30. September 2011 Uli Bochum: Bilanz von zehn Jahren Rot-Rot
Linke Metropolenpolitik in Berlin?
Es ist schwierig, nach 10 Jahren rot-roter Koalition eine Handschrift der LINKEN zu erkennen. Das ist das Fazit des noch vor der Landtagswahl in Berlin erschienenen Buches »Linke Metropolenpolitik – Erfahrungen und Perspektiven am Beispiel Berlin«, herausgegeben von Andrej Holm, Klaus Lederer und Mathias Naumann.[1]
Der Sammelband ist aus dem Arbeitskreis »Linke Metropolenpolitik«, einem Diskussionszusammenhang von Parteimitgliedern der LINKEN, kritischen Wissenschaftlern aus den Bereichen Stadtsoziologie und Geographie sowie TeilnehmerInnen aus verschiedenen sozialen Bewegungen hervorgegangen. Im Rahmen dieses Arbeitskreises sollte ein Dialog darüber initiiert werden, »was linke Stadtpolitik in Berlin bedeutet, was sie leisten sollte und wie sie es leisten kann«. (S. 8). Allerdings wird zugestanden, dass es nur zum Teil gelang, »Anregungen aus den Arbeitskreisdebatten in praktisch politische Initiativen zu übersetzen«. (S. 9). Nach Auffassung der Herausgeber war und ist unklar, wie ein schlüssiges, handhabbares Reformprogramm im Rahmen einer linken Metropolenpolitik aussehen könnte.
Der Text lässt sich als eine Art Bilanz linker Mit-Regierungspolitik in den letzten zehn Jahren lesen. Es werden nicht alle relevanten Felder der Stadtpolitik abgedeckt, aber die Bereiche, die für eine linke Stadtpolitik eine besondere Bedeutung haben, wie die Wohnungspolitik, die Stadtentwicklung und die Integrationspolitik, werden näher untersucht und bilanziert. Dabei zeigen sich marginale Fortschritte etwa bei der Gesundheitsversorgung für illegalisierte Flüchtlinge und verheerende Resultate bei der Wohnungspolitik, die dazu geführt haben, dass sich die »Wohnungssituation verschlechtert und die Verdrängungsgefahr insbesondere für Haushalte mit geringen Einkommen in den letzten Jahren drastisch erhöht« hat. (S. 108).
Wohnungspolitik
Der Beitrag zur Wohnungspolitik von Andrej Holm ist der informativste, weil er das ganze Dilemma der Regierungsbeteiligung der LINKEN zeigt. Unter der rot-roten Koalition sind die Mieten flächendeckend gestiegen und das ist nicht allein der Marktdynamik geschuldet, sondern muss »als sichtbare Oberfläche einer umfassenden wohnungspolitischen Destruktion verstanden werden, denn die Entfaltung marktwirtschaftlicher Mechanismen ist immer nur so stark, wie es die politisch-administrativen Eingriffe zulassen«. (S. 92f.). Im Umkehrschluss heißt das, dass die gestaltenden politischen Interventionen in diesem Bereich unzureichend oder gar nicht vorhanden waren, um dieser Entwicklung gegen zu steuern oder um sie zu verhindern. Auch unter rot-roter Ägide gab es weitere Wohnungsprivatisierungen, wurden Förderprogramme zum sozialen Wohnungsbau eingestellt und die Liberalisierung des Bau- und Städtebaurechts voran getrieben:
- Gab es zu Beginn der SPD/PDS geführten Koalition noch über 400.000 Wohnungen im Besitz der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften, waren es 2010 nur noch 268.000. Der Anteil am Gesamtbestand sank damit von 28% auf 14%. Allein durch den Verkauf der Wohnungsbaugesellschaft GSW wurden 64.000 Wohnungen an die Finanzinvestoren Cerberus und Goldman Sachs verkauft.
- Die Wohnungsbaugesellschaften selbst vermieten zwar bei Neuvermietungen zu 30% an Transferhaushalte, sie tragen aber zu Segregationstendenzen bei, wenn sich dieser Anteil in den attraktiven Wohnlagen nur auf 15% beläuft bzw. in den Bezirken Marzahn-Hellersdorf oder Marienfelde bei 40% liegt. Dabei richten sich die Wohnungsbaugesellschaften nach Zielvorgaben des Senats, der ausdrücklich die Stabilisierung der Situation durch Eigentumserwerb durch die Mieter anstrebt. Weiterhin sollten die Wohnungsunternehmen zu dividendenfähigen Unternehmungen entwickelt werden.
- Ebenfalls reduziert hat sich der Anteil der Sozialwohnungsbestände: zwischen 2000 und 2010 um ca. 107.000 Wohnungen. Beschleunigt wurde dieser Prozess durch den Ausstieg aus der so genannten Anschlussförderung. Durch diesen Schritt wurde der Umstand beendet, Hauseigentümern über einen Zeitraum von bis zu 15 Jahren zusätzlich die Differenz zwischen ihren Kosten- und den Sozialmieten zu erstatten. Die sozialen Effekte dieses Ausstiegs wurden jedoch nicht beachtet: »Nach der bestehenden Rechtslage können Hauseigentümerinnen und -eigentümer nach dem Ende der Förderung die Mieten auf das Niveau der Kostenmiete anheben und müssen dabei nicht einmal die Mietbeschränkungen des Mietrechts beachten.« (S. 100).
- Bei der Umsetzung der Vorschriften zu den Kosten der Unterkunft im Rahmen der Hartz IV-Gesetzgebung musste die zuständige Senatorin der LINKEN Ausführungsvorschriften erlassen, die die Angemessenheit der Wohnbedingungen der UnterstützungsbezieherInnen und die erforderlichen Aufwendungen zusammen bringen. Diese Bestimmungen haben dazu geführt, dass ALG II-BezieherInnen häufig zu einem Wechsel in kleinere Wohnungen gezwungen wurden, um die Kosten der Unterbringung zu senken und weil unterstellt wurde, dass eine kleinere Wohnung deren Status angemessener sei. Da der Berliner Wohnungsmarkt in den innerstädtischen Altbaubeständen überdurchschnittliche Wohnungsgrößen aufweist, wären die Hilfebedürftigen und Bedarfsgemeinschaften faktisch aus diesen Gebieten ausgeschlossen. Die Sozialsenatorin legte daraufhin eine Ausführungsvorschrift vor, die sich ausschließlich an der Höhe der Mietkosten orientierte. Diese Vorschrift wurde von Gewerkschaften und Mieterorganisationen begrüßt und besaß bundesweit ein Alleinstellungsmerkmal. Mit den einsetzenden Mietpreissteigerungen kam es jedoch auch in diesem Bereich zu einer knapperen Versorgung mit Wohnraum für Hartz IV-Betroffene.
Diese Entwicklungen verdeutlichen, dass DIE LINKE in Bezug auf die Wohnungspolitik, anders als noch in den 1990er Jahren, kein erkennbares Profil entwickeln konnte. Zwar ist für die Entwicklung größtenteils die SPD geführte Senatsverwaltung für Stadtentwicklung verantwortlich, DIE LINKE muss sich aber vorwerfen lassen, diese Entscheidungen mitgetragen zu haben (S. 102).
Berliner Wasser
Die Handlungsparameter linker Politik in den letzten zehn Jahren waren durch die katastrophale Haushaltssituation Berlins, hervorgerufen durch den Berliner Bankenskandal und eine erodierte wertschöpfende Industriebasis, sehr eng. In diesem Kontext wurde der traditionell stark ausgeprägte Sektor landeseigener öffentlicher Unternehmen systematisch verkleinert, um durch deren Verkauf Haushaltslöcher zu stopfen. Betroffen waren davon die Energieunternehmen GASAG und Bewag. Die Berliner Wasserbetriebe wurden noch vor der Regierungsbeteiligung der LINKEN an ein Konsortium aus RWE und dem französischen Konzern Veolia zu für das Land Berlin sehr nachteiligen Bedingungen teilprivatisiert. Mit der Privatisierung dieser Unternehmen wurden strukturpolitische Gestaltungsmöglichkeiten in zentralen Bereichen der öffentlichen Infrastruktur aus der Hand gegeben.
Klaus Lederer und Mathias Naumann weisen zu Recht daraufhin, dass der Sektor öffentlicher Unternehmen in den letzten zehn Jahren neu geordnet, reorganisiert und Strukturen einer demokratischen Kontrolle geschaffen werden mussten. Vor diesem Hintergrund und einer konsolidierteren Haushaltssituation habe man erneut die Debatte um die Ausgestaltung der öffentlichen Infrastruktur aufnehmen können.
In diesem Zusammenhang kommt das Thema »Rekommunalisierung« öffentlicher Leistungen zum tragen. Dies betrifft in Berlin die Bereiche Verkehr (Überführung der S-Bahn in die Regie des Landes), Energie (Gründung eines neuen Stadtwerkes, Dezentralisierung der Energieerzeugungskapazitäten) und Wasser (Rücknahme der an RWE verkauften Anteile). Obwohl sich DIE LINKE als Promotor öffentlicher Unternehmen begreift, ist es insbesondere im Zusammenhang mit der zukünftigen Entwicklung der Berliner Wasserbetriebe zu Konflikten mit der Basisinitiative »Berliner Wassertisch« gekommen, die erfolgreich ein Volksbegehren zur Offenlegung der Privatisierungsverträge initiierte.
Lederer/Naumann werfen der Initiative vor, »überschießende Erwartungen« an die Landespolitik hinsichtlich der Rekommunalisierung der Wasserbetriebe geschaffen zu haben (S. 139). »Der Rollenkonflikt gerät hier auf einen Höhepunkt, weil die Partei das weiter gehende Anliegen des Volksentscheides ›Rekommunalisierung‹, über das aber nicht abgestimmt wurde, teilt, während das zur Abstimmung stehende Anliegen von ihr bereits – mit Unterstützung und Druck des Volksbegehrens – vor dem Entscheid durchgesetzt werden konnte und damit bereits erledigt war. Dies zu vermitteln, ist nahezu unmöglich.« (S. 139).
Diese Argumentation ist mehr als merkwürdig. Zwar wurden die Verträge schon vorab durch die Berliner Presse im Internet publiziert, was soll aber »überschießend« daran sein, dann auch die Rekommunalisierung eines öffentlichen Betriebes einzufordern und damit einen Programmpunkt der LINKEN Ernst zu nehmen? DIE LINKE bekommt hier Angst vor der eigenen Courage.
Kreative Wirtschaft
Berlin brüstet sich gern mit seiner Kreativ-Wirtschaft, die mittlerweile für 13% der Berliner Wirtschaftsleistung verantwortlich zeichnet. Weniger vorzeigbar sind jedoch die Arbeits- und Einkommensbedingungen in dieser »Branche«. Der Vorteil Berlins in der Kulturwirtschaft beruht zum Teil einfach darauf, »dass die Stadt eine Billigkonkurrenz auf dem Arbeitsmarkt darstellt« (S. 115). Ist hier durch die rot-rote Koalition eine Verbesserung eingetreten? Offensichtlich nicht, denn Ingo Bader betont, dass die Arbeitsbedingungen und das Lohnniveau in der Kulturökonomie erst noch in den Fokus genommen werden müssen (S. 124).
Bisher tut sich in diesem Bereich nichts. Man findet im Gegenteil immer wieder Beispiele dafür, dass die Berliner Verwaltung alles tut, um auskömmliche Einkommensbedingungen durch die Umwandlung Honorar- in feste Arbeitsverhältnissse zu verhindern. »Von den schätzungsweise 2.000 Musikschullehrern der Stadt sind nur zehn Prozent fest angestellt. Die anderen Bundesländer können da viel lernen von Berlin, die leisten sich im Durchschnitt zwei Drittel feste Musikschullehrer«.[2] Will man es kurz fassen, dann kann man auch sagen: Die Industrie starb und dafür kam die Kunst und mit ihr »die ansehnliche Freibeuterschar der so genannten Kreativwirtschaft aus Mode, Design und irgendetwas mit neuen Medien. Allein die Clubszene der Stadt gibt 8.000 Berlinern Arbeit.«[3]
Erst in den letzten Jahren dämmerte es auch den LINKEN in der Koalition, dass die Entfaltung der sozial-kulturellen Dienstleistungen mit der wertschöpfenden Basis der Stadt zusammenhängt und, dass die Ansiedlung von Universal und MTV eben nicht die Stillegung von Siemens-, Samsung-, ABB-, Schindler- und Otis-Fabriken kompensiert, in denen vergleichsweise gut bezahlte Arbeitsplätze für die arbeitende Bevölkerung bereit gestellt wurden. Die »Blüte« der Kreativwirtschaft ist also nur die Kehrseite eines heruntergewirtschafteten Industriestandorts, der auch nicht durch die Lobpreisung »wissensbasierter Industrien« wieder auf die Beine kommt, denn hier ergibt sich ein ähnliches Problem mit den Arbeits- und Entlohnungsbedingungen wie bei den Kreativen.
Die Solar-Industrie, die sich in Berlin und in Brandenburg angesiedelt hat, zeichnet sich nicht durch besonders gute Entlohnungsstrukturen aus, sondern agiert weitgehend im tariffreien Raum. Insofern sind wahrscheinlich 1.000 Rasierklingen herstellende Beschäftigte bei Gillette besser für Berlin als 1.000 Beschäftigte in der wissensbasierten Solarwirtschaft. Aber das ist wahrscheinlich sehr altmodisch gedacht.
Die strukturpolitische Bilanz der zehn rot-roten Jahre ist also zwiespältig und erklärt mit, weshalb nurmehr 11,7% der Berliner WählerInnen ihre Stimme der LINKEN gegeben haben.
Ulrich Bochum arbeitet als Unternehmensberater in der G•IBS mbH (Gesellschaft für Innovation, Beratung und Service) in Berlin.
[1] Alle Seitenangaben beziehen sich auf diesen Text. Er ist 2011 als Band 12 in der Reihe Raumproduktionen: Theorie und Gesellschaftliche Praxis im Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, erschienen.
[2] Vgl. Birgit Walter: Tipps zur Senkung von Honoraren, in: Berliner Zeitung vom 24/25.9.2011.
[3] Harald Jähner: Das prekäre Glück Berlins, in: Frankfurter Rundschau vom 16.9.2011.