20. März 2021 Andrew Fisher: Gegenkurs zur Wirtschaftspolitik der Tories
Massenarbeitslosigkeit ist vermeidbar
Vor 30 Jahren erklärte ein Finanzminister der damaligen konservativen Regierung, dass die steigende Arbeitslosigkeit ein Preis sei, den man zahlen müsse, um die Inflation zu senken. Heute liegt die Inflationsrate aber unter dem Zwei-Prozent-Ziel der Bank of England. Was führt Finanzminister Rishi Sunak aktuell als Ausrede an, um eine proaktive Arbeitsmarktpolitik zu unterlaufen?
Derzeit sind 1,7 Millionen Menschen (5,1%) in Großbritannien arbeitslos. Das Amt für Budgetverantwortung (Office for Budget Responsibility) prognostiziert, dass diese Zahl bis Ende des Jahres auf 2,2 Millionen ansteigen wird. Das Ministerium für Arbeit und Renten malt ein noch schlechteres Bild. Nach seinen Angaben gibt es bereits 2,74 Millionen Menschen, die Arbeitslosenunterstützung beziehen – ein Anstieg von über 100% im letzten Jahr (dies umfasst alle Personen, die als Bedingung für den Erhalt ihrer Leistungszahlung nach Arbeit suchen müssen).
Im Januar waren außerdem 4,7 Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit, denen der Staat 80% ihres Lohns im Rahmen des Programms zur Arbeitsplatzerhaltung (Job Retention Scheme) zahlt. Es wird erwartet, dass die große Mehrheit dieser Arbeitsplätze gesichert werden kann, aber etliche Tausende werden verloren gehen, bevor die Wirtschaft wieder voll anzieht. Die erste Bewährungsprobe kommt im Juli, wenn die Unternehmen 10% der Löhne der beurlaubten Arbeiter zahlen müssen. Ab dem 1. August steigt der Anteil auf 20%, und Ende September wird die Kurzarbeit-Regelung ganz aufgehoben.
Die Schließung des Kurzarbeit-Programms fällt zusammen mit dem Ende des Aufschlags in Höhe von 20 Pfund zur Allgemeinen Sozialhilfe (Universal Credit). Die Joseph Rowntree Foundation hat letztes Jahr berechnet, dass die Rücknahme dieses Zusatzbetrags 500.000 Menschen, darunter 200.000 Kinder, in Armut stürzen wird. Gerade zu dem Zeitpunkt, an dem die Arbeitslosigkeit ihren Höchststand erreicht, will die Regierung also den Betrag kürzen, von dem Arbeitslose leben müssen.
Auf den Monat genau vor 88 Jahren hielt Franklin D. Roosevelt seine Antrittsrede als US-Präsident und sagte: »Unsere größte primäre Aufgabe ist es, die Menschen in Arbeit zu bringen... Das kann zum Teil durch direkte Rekrutierung durch die Regierung selbst erreicht werden, ... durch die Durchführung dringend benötigter Projekte zur Stimulierung der Ökonomie und durch die Neuorganisation der Nutzung unserer natürlichen Ressourcen.«
Blickt man heute auf das Vereinigte Königreich, so stellt man fest, dass das Potenzial für eine moderne Arbeitsplatzgarantie für alle Arbeitssuchenden vorhanden ist. Das Potenzial auch regional auszuschöpfen, ist das Ziel einer »Allianz für Vollbeschäftigung«, die Stadtoberhäupter der englischen Metropolregionen, der Labour-Ministerpräsident in Wales und der ehemalige Premierminister Gordon Brown auf den Weg gebracht haben. Als Beispiel für das Arbeitsplatzpotenzial seien hier drei dringende gesellschaftliche Aufgaben angeführt: Pflege, Wohnen und Dekarbonisierung.
Wir gingen in die Pandemie mit 120.000 unbesetzten Stellen im sozialen Pflegebereich und 100.000 unbesetzten Stellen im staatlichen Gesundheitsdienst NHS. Die Argumente für einen neu zu errichtenden Nationalen Pflegedienst waren noch nie so stark. Die seit fast einem Jahrzehnt immer wieder verschobene Vorlage des Weißbuchs zur Reparatur und Neuorganisation der Pflegedienste war von Johnson zu Beginn seiner Regierungsübernahme vor fast zwei Jahren erneut versprochen worden – ohne Resultat.
Nie war es wichtiger, die Finanzierung des NHS aufrechtzuerhalten, damit unsere wertvollste Institution damit beginnen kann, den Rückstau an aufgeschobenen Krebsbehandlungen, Grauer-Star- und Hüftoperationen abzubauen. Im Haushalt wurde jedoch angekündigt, dass der NHS England im nächsten Jahr acht Mrd. Pfund weniger zur Verfügung haben wird. Der NHS und die Pflegeeinrichtungen brauchen mehr Personal. Die Antwort müsste lauten: Finanzierung kostenloser Ausbildungsplätze in diesen Bereichen und zügige Besetzung der offenen Stellen.
Wir haben auch eine Wohnungskrise. Die Kosten für Wohnraum – ob zur Miete oder zum Kauf – sind in den letzten zwei Jahrzehnten weit über die Inflationsrate gestiegen. Wären die Löhne in den letzten 50 Jahren in gleichem Maße wie die Immobilienpreise gestiegen, läge der Durchschnittslohn bei etwa 100.000 Pfund pro Jahr (der aktuelle Medianlohn liegt bei etwa 31.000 Pfund).
Jetzt ist es an der Zeit, eine neue Generation von Sozialwohnungen zu bauen, mit sicheren Mietverhältnissen und regulierten Mieten. Unter Churchills Nachkriegsregierung wurden von 1951 bis 1953 fast 200.000 Sozialwohnungen gebaut. Letztes Jahr wurden weniger als 7.000 Sozialwohnungen von Kommunen und Wohnungsbaugenossenschaften fertig gestellt. Die Beschäftigung von Baufachkräften und die Ausbildung einer neuen Generation von qualifizierten Beschäftigten in diesem Sektor könnte Zehntausende von neuen Arbeitsplätzen schaffen – und einen enormen Einfluss auf die Zuliefererketten haben.
Ein drittes Schlüsselelement ist die Dekarbonisierung unserer Wirtschaft. Die britische Regierung ist dabei, selbst ihr unzureichendes Ziel zu verfehlen, bis 2050 die Kohlenstoff-Bilanz mit »Netto-Null-Emissionen« umzusetzen, und laut dem parlamentarischen Rechnungsprüfungsausschuss (Public Accounts Committee) hat sie auch »keinen Plan«, um es erreichen zu können. Dabei gäbe es viel zu tun: die Anlage neuer Wälder und weitere Baumpflanzungen, die Installation eines neuen Netzes von Ladestationen für Elektroautos, der Bau einer neuen Generation von Windturbinen, Gezeitenkraftwerken und Solaranlagen.
Ob in der Pflege, im Wohnungsbau oder in der grünen Industrie – die Beschäftigten in diesen Bereichen sollten entsprechend den mit Gewerkschaften vereinbarten Tariflöhnen für qualifizierte Tätigkeiten entlohnt werden, damit eine andere Prognose aus dem Tory-Haushalt nicht eintrifft: Der Durchschnittsverdienst soll 2026 nicht höher sein als 2008. Wir können aber nicht zu einer Wirtschaft mit geringen Investitionen und geringer Produktivität zurückkehren, die von unsicherer, schlecht bezahlter Arbeit geprägt ist.
Der jetzt beschlossene Haushalt für das nächste Jahr und die mittelfristige Finanzplanung wurden als Wende hin zu einem aktiveren Staat dargestellt – eine Art neuer konservativer Wirtschaftsstrategie. Das Gegenteil ist der Fall, und es fühlt sich geradezu unheimlich vertraut an: Die konservative Regierung sieht tatenlos zu, wie die Arbeitslosigkeit steigt und die Löhne sinken. So kann es nicht weitergehen. Die Ökonomie des Landes muss anders organisiert werden.
Der Autor:
Andrew Fisher war von 2016 bis 2019 Executive Director of Policy bei der Labour Party. Er ist der Autor von The Failed Experiment. And How to Build an Economy That Works (2014) – ein Buch über die britische Wirtschaftspolitik und den Finanzcrash von 2007/08. Im Wahljahr 2017 koordinierte er die Arbeit am Wahlprogramm der Labour Party »For the Many, not the Few«. Der hier dokumentierte Kommentar erschien zuerst am 11.3.2021 bei i-news unter dem Titel »Mass unemployment is preventable if people are trained in social care, construction and green jobs.« (Übersetzung: Hinrich Kuhls)