17. Juni 2013 Hasko Hüning / Gerd Siebecke: Der Wahlparteitag in Dresden
Macht DIE LINKE den Unterschied?
Die Partei DIE LINKE hat am Wochenende auf dem Parteitag in Dresden ihr Wahlprogramm »100 Prozent Sozial« verabschiedet. Die in der Vorbereitung in und außerhalb der Linkspartei aufgekommenen Befürchtungen, erneut würden heftige Grabenkämpfe zwischen den Parteiströmungen den Wahlkampfprozess erheblich erschweren, erwiesen sich als unbegründet.
Nach dem »Gewitterparteitag« in Göttingen 2012 haben die Delegierten vielmehr in großer Disziplin die Anträge und Änderungsanträge abgearbeitet. Die Partei wird die letzten 100 Tage des Wahlkampfes mit dem beschlossenen Programm und mit den von der Parteiführung gesetzten Schwerpunkten in größerer Geschlossenheit bestreiten.
Der Parteivorsitzende Bernd Riexinger hat einleitend die Aufgabenstellung umrissen: »Wir bereiten uns definitiv nicht auf einen Koalitionswahlkampf vor. Wir werben im Wahlkampf für unsere eigenen Positionen.« Deren Kern lautet: Armut und Kinderarmut konsequent bekämpfen, im Ringen um gute Arbeit, gute Löhne und gute Renten an der Seite der Beschäftigten und Erwerbslosen stehen und »mit Biss von oben nach unten umverteilen«.
Über die Entfesselung des regulierten Kapitalismus gibt es in der gesellschaftspolitischen Öffentlichkeit weitgehenden Konsens. Die Partei nimmt diesen Konsens auf und Bernd Riexinger formuliert ihn so: »Das kapitalistische Raubtier war in den letzten Jahrzehnten sehr erfolgreich darin, sich von seinen sozialen Fesseln zu befreien. Die wesentlichen Säulen der Sozialsysteme wurden angegriffen, wenn nicht zerschlagen. Die Löhne sind heute niedriger als vor 15 Jahren. Noch niemals in der Nachkriegsgeschichte war der gesellschaftliche Reichtum so ungleich verteilt, gab es so viele Arme und so viel Reichtum geballt in wenigen Händen.« Zur Redlichkeit gehört, darauf hinzuweisen, dass es »ausgerechnet eine rot-grüne Regierung (war), die die Türen des Käfigs aufgebrochen hat. Es waren SPD und Grüne, die das kapitalistische Raubtier in die freie Wildbahn entlassen haben.«
Schon deshalb müsse DIE LINKE auch bei dem Werben um WählerInnenstimmen ihre Eigenständigkeit herausstellen und deutlich machen, dass »linke Politik … die alltägliche Politik für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen mit der Vision einer sozialen, solidarischen, ökologischen und demokratischen Gesellschaft« verbindet.
Den Aspekt der Eigenständigkeit und die Absetzung von SPD und Grünen unterstrich auch die Parteivorsitzende Katja Kipping: »Wir als DIE LINKE machen den Unterschied!« Sie zitierte als ein Beispiel den ersten DGB-Vorsitzenden Hans Böckler, »der sagte: Der politischen Demokratie muss, soll sie nicht ein weiteres Mal zum Nachteil der ganzen Welt missbraucht werden, die wirtschaftliche Demokratie zur Seite gestellt werden. Diese Erkenntnis hat nichts an Aktualität eingebüßt. Deswegen setzen wir auf Wirtschaftsdemokratie. Denn Demokratie darf nicht am Werktor aufhören!«
Katja Kipping sprach auch die im Vorfeld des Parteitags deutlich gewordenen Kontroversen über die Zukunft des Euro an und betonte die »sachliche Art, wie wir im Großen und Ganzen die Debatte geführt haben«. Und sie stellte klar »DIE LINKE ist nicht für den Austritt aus dem Euro. Wir wollen kein zurück zur D-Mark, wir wollen kein zurück zum nationalstaatlichen Tellerrand. Es ist vielmehr der Kurs der Austerität, der Sozialkürzungen, der Kurs von Troika und Merkel und Co., der den Euro gefährdet, die wahre Gefahr für den Euro geht nicht von einer Debatte der LINKEN aus, sondern Gefahr für den Euro geht vom Kurs von Merkel und Troika aus. In Karlsruhe klagen wir nicht gegen den Euro, sondern für ein soziales Europa.«
Diesem Votum folgte der Parteitag und stimmte gegen die Änderungsanträge, die die Partei auf einen anderen Kurs festlegen wollten, auch wenn man gelegentlich den Eindruck haben konnte, dass es den Delegierten am liebsten gewesen wäre, den Konflikt hätte es gar nicht gegeben. Oskar Lafontaine, der im Vorfeld durch Debattenbeiträge und Interviews andere Akzente gesetzt hatte, hat auf dem Parteitag nicht die Kraftprobe gesucht. Es blieb bei einer untergründig sachlichen Kontroverse, die freilich auch nach den Bundestagswahlen ihre Bedeutung nicht nur in der parteiinternen Debatte behalten wird.
Auch der Vorsitzende der Bundestagsfraktion Gregor Gysi unterstrich die unter der in Göttingen gewählten Führung erreichte Stabilisierung der Partei und bestätigte damit indirekt die partielle Neugewichtung von Partei und Bundestagsfraktion. Für ihn verbinden sich mit der neuen Entwicklungsetappe perspektivisch – nicht bereits in der nächsten Legislaturperiode, in der DIE LINKE noch Opposition sein wird – Bündnis- und Koalitionsperspektiven in Richtung rot-rot-grün, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse anderes eigentlich sinnvoll nicht zulassen würden.
Die gesellschaftspolitische Perspektive blieb allerdings auf dem Wahlparteitag noch weitgehend unbestimmt. Die Aktivisten der Partei haben zwar registriert, dass SPD und Grüne die zweite Zähmung des Kapitalismus ausgerufen haben. Unbehagen bereitet, ob die angekündigten Etappen in diesem Zähmungsprozess – Mindestlohn, Stärkung der organisierten Lohnarbeit, Bekämpfung aller Formen von Armut und sozialer Spaltung, Erneuerung der demokratischen Willensbildung – auch zielstrebig umgesetzt werden. Unbestimmt blieb freilich auch, welches Druck- und Überzeugungspotenzial von der Linkspartei auf diesem längeren Weg zu einem demokratischen Sozialismus mobilisiert werden kann.
In der Linkspartei ist die Vision von einer nachkapitalistischen Gesellschaftsordnung präsent. Bernd Riexinger drückte das so aus: »Das Mindeste, was eine reiche Gesellschaft an Respekt den Menschen entgegenbringen muss: Sie müssen ihre Zukunft planen können. Wir wollen die Regulierung des Arbeitsmarktes. Das ist eine zentrale Aufgabe linker Politik … Eine marktkonforme Demokratie kann es nicht geben. Jeder weiß, dass es auf Märkten unterschiedlich starke Marktteilnehmer gibt … Ich hätte mir als junger Mensch niemals vorstellen können, dass die Linken die Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie verteidigen müssen, weil es die Bürgerlichen nicht mehr tun. Wer wirkliche Demokratie will, muss wirtschaftliche Macht begrenzen.«
Die künftige Aufgabe der Partei, jenseits des parlamentarischen Betriebs für eine Verständigung und Mobilisierung der gesellschaftspolitischen und strategischen Zielsetzung zu sorgen, trat deutlich auf dem Parteitag in Erscheinung. In der zurückliegenden Zeit war die politische Arbeit durch die Beteiligung an der parlamentarischen Willensbildung auf allen Ebenen der Berliner Republik weitgehend absorbiert worden. Es bleibt zu hoffen, dass die unverzichtbare Stärkung der Parteiorganisation und die Aufgabenstellung, eine lernende und überzeugende Organisation zu werden, energisch angepackt werden. Durch die schwerwiegenden Verluste bei Landtagswahlen und die organisatorische Lücken vor allem in den westlichen Bundesländern sind unbestreitbar schwierige Bedingungen entstanden.
Untergeordnet blieben auf diesem Wahlparteitag die Spannungen zwischen den verschiedenen Strömungen, damit zusammenhängend die Rolle der Ost- und Westverbände und der schwierige politisch-organisatorische Zustand der Partei in der Fläche. Insbesondere die Landesverbände in den westlichen Bundesländern haben viele Mitglieder und an politischer Bedeutung verloren. Wie die Ostlandesverbände damit umgehen, wird sich erst noch zeigen müssen, genauso, wie unabhängig sich die beiden Parteivorsitzenden davon halten können und ob es gelingt, weitere inhaltliche Impulse für einen »Neuaufbau« der Partei im Westen zu setzen.
Wenn dies nach einem halbwegs akzeptablen Wahlergebnis am 22. September mit der gleichen Ernsthaftigkeit und Souveränität angegangen wird, die der Parteitag in Dresden in der Bearbeitung des Wahlprogramms »100 Prozent Sozial« gezeigt hat, könnte dies der Beginn einer weiteren neuen Etappe und Ausgangspunkt zur Erarbeitung eines neuen Selbstverständnisses werden. Dann würde DIE LINKE auch innerparteilich den Unterschied machen!