Antonio Gramsci: Kämpfer gegen den Faschismus
Donnerstag, 12.  Dezember 2024 | Frankfurt a.M. | 19:00 Uhr | DenkBar, Spohrstr. 46a
Gerade sind zwei Bücher zu Gramsci neu erschienen: Die Biografie von Giuseppe Fiori »Das Leben des Antonio Gramsci«, herausgegeben von Christoph Nix, und »Gramscis Geist« geschrieben von dem Juristen, Schriftsteller, Regisseur und Wissenschaftler Nix, der mit Claus-Jürgen Göpfert zu beiden Büchern sprechen wird.

China verstehen in Zeiten der Rivalität
Sonnabend, 14. Dezember 2024 | Neubrandenburg | 10:00 Uhr | Brigitte-Reimann-Literaturhaus, Gartenstr. 6
Michael Brie liest aus seinem Buch Chinas Sozialismus neu entdecken und diskutiert darüber. Moderation: MdL Torsten Koplin (Die Linke).

Projekt »Schönes China«
Mittwoch, 15. Januar 2025 | Online (Zugangsdaten später an dieser Stelle). Im Gespräch mit Hartmut Obens von der Sozialistischen Linken Hamburg wird Michael Brie seine neue  Studie über die ökologische Modernisierung der Volksrepublik vorstellen.

Rudolf Hickel
Schuldenbremse
oder »goldene Regel«?

Verantwortungsvolle Finanzpolitik für die sozial-ökologische Zeitenwende | Eine Flugschrift
96 Seiten | € 12.00
ISBN 978-3-96488-226-4

Ingar Solty
Trumps Triumph?
Gespaltene Staaten von Amerika, mehr Nationalismus, weitere und neue Handelskriege, aggressive Geopolitik
Eine Flugschrift
120 Seiten | 20. Januar 2025 | im Warenkorb vorbestellen | EUR 12.00
ISBN 978-3-96488-238-7

Christoph Scherrer/
Ismail D. Karatepe (Hrsg.)
Arbeit in der Lieferkette
Miserable Arbeitsbedingungen auf See und in den Häfen
192 Seiten | € 18.80
ISBN 978-3-96488-220-2

Michael Brie
Projekt »Schönes China«
Die ökologische Modernisierung der Volksrepublik
Eine Flugschrift
120 Seiten | € 12.00
ISBN 978-3-96488-232-5

Peter Renneberg
Handbuch Tarifpolitik und Arbeitskampf
5., aktualisierte Ausgabe
232 Seiten | € 19.80
ISBN 978-3-96488-224-0

Christoph Nix
Gramscis Geist
Ein Sardisches Tagebuch
Mit Zeichnungen von Katrin Bollmann und Fotos von Sebastiano Piras
144 Seiten |  EUR 14.00
ISBN 978-3-96488-223-3

Hans-Jürgen Urban (Hrsg.)
Gute Arbeit gegen Rechts
Arbeitspolitik: Theorie, Praxis, Strategie – Ausgabe 2024
136 Seiten | EUR 10.00
ISBN 978-3-96488-225-7

Giuseppe Fiori
Das Leben des Antonio Gramsci
Herausgegeben von Christoph Nix
304 Seiten | EUR 19.80
ISBN 978-3-96488-218-9

Gine Elsner
Die Ärzte der Waffen-SS und ihre Verbrechen
144 Seiten | Hardcover| € 16.80
ISBN 978-3-96488-214-1

5. November 2024 Hinrich Kuhls/Roland Schneider: Fiskalpolitik in der EU und in Britannien

Mario Draghis Kritik der Schuldenbremse

Wenn die Europäische Union ihre vereinbarten Klimaschutzziele erreichen und in der Geopolitik weiterhin ein gewichtiges Wort mitreden wolle, sei eine umfassende und koordinierte Reform der gesamten EU-Agenda unerlässlich, so der ehemalige EZB-Präsident Mario Draghi, und ein Blick auf die neue britische Fiskalpolitik könne dabei hilfreich sein.

Anfang September hatte Draghi einen umfangreichen zweiteiligen Bericht zur »Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit Europas«[1] vorgelegt. Im Hauptteil beschreibt er den Innovations- und Technologierückstand der EU gegenüber den USA und schlägt Maßnahmen vor, um die Innovationslücke zu schließen und die Wettbewerbsfähigkeit des supranationalen Staatenverbundes zu sichern. Im zweiten Teil werden vertiefende Analysen und detaillierte industrie- und innovationspolitische Empfehlungen vorgestellt. Umstritten ist, ob der Bericht Hinweise für ein neues Akkumulationsregime enthält oder als Pflichtenheft für die neue EU-Kommission zu verstehen ist.[2]

Am ersten Novemberwochenende hat Draghi nun in der Financial Times unter dem Titel »Europe can learn fiscal lessons from the UK«[3] einen Beitrag veröffentlicht, in dem er Eckpunkte seines Zukunftsberichts benennt und auf die Fiskalpolitik der neuen Labour-Regierung, die am 30. Oktober ihren ersten Haushalt vorgelegt hat, als Beispiel für einen zukunftsorientierten Ansatz verweist.

Draghis zentrale finanzpolitische Botschaft lautet: Die Behauptung vieler EU-Regierungen, sie hätten keinen Spielraum für eine Ausweitung der öffentlichen Investitionen, ist falsch. Eine Ausweitung der öffentlichen Investitionen ist möglich und unerlässlich – sowohl zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in der EU als auch zur Erreichung der gesellschaftspolitischen Ziele, auf die sich die EU-Staaten in den jeweiligen nationalen und supranationalen demokratischen Abstimmungsprozessen verständigt haben.

Die EU hat sich – so leitet Draghi seinen Beitrag ein – »verpflichtet, bis 2050 CO2-neutral zu werden, […] die öffentlichen und privaten Innovationsausgaben auf 3% des BIP zu erhöhen, ihre digitale Infrastruktur auf den neuesten Stand zu bringen und in Klimaschutz und -prävention zu investieren.« Hinzu kommen nicht minder ambitionierte Ziele wie die »Bewahrung ihres Sozialmodells«. Als NATO-Mitglieder haben sich zudem fast alle EU-Staaten verpflichtet, jährlich mindestens 2% des BIP für militärische Verteidigung auszugeben.

»Viele dieser Ziele sind in der europäischen und in der nationalen Gesetzgebung verankert. Der damit verbundene kumulierte Investitionsbedarf ist jedoch enorm. Nach vorsichtigen Schätzungen der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank beläuft er sich auf 750 bis 800 Mrd. Euro pro Jahr. Um diesen Bedarf zu decken, müssten die Investitionen von heute 22% auf 27% des BIP der EU steigen. In der Vergangenheit wurden in Europa etwa 80% der Investitionen vom Privatsektor und 20% vom öffentlichen Sektor finanziert. Das bedeutet, dass die Regierungen in den nächsten sieben Jahren mehr als eine Billion Euro ausgeben müssen. Viele EU-Regierungen sehen sich bei dieser Investitionsherausforderung mit hohen Altschulden und strukturellen Defiziten konfrontiert. Analysen der EZB deuten jedoch darauf hin, dass es Spielraum für eine deutliche Ausweitung der öffentlichen Investitionen gibt, wenn die Regierungen die neuen EU-Haushaltsregeln voll ausschöpfen.«


Ausweitung öffentlicher Investitionen in der EU

Draghi verweist hier auf die Analysen im Teil B seines Berichts und auf aktuelle Berechnungen der EZB, in denen die neuen EU-Haushaltsregeln berücksichtigt werden.[4] Der Berechnung eines EZB-Autorenkollektivs zufolge erfordern die ökologische Transformation und die Digitalisierung der Wirtschaft sowie die Stärkung der militärischen Verteidigungsfähigkeit auf der Grundlage offizieller Schätzungen der Europäischen Kommission und der NATO für den Zeitraum 2025-2031 zusätzliche 5,4 Bill. Euro.

Abb. 1: Zusätzlicher kumulierter privater und öffentlicher Investitionsbedarf der EU und dessen Finanzierung: Schätzungen für grün-digitale Transformationen und Verteidigungsausgaben (2025-2031; nach Finanzierungsquellen und in Mrd. Euro)

Quelle: Bouabdallah et al. (siehe Anmerkung 4)

Sowohl privates Kapital als auch der Staat werden die Finanzierungslücke schließen müssen. Der Löwenanteil muss von privaten Unternehmen, Investoren und Haushalten getragen werden. Aber ein erheblicher Teil, etwa 1,3 Bill. Euro – müsse demnach aus öffentlichen Quellen finanziert werden. Hierfür stehen knapp 400 Mrd. Euro an EU-Mitteln zur Verfügung.[3] Für den Zeitraum 2025-2031 wird die Lücke zwischen den verfügbaren und den benötigten öffentlichen Mitteln auf mehr als 900 Mrd. Euro für die gesamte Union geschätzt, die auf nationaler und EU-Ebene zu finanzieren sind. Dies sind zwar nur grobe Schätzungen, aber sie geben einen Eindruck von der Größenordnung der bevorstehenden finanziellen Herausforderungen. Unter Berücksichtigung von Unsicherheiten bei der Schätzung würde auf dieser Grundlage die öffentliche Finanzierungslücke zwischen 0,6% und 1% des EU-BIP pro Jahr betragen.

Diese Lücke zu schließen ist nicht einfach, insbesondere für hoch verschuldete Länder mit großen strukturellen Defiziten. Die Haushaltslage der Länder im Euroraum ist sehr unterschiedlich. Der öffentliche Schuldenstand im Verhältnis zum BIP lag 2023 zwischen 20% und 160%. Hinzu kommt, dass einige der hoch verschuldeten Länder unter hohen strukturellen Haushaltsdefiziten leiden.

Abb. 2: Öffentlicher Schuldenstand und strukturelle Primärsalden in den Ländern des Euroraums (2023) (in % des BIP bzw. BNE [Irland, Luxemburg])

Quelle: Bouabdallah et al. (Anmerkung 4)

Eine gewisse Hilfe für die nationalen Regierungen ist die neue finanzpolitische Steuerung der EU, die Ende April dieses Jahres verabschiedet wurde und die stärker als in der Vergangenheit darauf abzielt, die notwendige Haushaltskonsolidierung mit wachstumsfördernden Investitionen und Reformen zu kombinieren. Im Vergleich zur bisherigen Governance kann dies den nationalen Finanzierungsdruck für strategische Investitionen teilweise verringern. Zwei neue Regeln könnten sich als hilfreich erweisen:

  • Erstens wird die EU-Kommission den Mitgliedstaaten in der ab 2025 beginnenden Haushaltsanpassungsphase die Möglichkeit geben, sich mehr Zeit zu nehmen – bis zu sieben Jahre bis 2031 –, um ihre Pläne zur Haushaltskonsolidierung umzusetzen und ihre Schuldenentwicklung auf einen plausiblen Abwärtspfad zu bringen. Dies würde bedeuten, dass die Regierungen jedes Jahr geringere Anforderungen an die Haushaltsanpassung erfüllen müssten. Dies wäre jedoch nur zulässig, wenn die Kommission feststellt, dass die Länder glaubwürdige Investitions- und Reformpläne umsetzen. Das EZB-Autorenkollektiv schätzt, dass dieser neue Rahmen im Zeitraum 2025-2031 bis zu 700 Mrd. Euro für öffentliche Investitionen in der EU freisetzen könnte
  • Zweitens dürfen die Mitgliedstaaten nach der Phase der Haushaltsanpassung die strukturellen öffentlichen Defizite bei 1,5% des BIP halten, was höher ist als in der Vergangenheit. Dies würde im Prinzip bis zu einem Prozentpunkt mehr fiskalischen Spielraum für Investitionen bieten als nach den bisherigen Regeln. Damit kann die Investitionslücke nicht vollständig geschlossen werden, aber sie bringt für die meisten EU-Staaten eine Verschnaufpause.

Draghi fasst zusammen: »Die EZB schätzt, dass die neuen Regeln – die es den Ländern erlauben, die Haushaltskonsolidierung um bis zu sieben Jahre zu verlängern, um Investitionen und Reformen durchzuführen – im Prinzip bis zu 700 Mrd. Euro freisetzen könnten. Und sobald die Konsolidierungsphase vorbei ist, dürfen die Länder ein strukturelles Defizit von 1,5% des BIP beibehalten. Im Vergleich zu den bisherigen Regeln könnte diese Marge etwa ein Prozentpunkt mehr Spielraum für Investitionen schaffen. Weitere 400 Mrd. Euro werden aus bestehenden EU-Mitteln bereitgestellt.«

Der ehemalige EZB-Präsident geht also davon aus, dass die Regierungen und die EU-Kommission nach den Berechnungen der EZB in der Lage sind, ihren Anteil an der notwendigen Erhöhung der Investitionen in den nächsten sieben Jahren – ein Fünftel des Anstiegs von 22% auf 27% des BIP – zu finanzieren, wenn sie die neuen EU-Haushaltsregeln ausschöpfen. Der erforderliche Betrag von einer Billion Euro könnte mit den 1,1 Bill. Euro sogar leicht übertroffen werden. Ob und wie die anderen vier Fünftel des zusätzlich erforderlichen Investitionsvolumens im nicht-öffentlichen Industrie- und Dienstleistungssektor realisiert werden können, lässt Draghi unerwähnt. Bei der Finanzierung der öffentlichen Investitionen steht für Draghi die Frage im Vordergrund: »Wie kann Europa sicherstellen, dass dieser finanzielle Spielraum sowohl ausgeschöpft als auch gut genutzt wird?«


Der Haushalt der neuen Labour-Regierung

Draghi vermutet, dass die Haushaltspolitik der britischen Labour Party hier ein Wegweiser sein könnte. Im soeben eingebrachten ersten Budget der neuen Labour-Regierung samt den begleitenden Haushaltsgesetzen sieht er »einige interessante Ideen. Die britische Regierung hat beschlossen, die öffentlichen Investitionen in den nächsten fünf Jahren deutlich zu erhöhen, und hat genaue Regeln verabschiedet, um sicherzustellen, dass die Kreditaufnahme nur zur Finanzierung dieser Investitionen verwendet wird. Um die Qualität der Ausgaben zu gewährleisten, werden die Transaktionen außerdem von unabhängigen Behörden validiert. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass öffentliche Investitionen einen positiven Kapitalwert haben und somit die finanzielle Tragfähigkeit unterstützen.«

Das Haushaltsvolumen beträgt im Haushaltsjahr 2025/26 auf der Ausgabenseite 1,3 Bill. Pfund; die Staatsquote erreicht 2028/29 rund 38%. Trotz der vielen Einzelmaßnahmen, die Finanzministerin Rachel Reeves in ihrer Haushaltsrede ankündigte, liegt der Schwerpunkt des Haushalts auf einer Akzentverschiebung auf der Einnahmenseite. Entscheidungen über die Verwendung (Industriepolitik, sozialer Wohnungsbau, Verkehrsinfrastruktur, Pflegeversicherung) hat die Regierung in das nächste Jahr verschoben.

Bei den laufenden Ausgaben hat die Regierung, wie befürchtet, nicht auf Einsparungen bei den Sozialausgaben verzichtet, um ihre »erste Haushaltsregel« (ausgeglichener Haushalt) einzuhalten [5]. Mit der erstmaligen Vorlage des Finanzierungsplans für die angekündigten Veränderungen gelingt es ihr nicht, die negative Bewertung ihrer ersten 100 Regierungstage umzukehren.[6]

Das Volumen des Investitionshaushalts ist nach Einschätzung des unabhängigen Office for Budget Responsibility (OBR) zu gering, um einen selbsttragenden Konjunkturaufschwung anzustoßen. In der Regierungsrhetorik ist die Wahlkampfparole »Wandel durch Wachstum« der frühzeitigen Defensivposition »Ohne Bürokratiereform keine Investitionen« gewichen.

Draghi hebt zwei Neuerungen in der britischen Finanzpolitik hervor. Erstens: Um Investitionsausgaben zu bewerten und zu überwachen, hat die Labour-Regierung neben dem OBR eine weitere Behörde eingerichtet. Das Office for Value for Money soll sicherstellen, dass Ausgaben der öffentlichen Hand mit einem entsprechenden Nutzen – »value for money« – einhergehen.

Wichtig ist Draghis zweiter Hinweis: Finanzministerin Reeves zeigt, wie die britische Schuldenbremse flexibel gehandhabt werden kann. Um die »zweite Fiskalregel« (Senkung der Staatsquote spätestens im letzten Jahr der Legislaturperiode) einzuhalten, ändert sie die Berechnungsgrundlage. Die neue Schuldendefinition, die auch das Finanzvermögen des Staates berücksichtigt, erlaubt eine deutlich höhere Neuverschuldung von 32 Mrd. Pfund (35 Mrd. Euro). Das zusätzliche Geld darf nicht für laufende Staatsausgaben, sondern nur für Investitionen verwendet werden. Das OBR bezeichnet den Schritt als »eine der größten fiskalpolitischen Lockerungen der letzten Jahrzehnte«.

Die Umstellung auf die neue Berechnungsgrundlage (Public Sector Net Financial Liabilities [PSNFL] – Nettofinanzverbindlichkeiten des öffentlichen Sektors) wird mehr Spielraum für die Aufnahme von Krediten für Investitionen schaffen (bis zu 50 Mrd. Pfund zusätzlich). Die neue Berechnungsgrundlage, die an die Stelle der Nettoverschuldung des öffentlichen Sektors tritt, berücksichtigt alle finanziellen Vermögenswerte und Verbindlichkeiten des Staates, einschließlich Studiendarlehen und Kapitalbeteiligungen an privaten Unternehmen sowie kapitalgedeckte Pensionsfonds.

Der Nettoinvestitionsbedarf des öffentlichen Sektors im Vereinigten Königreich wird für 2028/29 auf 53 Mrd. Pfund geschätzt, die Nettoemission von Staatsanleihen auf 87 Mrd. Pfund. »Vor diesem Hintergrund wäre jede Änderung, die eine zusätzliche Kreditaufnahme für Investitionen in Höhe von 50 Mrd. Pfund ermöglichen würde, eine enorme Verschiebung, selbst wenn nicht der gesamte zusätzliche Spielraum auf einmal genutzt würde. Wenn auch nur die Hälfte dieses Betrags für zusätzliche Investitionen ausgegeben würde, könnte die Verschuldung (auf der Grundlage der vorherigen Berechnung) bis zum Ende der Legislaturperiode um mehr als 3% des BIP ansteigen und würde mit ziemlicher Sicherheit bis zum Ende des Prognosezeitraums weiter ansteigen, selbst wenn man die für eine wachsende Wirtschaft typischen Rückkopplungseffekte berücksichtigt.«[7]

Welche Lehren aus der britischen Haushaltspolitik Draghi im Einzelnen für die Fiskalpolitik der EU und der Mitgliedstaaten als wegweisend ansieht, geht aus seiner kurzen Bemerkung nicht hervor. Er wird dies an anderer Stelle ausführlich darlegen müssen, wenn der Einschub nicht nur als Reverenz an die in London ansässige Redaktion der Financial Times verstanden werden soll.


Investitionsoffensive statt Schuldenbremse

Um den neuen fiskalpolitischen Spielraum der EU-Institutionen und der Regierungen der EU-Staaten zielgerichtet zu nutzen, bekräftigt Draghi allerdings abschließend seinen Weckruf aus dem Zukunftsbericht. Angesichts der Selbstblockade der derzeitigen Regierungskoalition im wirtschaftsstärksten Mitgliedstaat der EU[8] könnte seine Intervention als Menetekel gelesen werden. Angesichts der anhaltenden globalen Turbulenzen könnte sie aber auch als Plädoyer verstanden werden, dass nur die Umsetzung des »neuen Pflichtenhefts der EU-Kommission« zur Ausweitung öffentlicher Investitionen die EU vor dem Tod bewahren kann:

»Die EU-Länder sind nun dabei, ihre ersten Haushalte nach den neuen EU-Haushaltsregeln vorzulegen. Erste Anzeichen deuten darauf hin, dass sich ihr Ansatz in zwei wichtigen Punkten von dem des Vereinigten Königreichs unterscheidet. Erstens entscheiden sich die meisten Länder, die über einen finanziellen Spielraum verfügen und nicht mit einer gravierenden Verschlechterung der makroökonomischen Aussichten konfrontiert sind, für einen kürzeren Konsolidierungspfad von vier statt sieben Jahren. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Regierungen die Spielräume nutzen werden, um die Investitionen zu erhöhen, wie es die neuen Regeln vorsehen.

Zweitens ist es Aufgabe der Kommission, dafür zu sorgen, dass die Länder, die die siebenjährige Verlängerung in Anspruch nehmen wollen, die Gelder sinnvoll ausgeben. Dies bedeutet, dass die Kommission ein anspruchsvoller Verhandlungspartner sein muss, der die Investitionsziele rigoros durchsetzt und die Qualität der Investitionen und ihre Übereinstimmung mit den ›gemeinsamen Prioritäten der Union‹ bewertet. Öffentliche Güter wie Klimaschutz und -prävention, Energieverbundnetze, Forschung und Verteidigung waren bisher unterfinanziert. Ob diese Lücke auch in Zukunft bestehen bleibt, ist eine offene Frage. Auf Länderebene scheinen die Schuldenpfade nur dazu entwickelt worden zu sein, um den Anforderungen der Schuldentragfähigkeitsanalysen zu genügen. Und auf EU-Ebene gibt es noch keine gemeinsame Bewertung, ob die individuellen Pläne der Länder den kollektiven Bedürfnissen der Union entsprechen.

Der Löwenanteil der Investitionen muss weiterhin vom privaten Sektor finanziert werden. Ohne eine koordinierte Reformagenda wird es jedoch keine private Finanzierung geben. Eine effizientere Nutzung der hohen privaten Ersparnisse in Europa erfordert die Integration der europäischen Kapitalmärkte. Von der Vollendung des Binnenmarktes wird es abhängen, ob private Investitionen von veralteten Industrien in fortschrittlichere Sektoren umgelenkt werden können. Gelingt dies nicht, werden innovative Unternehmen in schnell wachsenden Sektoren wie den digitalen Dienstleistungen nicht in der Lage sein, zu expandieren und Kapital anzuziehen. Die Folge wird sein, dass weiterhin in alte Technologien investiert wird.

Die EU mag für sich in Anspruch nehmen, Vorreiter beim Klimaschutz, digitaler Innovator und geopolitischer Akteur zu sein. Doch die Präferenzen ihrer Mitgliedstaaten sind derzeit andere. Es ist schwer vorstellbar, wie Europa seine Ziele erreichen will, ohne seinen fiskalischen Spielraum zu nutzen und seine Märkte zu reformieren.«

Hinrich Kuhls und Roland Schneider arbeiten in der Sozialistischen Studiengruppe (SOST) mit.

Anmerkungen

[1] Mario Draghi: The future of European competitiveness, Europäische Kommission, 9.9.2024; https://commission.europa.eu/topics/strengthening-european-competitiveness/eu-competitiveness-looking-ahead_en
[2] Roland Schneider: Pflichtenheft für die neue EU-Kommission. Kein Wegweiser zu einem neuen Akkumulationsregime: der Draghi-Bericht. Sozialismus.de, November 2024, S. 48–54. Vgl. auch Redaktion Sozialismus, »Es geht um Europas Existenz«. Mit mehr Markt und mehr Schulden in eine bessere Zukunft?, Sozialismus.de Aktuell, 10.9.2024;
[3] Mario Draghi: Europe can learn fiscal lessons from the UK. Financial Times, 02./3.11.2024 (paywall).
[4] Othman Bouabdallah et al. Mind the gap: Europe’s strategic investment needs and how to support them. The ECB Blog, 27.06.2024; https://www.ecb.europa.eu/press/blog/date/2024/html/ecb.blog240627~2e939aa430.en.html
[5] John McDonnell: Das erste Budget der neuen Labour-Regierung. Vor der Haushaltsdebatte in Großbritannien. Sozialismus.de Aktuell, 27.10.2024.
[6] Hinrich Kuhls: Das Kabinett Starmer am Start. Die ersten 100 Tage der neuen Labour-Regierung. Sozialismus.de, November 2024, S. S. 42–47.
[7] Emmerson, Carl; Stockton, Isabel; Johnson, Paul; Zaranko, Ben (2024): Fiscal rules and investment in the upcoming Budget. IFS (Institute for Fiscal Studies) Comment, 27. September 2024. DOI: 10.1920/co.ifs.2024.0060; https://ifs.org.uk/articles/fiscal-rules-and-investment-upcoming-budget
[8] Vgl. Redaktion Sozialismus: Das Elend einer verknöcherten liberalen Partei. Lindners Papier für den »Herbst der Entscheidungen«. Sozialismus.de Aktuell, 3.11.2024.

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