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10. Februar 2021 Otto König/Richard Detje: Mordhelfer im Lübcke-Prozess bleibt auf freiem Fuß

Lange Blutspur rechtsextremer Morde

Foto: dpa

Nach 45 Verhandlungstagen wurde am Frankfurter Oberlandesgericht (OLG) das Urteil gesprochen. Der Neo-Nazi Stephan Ernst, Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU), wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

Die Richter*innen stellten bei der Urteilsverkündung die besondere Schwere der Schuld fest, womit eine Haftentlassung nach 15 Jahren so gut wie ausgeschlossen ist. Eine anschließende Sicherungsverwahrung hat sich das Gericht vorbehalten.

Das Urteil hat zwei gravierende Mängel: Zum einen wurde Stephan Ernst vom Vorwurf eines Messerangriffs auf den Iraker Ahmed I. freigesprochen. Der Asylbewerber I. kam 2015 nach Deutschland und landete ausgerechnet in jener Unterkunft in Lohfelden, für die Walter Lübcke sich stark gemacht hatte. Der Iraker war am 6. Januar 2016 in der Nähe von Ernsts Haus mit einem Messer angegriffen und niedergestochen worden. Im Zuge der Ermittlungen wurde bei Ernst ein Messer mit DNA-Spuren gefunden, die Merkmale enthielten, die zu I. gehören könnten. Für einen weiteren Schuldspruch reichte das nicht. Die gefundene DNA sei »nicht in naturwissenschaftlich tragfähiger Weise dem Opfer zuzuweisen«, argumentierte das Gericht.

Zum anderen wurde der rechtsradikale Weggefährte des Todesschützen, Markus H. – der bis zum Schluss hämisch feixend im Gerichtssaal gesessen hatte, damit die Angehörigen und die demokratische Zivilgesellschaft verhöhnend –, vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord freigesprochen. H. konnte den Gerichtssaal als freier Mann verlassen. Nur für einen Waffendelikt wurde er auf Bewährung verurteilt. »Im Zweifel für den Angeklagten« sei hier entschieden worden, betonte der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel mehrmals.

Juristisch mag der Freispruch für Markus H. durchgehen. Die politische Botschaft ist gleichwohl verheerend, denn die gewaltbereite rechtsextreme Szene erlebt wie im Münchner NSU-Prozess erneut ein mildes Urteil für einen Unterstützer aus dem Täter-Umfeld, dem die Bundesanwaltschaft vorgeworfen hatte, Ernst »psychische Beihilfe« geleistet zu haben, indem er seinem Freund Kontakte zu einem Waffenhändler verschafft und ihn zu Schießübungen begleitet habe. Beide Angeklagten hatten seit vielen Jahre der rechten Szene angehört. Dass Markus H. freikommt, wird viele Neonazis und Angehörige der rechten Terrorszene ermutigen – und unterstreicht ein weiteres Mal, dass Recht und Gerechtigkeit weit auseinanderklaffen können.

Walter Lübcke war auf der Terrasse seines Wohnhauses in Wolfhagen-Istha bei Kassel regelrecht hingerichtet worden.[1] Stephan Ernst, ein vielfach vorbestrafter Rechtsextremist, erfüllt von Hass auf politisch Andersdenkende, hatte den Regierungspräsidenten seit Herbst 2015 wegen dessen Flüchtlingspolitik im Visier. Der CDU-Politiker ist das prominenteste Opfer der rassistischen Hetze, die mit der sogenannten Flüchtlingskrise eskalierte. Er hatte sich den Zorn der Rassisten zugezogen, als er sich im Oktober 2015 in einer Bürgerversammlung für den Bau eines Erstaufnahmelagers für Flüchtlinge in Lohfelden bei Kassel eingesetzt und Zwischenrufern, darunter bekannte Neonazis, entgegengehalten hatte: »Wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist.« Unter den Besuchern waren Ernst und H.. Letzterer stellte die Rede von Lübcke verkürzt ins soziale Netzwerk, entfachte damit eine Hasskampagne gegen ihn und löste eine Welle von Drohungen gegen Kommunalpolitiker*innen bundesweit aus.

Im Fall Lübcke wurde der Mörder verurteilt, doch schuldig sind auch jene, die mit gewaltdurchtränkter Sprache den Weg für die Tat bereitet haben. Der Anschlag fing damit an, dass Lübke im Internet als »Volksverräter« und »Schädling« beschimpft wurde, Rechtsextremisten ihn auf »Feindes-« und »Todeslisten« setzten sowie Politik und Sicherheitsbehörden das achselzuckend hingenommen haben. Verstärkt wurde dies durch Internetplattformen, die die Hetze und Drohungen nicht löschten, sondern sich mit der Begründung »Meinungsfreiheit« aus der Verantwortung gestohlen haben.

Auch die AfD, der parlamentarische Arm der Rechten, hat mit ihrem jahrelangen Trommelfeuer des Hasses diese Stimmung entscheidend mitgeprägt. Sie hat die Menschen aufgeputscht gegen Flüchtlinge, Migrant*innen und politische Gegner*innen, auch wenn ihre politischen Repräsentant*innen jegliche Verantwortung für rechtsextreme Hassverbrechen ablehnen und ihre Hände in Unschuld waschen.

Das Urteil wie auch die zugrundeliegenden Ermittlungen von Staatsanwaltschaft und Polizei sind erneut dem Muster »Einzeltäter« gefolgt – wie bei den NSU-Morden. Der Vorsitzende Richter Sagebiel erklärte, das Gericht könne nur angeklagte Taten aburteilen. »Es kam nicht darauf an, rechtsradikale Netzwerke aufzudecken«, da dies nicht Teil der Anklageschrift gewesen sei.[2] Fakt ist: Die enorme Bedeutung des rechten Täterumfelds kommt in deutschen Strafprozessen wiederholt zu kurz. Und damit verfehlen viele dieser Strafprozesse eines ihrer ganz wesentlichen Ziele: Wahrheitsfindung. Denn zur Wahrheit gehört: Politische Verbrechen kennen keine Einzeltäter – sie handeln so gut wie nie gesellschaftlich isoliert. Sie sind geprägt von gesellschaftlichen Stimmungen.

Auch Stephan Ernst wurde als Einzeltäter verurteilt, der so allein nicht war, sondern im Internet, an AfD-Stammtischen oder auf dem Aufmarsch in Chemnitz in seinem Hass bestärkt und radikalisiert wurde. Ernst hat seine Karriere in der militanten Neonazi-Szene begonnen: Ab 1989 fiel er mit rassistischen und rechtsextremen Straftaten auf, versuchte ein von türkischen Migranten bewohntes Haus anzuzünden, vor einem Flüchtlingsheim eine Rohrbombe zu zünden und stach einen türkischen Imam nieder. Nach einer mehrjährigen Haftstrafe zog Ernst Ende der 1990er nach Kassel, wurde Mitglied der NPD, ging zu Neonazi-Treffen und rechten Demonstrationen. Später nahm er an AfD-Veranstaltungen in Kassel teil und beteiligte sich an deren Wahlkampf.

Der Mord an Walter Lübcke gilt als der erste rechtsextrem motivierte Mord an einem Politiker in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Nicht, dass es nicht schon vorher rechtsradikal motivierte Anschläge gegeben hätte. Im Gegenteil: Fanatischer Rassismus und daraus motivierte brutale Gewalt ziehen sich wie eine lange Blutspur durch die Bundesrepublik – vom rechtsextremen Terroranschlag auf das Oktoberfest 1980 über die NSU-Morde, die Attacke des Rechtsextremisten Stephan Balliet auf die jüdische Synagoge in Halle und das Massaker des Rassisten Tobias Rathjen, der neun Menschen aus Einwandererfamilien in Hanau ermordete. Allein seit 1990 zählt das Bundeskriminalamt mehr als 100 rechtsextremistisch motivierte Morde.

Im vergangenen Jahrzehnt hat die Zahl rechtsextremer Straftaten noch zugenommen. Die Enttarnung des NSU 2011 hat keine abschreckende Wirkung gehabt. Waren in dem Jahr 16.873 Taten aus dem Bereich rechter politisch motivierter Kriminalität registriert worden, waren es fünf Jahre später bereits 23.555, darunter 1.600 Gewalttaten. Die starke Flüchtlingsbewegung 2015 wirkte in der rechtsradikalen Szene mobilisierend. Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte (2015: 1031 Delikte) und rechtsextremistische Aufmärsche (2015: 690) erreichten neue Höchststände. »Daten der Landeskriminalämter zeigen, dass Straftaten gegen Mandatsträger in einzelnen Bundesländern von 2018 auf 2019 zugenommen haben… Eine Umfrage der Zeitschrift Kommunal unter 1055 Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern brachte zutage, dass 2019 mehr als 40 Prozent der Stadtverwaltungen mit Hassmails, Einschüchterungsversuchen oder anderen Übergriffen konfrontiert waren. In fast 8 Prozent der Rathäuser kam es zu körperlichen Attacken… Eine im Folgejahr unter 2494 Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern durchgeführte Befragung ergab, dass 64 Prozent von ihnen beleidigt, beschimpft, bedroht oder tätlich angegriffen worden waren«.[3]

Für die Lübcke-Hinterbliebenen und jene, die nicht an die Einzeltäterthese glauben, sondern Stephan Ernst und Markus H. als Teil eines seit vielen Jahren bestehenden Netzwerks gewaltbereiter Rechtsextremisten in Nordhessen sehen, bleibt es unbefriedigend, dass auch in einer intensiven Hauptverhandlung nicht alles aufgeklärt werden konnte, dass das Gericht nicht vorrangig rechtsradikale Netzwerke untersuchen wollte. Deshalb muss nun der parlamentarische Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag daran arbeiten, die Unterstützerstrukturen innerhalb der Neonaziszene, die hinter dem Mord an Walter Lübcke stehen, aufzudecken. Der Untersuchungsausschuss wurde von der Opposition gefordert und hat seine Arbeit mit Vertretern aller Fraktionen im Herbst 2020 aufgenommen. Er könne »keinen Ersatz für polizeiliche Ermittlungen und juristische Aufarbeitungen leisten«, erklärte der stellvertretende Ausschuss-Vorsitzende Hermann Schaus (LINKE). Das Gremium habe aber »den Auftrag, herauszuarbeiten, wer für Fehler verantwortlich ist«, sowie politische Konsequenzen aufzuzeigen, »wenn der Staat und die Behörden nicht immer und immer weiter am Kampf gegen Rechtsterror scheitern sollen«.

Die Fragen, die der kaltblütige Mord aufwirft, sind weiter akut. Wie konnte es sein, dass zwei bekannte Neonazis ungestört mit Waffen trainierten? Dass sie der Inlandsgeheimdienst aus dem Blick verlor, obwohl sie weiter Aufmärsche besuchten? Beide waren nach langen Karrieren in der Neonazi-Szene aus dem Fokus des Verfassungsschutzes geraten. Es geht darum, herauszufinden, welche Fehler die Behörden im Vorfeld des Mordes gemacht haben. Insbesondere eventuelle Verbindungen zum NSU, aber auch zu anderen rechtsextremen Gruppen müssen dringend aufgeklärt werden. Beim Mord an Walter Lübcke spielte das hessische Landesamt die übliche Rolle: Es kannte die Täter bestens, aber wusste von nichts.

Die Lehre aus Halle, Hanau und Kassel kann nur sein: Das Ignorieren, Verschweigen und Verharmlosen rechter Verbrechen muss endlich ein Ende haben. Den Menschenverächtern muss entgegengetreten, den Feinden der Demokratie widersprochen werden – überall und immer. Es darf nicht hingenommen werden, dass Rechtsradikale mit tätowierter 88 auf den Armen, Reichskriegsflaggen und anderen Nazichiffren agieren können, als wären das zulässige Meinungen innerhalb eines demokratischen Spektrums. Eine Demokratie muss wehrhaft sein. Wichtig ist eine wachsame Zivilgesellschaft, die dem Rassismus den Kampf ansagt und sich schützend vor alle Mitbürger*innen stellt, die von Rechtsextremen verfolgt, geschlagen und beleidigt werden.

Anmerkungen

[1] Siehe auch Otto König/Richard Detje: »Eiskalter Mord« an CDU-Politiker Lübcke. Wenn Worte zur »tödlichen Munition« werden, Sozialismus.deAktuell, 24.6.2019.
[2] EinTag nach der Urteilsverkündung im Prozess um den Mord an Walter Lübcke ist bei der nach ihm benannten Schule im hessischen Wolfhagen eine Bombendrohung eingegangen. In einem Schreiben wird auf den »NSU 2.0« verwiesen. Mit dieser Signatur waren ab der zweiten Jahreshälfte 2018 Anwält*innen der Nebenklage aus dem Münchner NSU-Prozess sowie Politiker*innen und Journalisten bedroht worden, nachdem persönliche Daten der Betroffenen über Polizeicomputer abgefragt worden waren.
[3] Wilhelm Heitmeyer/Manuela Freiheit/Peter Sitzer: Rechte Bedrohungsallianzen. Signaturen der Bedrohung II. Berlin 2020, S. 27.

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