitiert hat Weil davon, dass Niedersachsen bisher ganz leidlich durch die Corona-Pandemie gekommen ist. So ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Niedersachsens wie auch in den anderen Ländern Pandemie bedingt im Jahr 2020 zurückgegangen, und fiel real um 4,6% gegenüber dem Vorjahreswert. 2021 legte das BIP dann aber wieder um 1,7% zu und betrug pro Kopf 39.401 Euro (Bundesdurchschnitt: 42 593 Euro).

Zur wirtschaftlichen Leistung trugen 2021 in Niedersachsen zu rund zwei Dritteln (65,7%) die Dienstleistungsbereiche bei, das Produzierende Gewerbe (ohne Baugewerbe) mehr als ein Viertel (25,8%). Im Baugewerbe wurden 6,5% erbracht und in der Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei 1,9%. Im Bundesvergleich waren die Landwirtschaft, das Produzierende Gewerbe (ohne Bau) in Niedersachsen über- und die Dienstleistungsbranchen unterrepräsentiert.

Regional ist das Produzierende Gewerbe (ohne Baugewerbe) an den drei Volkswagenstandorten in den kreisfreien Städten Wolfsburg, Salzgitter und Emden besonders bedeutend. Sehr stark auf Dienstleistungen ausgerichtete Regionen sind dagegen die übrigen kreisfreien Städte, die Region Hannover sowie die Landkreise Harburg, Lüneburg, Leer und Wittmund, wo 2019 jeweils mindestens drei Viertel der Bruttowertschöpfung auf diesen Sektor fielen.

Auch die Beschäftigung hat wieder zugenommen. So gingen am 30.6.2021 in Niedersachsen insgesamt rund 3,2 Mio. Menschen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach (Deutschland: 33,1 Mio.). Gegenüber dem Vorjahresmonat wuchs die Zahl um rund 46.000 und auch im ersten Pandemie-Juni 2020 lag die Zahl der Beschäftigten rund 8.900 über dem Wert vom Juni 2019. Allerdings befanden sich in den beiden Pandemiejahren viel mehr Menschen in Kurzarbeit.


Soziale Spaltung weiter vertieft

Trotz aller wirtschafts- und sozialpolitischer Anstrengungen hat die bisherige rot-schwarze Landesregierung wenig gegen den Trend einer verfestigten und sich ausweitenden sozialen Spaltung gerade auch in der Corona-Pandemie getan, in ihrem Regierungsprogramm 2017 war ihr das Thema Armut gerade einmal eine halbe Seite wert.

So hat die Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse zugenommen. Zu diesen zählen in Abgrenzung vom Normalarbeitsverhältnis Beschäftigungen, die in Teilzeit mit 20 oder weniger Arbeitsstunden pro Woche oder geringfügig, befristet oder als Zeitarbeit ausgeübt werden. In Niedersachsen befanden sich 2021 mit rund 741.000 der 3,5 Mio. Kernerwerbstätigen (Erwerbstätige ohne Auszubildende oder Personen in Bildung) im Alter von 15 bis unter 65 Jahren in einem atypischen Beschäftigungsverhältnis. Das entsprach mit 21,3% etwas mehr als einem Fünftel. Unter den Männern ging etwa jeder achte (12,0%; 222.000 Personen) einer atypischen Beschäftigung nach, bei den Frauen traf dies auf fast jede dritte zu (31,7%; 519.000 Personen).

Zu diesen prekär Beschäftigten zählen auch die Minijobber*innen, die in der Corona-Krise oft arbeitslos geworden sind, und keinen Anspruch z.B. auf Kurzarbeit hatten. So gab es in Niedersachsen (Wohnort) am 30. Juni 2021 insgesamt 445.709 ausschließlich geringfügig entlohnte Beschäftigte und damit 1,9% weniger als im ersten Pandemiejahr 2020 (Deutschland: 4,1 Mio.; -2,6%), in dem die Anzahl bereits um 8,4% niedriger war als im Juni 2019. Der starke Rückgang gegenüber 2019 um zusammengenommen 10,1% ist den weggefallenen Jobmöglichkeiten insbesondere im Dienstleistungsgewerbe wie der Gastronomie im Zuge der Lockdowns geschuldet. Fast ein Viertel der Minijobbenden (22,7%) hatten die Regelaltersgrenze bereits erreicht (2021: 65 Jahre und 11 Monate), waren also zumeist Rentner*innen oder Pensionär*innen, die sich etwas hinzuverdienten oder auch keine Rentenansprüche hatten.


Kein »Fortschritt, der alle mitnimmt«

Die prekär Beschäftigten gehören denn auch zur großen Zahl der Armen in Deutschland und in Niedersachsen. Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,6% im zweiten Pandemie-Jahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht. 13,8 Mio. Menschen müssen demnach hierzulande derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie. In Niedersachsen liegt die Armutsquote mit 17,9% mittlerweile deutlich über dem Bundesdurchschnitt.

Im Vergleich zu 2020 hat die Armutsquote nochmal um 1,7% zugelegt. Beim Blick in die Fläche zeigt sich, dass die Armutsbetroffenheit regional differenziert betrachtet werden muss. Während das Umland von Hannover mit 14,8% deutlich hinter dem Landesdurchschnitt bleibt, liegen die Region Ostfriesland mit 20,2% oder die Landkreise Goslar, Osterode am Harz, Göttingen und Northeim mit 20,6% weit darüber.

Nimmt man den Landesmedian als Bezugspunkt, lag die Armutsgefährdungsquote im Jahr 2021 in Niedersachsen bei 16,8%. Damit waren damit circa 1,3 Mio. Menschen von relativer Einkommensarmut betroffen. Deutschlandweit betrug die Quote 16,6%. Nach Angaben des niedersächsischen Landesamts für Statistik nahm die Gefahr der Altersarmut in der Corona-Pandemie zu: 2021 waren demnach 17,9% der Menschen über 65 Jahre von Armut gefährdet, 2019 waren es früheren Angaben zufolge noch 15,4%.

Überdurchschnittlich armutsgefährdet waren aber nicht nur Senior*innen, sondern auch Kinder und Jugendliche (21,0%) und junge Erwachsene bis 25 Jahre (24,8%). Auf existenzsichernde Hilfen des Staates waren im ersten Corona-Jahr 2020 insgesamt 684.861 Menschen in Niedersachsen angewiesen – und somit 0,7% mehr als noch im Jahr 2019. Der Anteil an der Bevölkerung nahm um 0,1 Prozentpunkte auf 8,6% zu. Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60% des monatlichen Nettoeinkommens vergleichbarer Haushalte zur Verfügung hat.

Entscheidend für das Armutsrisiko ist auch die Haushaltskonstellation, in der Menschen leben. Einpersonenhaushalte wiesen demnach mit 29,2% eine mehr als dreimal so hohe Armutsgefährdungsquote auf wie Paare ohne Kinder (9,3%). Bei Alleinerziehenden-Haushalten waren es durchschnittlich 41,1%. Wichtige Einflussfaktoren für das Armutsrisiko sind zudem das Bildungsniveau und der Erwerbsstatus. Große Unterschiede lassen sich schließlich auch zwischen Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte feststellen.

»Armut ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das zu viele Menschen in Niedersachsen betrifft – vor allem Kinder«, sagt Kerstin Tack, Vorsitzende des Paritätischen Niedersachsen. »Was wir heute sehen, sind die Folgen der Corona-Pandemie. Der Ukraine-Krieg und der damit einhergehende rasante Preisanstieg bei Wohnenergie und Lebensmitteln kommen erst noch auf uns zu. Aktuell tragen besonders Familien mit niedrigem Einkommen die höchste Inflationsbelastung. Wenn diese nicht zeitnah durch zusätzliche und zielgerichtete Entlastungen unterstützt werden, drohen erhebliche gesellschaftliche Verwerfungen, mit Folgen für das ganze Land.«

Angesichts steigender Inflation und explodierender Energiekosten hat deshalb auch die Landesarmutskonferenz vor einer dauerhaften sozialen Schieflage in Niedersachsen gewarnt. Die Tendenz für die nächste Zeit sei bedrohlich, sagte der Geschäftsführer der Landesarmutskonferenz, Klaus-Dieter Gleitze, mit Blick auf die aktuelle Statistik – auch wenn die Ampelkoalition in Berlin mit einer Inflationsprämie unter die Arme greifen will: »Die Zerreißprobe für unsere Gesellschaft liegt nicht nur im materiellen Wohlstandsverlust breiter Schichten und der Ausbreitung von Massenarmut. Die ständigen, sich verstärkenden Krisen ohne absehbare Aussicht auf Besserung verstärken auch die psychischen Belastungen.«

Gleitze warnte, 60% aller Haushalte würden absehbar ihr gesamtes Einkommen für den Lebensunterhalt ausgeben müssen und könnten keine Rücklagen für Notsituationen bilden. Arme und zunehmend auch Menschen mit normalen Einkommen stünden angesichts des Winters mit extremen Energiekosten vor der Frage, wie lange das Geld im Monat für Ernährung reiche. Dies produziere Ängste und Aggressionen und sei ein idealer Nährboden für Rechtspopulisten.

Die Landesarmutskonferenz forderte die vollständige Stromkostenübernahme bei Hartz IV und Grundsicherung durch die Jobcenter, einen Gaspreisdeckel für eine Energiegrundsicherung, höhere Hartz-IV-Regelsätze und Grundsicherung, einen nationalen Aktionsplan zur Armutsbekämpfung und eine Übergewinnsteuer. Superreiche sollten zudem an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden – per Vermögensabgabe.


Die Herausforderungen für die neue Landesregierung

Die Herausforderungen, vor denen Niedersachsen steht, umreißt ein Papier aus dem Wirtschaftsministerium des Landes: »Für die niedersächsische Wirtschaft reißen die Herausforderungen nicht ab, Nachdem der extreme wirtschaftliche Einbruch im Jahr 2020 infolge der Corona-Pandemie bereits tiefe Spuren hinterlassen hat und die Folgen noch nicht überwunden sind, steckt die Wirtschaft mit dem russischen Angriffskrieg und den tiefgreifenden Auswirkungen bereits in der nächsten Krise.«

Niedersachsen sei bei der Überwindung der Folgen der Corona-Pandemie auf einem guten Weg gewesen. Im Jahr 2021 hat sich der Wert der in Niedersachsen produzierten Güter und Dienstleistungen (BIP) um real 1,7% gegenüber dem Vorjahr wieder erhöht. Eine tiefgreifende Erholung von den Folgen der Pandemie hätte jedoch noch Zeit gebraucht. »Nun bremsen gestörte Lieferketten, eine unsichere Energieversorgung und massive Preisentwicklungen den Aufschwung ab und beeinträchtigen die Märkte sowohl angebots- als auch nachfrageseitig.«

Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs, anhaltender Lieferengpässe und der hohen Inflation wurden die Konjunkturprognosen in den letzten Wochen deutlich nach unten korrigiert. Damit wird das Bruttoinlandsprodukt bundesweit in diesem Jahr lediglich leicht wachsen – und das auch nur, wenn sich die geopolitische Lage nicht noch weiter verschärft. Dann ist eine Rezession nicht mehr auszuschließen.

»Niedersachsen könnte aufgrund seiner Stärke im Verarbeitenden Gewerbe gravierend von der aktuellen Krise getroffen werden. Im Juni 2022 verringerten sich die Bestellungen von Industriegütern aus niedersächsischer Produktion preisbereinigt um 20% im Vergleich zum Juni 2021. Die Inlandsorders sanken dabei um 19%, die Bestellungen aus dem Ausland gingen um 21% zurück. Insbesondere die Nachfrage bei der Herstellung von Metallerzeugnissen (-23%), bei der Herstellung von Kraftwagen und Kraftwagenteilen (-24%), bei der Metallerzeugung und -bearbeitung (-8%), bei der Herstellung von chemischen Erzeugnissen (-21%) sowie im Maschinenbau (-37%) sind massive Auftragsrückgänge zu verzeichnen.«

Die Lage auf dem Energiemarkt und Lieferengpässe stellten vor allem für die energieintensive und stark arbeitsteilige deutsche Wirtschaft ein großes Problem dar. Dies führe auch klar vor Augen, wie fragil internationalen Wertschöpfungsketten und der globale Warenaustausch reagieren und wie gefährlich einseitige Abhängigkeiten werden können. Die aktuelle Lage seit sehr angespannt und die weitere konjunkturelle Entwicklung schwer vorherzusehen. Ein Lieferstopp russischen Gases könnte zu einer massiven Rezession führen.

Niedersachsen aber sei mit seinem Mix aus traditionsreichen Unternehmen, einem starken Mittelstand und »Hidden Champions« ein gut aufgestellter und wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstandort. »Die Industrie hat eine hohe Bedeutung für die niedersächsische Wirtschaft. Der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung liegt mit ca. 24 Prozent auf vergleichsweise sehr hohem Niveau, nämlich über dem aller europäischen Länder und auch dem der USA. Mehr als eine halbe Million Menschen haben ihren Arbeitsplatz in einem der niedersächsischen Industrieunternehmen. Diese erwirtschaften rund 216 Mrd. Euro Umsatz, davon knapp 48% im Ausland.«

Als Perspektive wird herausgestellt: »Niedersachsen verfügt dabei über eine Vielzahl hervorragender Unternehmen mit Weltruf. Ob fortschrittliche Entwicklungen der Automobilindustrie, großartige Kreuzfahrtschiffe, zukunftsweisende regenerative Energien, anregende Duft- und Geschmacksstoffe oder hochwertige Lebensmittel – Niedersachsen ist der Industriestandort mit Zukunft!«

Die Bewältigung der Folgen des Ukraine-Kriegs mit dem daraus resultierenden drastischen Anstieg der Lebenshaltungskosten sowie die gerade im Automobilland Niedersachsen umzusetzende sozial-ökologische Transformation stellen alle Akteur*innen vor enorme Herausforderungen. Um diese zu bewältigen, muss die neue Landesregierung eine wahre Herkulesarbeit leisten. Der »erfahrene Krisenmanager« Stephan Weil behauptet, er habe dafür schon Pläne.

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