2. Juli 2024 Bernhard Sander: Frankreich vor einer weltanschaulichen Zeitenwende?
Macronie am Ende
Noch ist bei den Wahlen zur Nationalversammlung, dem französischen Parlament, nichts entschieden, nur 76 der 577 Mandate wurden im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit vergeben. Und doch ist das Ergebnis ernüchternd.
Denn Wahlsieger ist die Nationale Sammlung (RN) von Marine Le Pen. Die neue Volksfront erreichte 27,99%. Das Ergebnis von RN bedeutet einen Anstieg von 4,2 Mio. bei den Parlamentswahlen 2022 auf 11,5 Mio. Stimmen in dieser Wahl 2024. Le Pen beschwört eine »Koalition der Freiheit, der Sicherheit und der Einheit«.
Nun, da die radikale Rechte nur noch eine Treppenstufe vom Eingang zum Matignon (Sitz des Ministerpräsidenten) entfernt ist, wird sich zeigen, wes Geistes Kind der Staatspräsident Emmanuel Macron ist. Es kommt nun auf die Macronisten an, ob es gelingt in den Stichwahlen, die meist zwischen Volksfront und RN ausgetragen werden, die absolute Mehrheit des RN zu verhindern. Das wird allerdings die Wut auf den Staatspräsidenten eher mehren.
In 501 Wahlkreisen werden die Lager im zweiten Wahlgang in Zweier- oder Dreier-Konstellationen gegeneinander antreten (wer mehr als 12,5% der eingeschriebenen Wähler*innen von sich überzeugen konnte, hat das Recht zum erneuten Antritt). In 158 Kreisen liegt RN an erster Stelle, in 77 die neue Volksfront, das Präsidentenlager »Ensemble« schafft das in 54 Fällen.
Jean Luc-Mélenchon (La France insoumise, Das Unbeugsame Frankreich – LFI) hat noch am Wahlabend angekündigt, dass sich die Volksfront überall da zurückziehen wird, wo sie nur auf die dritte Position gelangt ist. Das Präsidentenlager zerstreitet sich dagegen unmittelbar nach dem ersten Wahlgang an der Symbolfrage der republikanischen Disziplin, also des Rückzugs eines unterlegenen Kandidaten, um den Sieg einer RN-Kandidatur zu blockieren. Die Warnung vor dem Extremismus von rechts und links verschaffte bisher die inhaltsleere Legitimation, sich als Mitte zu empfehlen.
Macron selbst hatte vor dem Urnengang vor den »Extremen von rechts und links« gewarnt und sich bei der letzten Parlamentswahl 2022 geweigert, einen Cordon sanitaire zu empfehlen und LFI-Kandidaturen in der 2. Runde zu unterstützen. Die linkspopulistische LFI ist die stärkste Komponente der Neuen Volksfront (NFP), wäre aber aus eigener Kraft nicht zu einer absoluten Mehrheit in der Lage, auch wenn sie in der Stichwahl oft an vorderster Stelle steht.
Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire: »Für mich ist LFI eine Gefahr für die Nation, so wie RN eine Gefahr für die Republik ist. LFI bedeutet Antisemitismus, bedeutet Gewalt.« Der bisherige Ministerpräsident Gabriel Attal vertritt die Gegenposition: »Die Aufgabe ist klar: zu verhindern, dass eine absolute Mehrheit für den Rassemblement national die Nationalversammlung dominiert und somit das Land mit seinem verhängnisvollen Projekt zu regieren.«
In einer letzten verzweifelten Geste nach der krachenden Wahlniederlage hat Attal die verschärften Regeln für das Arbeitslosengeld ausgesetzt. Die Reform der Arbeitslosenversicherung mit Kürzungen bei Höhe und Bezugsdauer sollte eigentlich am Montag nach der Wahl in Kraft treten. Marin Le Pen hatte sie heftig bekämpft, wie alle Versuche Präsident Macrons, das Dickicht des wuchernden französischen Sozialstaates zu lichten. »Erster Sieg der RN-Wähler«, kommentierte sie die Entscheidung des scheidenden Premierministers.
In einer am Wahlabend veröffentlichten Erklärung der Renaissance-Partei des Präsidenten findet sich die vage Erklärung, dass die drittplatzierten Kandidat*innen der Präsidentenmehrheit »zugunsten der Kandidaten zurücktreten werden, die in der Lage sind, Rassemblement National zu schlagen, und mit denen wir das Wesentliche teilen: die Werte der Republik«. Macron erklärte, dass »angesichts RN die Stunde für eine breite, eindeutig demokratische und republikanische Sammlung für den zweiten Wahlgang gekommen ist«.
Die Mehrheit des macronistischen Lagers bleibt allerdings der Vulgata treu: Es sei unmöglich, einen Kandidaten der Unbeugsamen von einem Kandidaten des RN zu unterscheiden. Ein Teil der Anhängerschaft wird sich in die Enthaltung flüchten. Das französische Wahlsystem des zweistufigen Mehrheitswahlrechts führt dazu, dass auch nach dem zweiten Wahlgang große Teile der Bevölkerung sich nicht repräsentiert fühlen werden.
Fulminant war vor diesem Hintergrund der Anstieg der Wahlbeteiligung auf 68%, von der aber die Volksfront weniger profitieren konnte, sondern vor allem der Rassemblement National (RN). Seit 1997, den letzten Parlamentswahlen, die von einer Präsidentschaftswahl abgekoppelt waren (67,9% Wahlbeteiligung), wurde bei Parlamentswahlen nie mehr ein so hohes Engagement verzeichnet. Auch wenn dieses Ergebnis weit von dem Rekordwert der Fünften Republik (82,8% im Jahr 1978) entfernt ist, liegt es weit über den 47,5% von 2022 oder den 48,7% von 2017, als die Parlamentswahlen zu einer dritten Runde zur Bestätigung der Präsidentschaftswahlen wurden. Die hohe Wahlbeteiligung nützte neben dem RN auch der Macronie, also dem Bündnis aus MoDem, Renaissance, Horizons und UDI, das sich im Vergleich zur EU-Wahl stabilisieren konnte.
Von den rechtskonservativen Republikanern (LR) blieb nur noch eine Hülle, nachdem der Parteivorsitzende gegen den Willen des Funktionärsestablishments ein Bündnis mit RN eingegangen war. Die verbliebene Funktionärsspitze ließ verlauten: »Der Präsident trägt die immense Verantwortung dafür, dass er diejenigen gestärkt hat, die er seit 2017 zu bekämpfen vorgab. Der Macronismus ist tot.« Gleichwohl ruft man hier »natürlich« auf, im zweiten Wahlgang RN zu wählen: »Die Gefahr für die Republik droht von der extremen Linken«, die »unerbittlich« abgestraft gehöre. (Alle Zitate aus FAZ vom 2.7.2024)
Aber in der Summe hat die bürgerliche Mitte (Macronie und LR) in etwa die Stärke der Linken. Mit ihrem Ergebnis könnten die Republikaner bis zu 40 Sitzen erringen und zum Mehrheitsbeschaffer für den RN werden, sollte diese die absolute Mehrheit knapp verfehlen. FN-Spitzenkandidat Jordan Bardella hat jedoch erklärt, er werde nur im Falle einer absoluten Mehrheit ins Amt des Ministerpräsidenten wechseln.
In einigen Wahlkreisen hatte die Volksfront das Problem linker Konkurrenzkandidatur vor allem von Sozialdemokraten, die die Volksfront ablehnen, und LFI-Leuten, die sich bei der Listenaufstellung übergangen fühlten. Aber insgesamt widerstanden die Partner der Volksfront ihren sektiererischen Neigungen, die sie in den letzten Jahrzehnten ausgebildet haben. Dennoch enttäuscht Viele das Ergebnis der neu entstandenen Linksallianz (von 24,7% auf 28%).
Das Wahlergebnis ist kein Schock, sondern ein weiterer Schritt in einer kontinuierlichen Entwicklung, die nicht nur durch den Begriff »Ent-Dämonisierung« des RN zu beschreiben ist. Sicherlich hat die vordergründige »Entnazifizierung« (Gründer und Ehrenvorsitzender Le Pen musste die Partei verlassen) den Zugang zur bürgerlichen Mitte erleichtert. Aber jede*r wusste vor der Wahl, was mit »Nationaler Präferenz« gemeint war.
In dem kurzen Wahlkampf stellten Macron-Leute wie der Justizminister und Volksfront-Leute den RN ins Zentrum ihrer Kritik, Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft von bestimmten Ämtern im öffentlichen Dienst auszuschießen, was rund drei Millionen Bürger*innen betrifft. Die RN-Forderung nach Abschaffung des jus soli (wer in Frankreich geboren ist, kann Anspruch auf die französische Staatsbürgerschaft erheben) steht in jedem RN-Wahlprogramm.
Die RN-Vertreter*innen in den TV-Shows am Wahlabend hatten eine gemeinsame Botschaft: Die Stimme für RN sei eine Stimme für den Alltagsverstand (»bon sens«) gewesen. Man wolle das Land zwar aus den alten Gleisen bringen, aber es gehe um die Kaufkraft (gemeint ist der Lebensstandard), und Sicherheit – soziale Sicherheit (gemeint ist zumeist das Gesundheitssystem), Sicherheit vor Einwanderung, Sicherheit der Renten. Das ist die Liste der Themen, die in den Umfragen als die größten Sorgen der einfachen Leute gelten. Die Volksfront, das bedeute Hamas und Judenhass nach außen, Venezuela und Verachtung der Eigentümer nach innen.
Vor allem das Migrationsproblem pflügt die politische Landschaft Europas mit unerbittlicher Kraft um. Die Hauptschuld daran haben allerdings etablierte Politiker*innen wie Macron, die viel zu halbherzig auf diese gewaltige Herausforderung reagiert haben. Ähnlich wie die französischen Republikaner, Mitglied der EVP, argumentiert die FAZ: »Fast zehn Jahre hatten die Parteien der rechten und linken Mitte jetzt Zeit, die Kontrolle über die Außengrenzen der EU und die irreguläre Wanderung auf dem Kontinent zurückzugewinnen. Nicht nur in Frankreich fehlte ihnen dazu der Wille und die Kraft. Einen wachsenden Teil der Mehrheitsbevölkerung hat das in die Arme von Le Pen, Meloni, Wilders oder der AfD getrieben.«
Die linke urbane Schickeria hat wie die Staatspräsidenten der letzten Jahre als Folge von »mangelnder Vorstellungskraft« (das meint die Theatermacherin Ariane Mnouchkine) ignoriert, was die Schließung von Krankenhäusern, die Stilllegung von Bahnanschlüssen, die Schließung von Postfilialen usw. für die Leute bedeutet, die nicht im unmittelbaren Einzugsbereich der Großstädte wohnen.
Das hält die links-liberale Wochenzeitung »Liberation« jedoch eher für ein Problem fehlerhafter Polit-Technik und nicht die von einigen Kommentaren aufgeworfene Frage der Arroganz des Präsidenten der Reichen: »Der Präsident war zwar nicht blind gegenüber der wachsenden Kluft zwischen den Metropolen und den periurbanen und ländlichen Gebieten, doch seine öffentlichen Programme scheiterten an der Frage der Kaufkraft und den anhaltenden Ungleichheiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung.« »Die Wut hat gesiegt« kommentierte der Vorsitzende der Kommunisten den Wahlausgang. Er selbst wurde bereits in der ersten Runde vom RN-Konkurrenten mit absoluter Mehrheit geschlagen.
Zur Nationalen Präferenz des RN gehören auch Forderungen, kein französisches Blut in der Ukraine zu vergießen (Macron an der Entsendung von Militär-Instrukteuren in die Ukraine zu hindern) und keine Haftung für europäische Kriegskredite zu übernehmen (gleichwohl aber Waffen an das Regime in der Ukraine zu liefern). RN will die EU-Beitrittsgespräche mit Moldawien und der Ukraine stoppen und in der Nationalversammlung die Freihandelsabkommen der EU nicht ratifizieren.
Wirtschafts- und Finanzpolitisch bleibt der RN in Deckung. Die Partei beziffert die Kosten ihres Programms nicht; lediglich die geforderte Absenkung der Mehrwertsteuer für Energieprodukte bedeute einen staatlichen Einnahmeverlust von 11 Mrd. Euro, die man durch Eindämmung des »Sozialbetrugs« auf Seiten der Migrant*innen und durch Kürzung der Beiträge zum EU-Haushalt kompensieren könne. Zur Absenkung des Renteneintritts äußert man sich nicht mehr.
»Die Franzosen haben ein eindeutiges Urteil gefällt und ihr klares Streben nach Veränderung bestätigt«, sagt FN-Kandidat Bardella. »Frankreich stehen zwei Wege offen. Auf der einen Seite steht die Allianz des Schlimmsten, die Neue Volksfront, die sich hinter Jean-Luc Mélenchon versammelt und das Land in die Unordnung, den Aufstand und den Ruin unserer Wirtschaft führen würde. Auf der anderen Seite steht die Union nationale. Dieses neuartige, vom nationalen Interesse getriebene Bündnis ist nunmehr das einzige republikanische und patriotische Bollwerk.«
Marine Tondelier, Nationalsekretärin der Grünen, appelliert an die Vorsitzenden der zentristischen Parteien: »Sie berufen sich auf den Humanismus, sie berufen sich auf die Demokratie, sie berufen sich darauf, Republikaner zu sein. Jetzt werden wir sehen, ob sie es wirklich sind. Sie sollen kommen, sie sollen uns helfen, eine neue republikanische Front um unser Programm herum aufzubauen.«
Manuel Bompard, nationaler Koordinator der LFI, schlägt den gleichen Ton an: »Die Wahl, die diese Woche vor uns liegt, ist, ob wir akzeptieren, dass Frankreich noch tiefer in den Rassismus, die Ablehnung des Anderen und die Fortsetzung der Wirtschaftspolitik von Emmanuel Macron versinkt, oder ob wir die Seite des Macronismus umblättern, die extreme Rechte vertreiben und alles für die Kaufkraft, den ökologischen Übergang, gegen Rassismus und für die Entwicklung unserer öffentlichen Dienstleistungen ändern.«
Der zweite Wahlgang, so der Sozialdemokrat Raphaël Glucksmann, müsse zum Referendum gemacht werden, ob »das Land von Voltaire und Hugo an die Familie Le Pen fallen wird«. Es gelte eine nie gekannte Katastrophe zu vermeiden. Der Ausgang ist, der Odoxa-Umfrage folgend, offen:
- 47% der franzöischen Bürger*innen sind bereit, die Neue Volksfront zu blockieren.
- 41% wollen den RN blockieren.
- 71% der Renaissance-Sympathisanten sind bereit, die Neue Volksfront zu blockieren.
- 65% von ihnen blockieren die RN.