10. Juli 2022 Joachim Bischoff/Björn Radke: Die globale Hungersnot spitzt sich zu
Mehr als 2,3 Milliarden Menschen leiden Hunger
Der aktuelle Welternährungsbericht der Vereinten Nationen ruft eine beunruhigende Entwicklungstendenz auf: Die Zahl hungernder Menschen ist seit 2020 wieder angestiegen. Zwischen 702 und 828 Millionen Menschen waren 2021 von Hunger betroffen.
Laut jährlichem Bericht zur weltweiten Versorgungslage seien das etwa 46 Millionen mehr als im Vergleich zum Mittelwert des Vorjahres (721 Millionen). Die Herausforderungen, Hunger und Mangelernährung zu beenden, wüchsen, schrieben mehrere UN-Organisationen, darunter Unicef, die Weltgesundheitsorganisation und die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation.
Im laufenden Jahr geht diese Entwicklungstendenz verstärkt weiter, was neben den bekannten Ursachen (Pandemie, Klimawandel, unzureichendes Saatgut etc.) eben auch an den Folgen des Ukraine-Krieg liegt. Die Welt entfernt sich immer weiter von ihrem Ziel, Hunger, Ernährungsunsicherheit und Unterernährung in all ihren Formen bis 2030 zu beenden.
Die Ausgabe 2022 des Berichts »The State of Food Security and Nutrition in the World« (SOFI) enthält Aktualisierungen zur Ernährungssicherheit und Ernährungssituation auf der ganzen Welt, einschließlich der neuesten Schätzungen zu den Kosten und der Erschwinglichkeit einer gesunden Ernährung. Der Bericht befasst sich auch mit Möglichkeiten, wie Regierungen ihre derzeitige Unterstützung für die Landwirtschaft umwidmen können, um die Kosten einer gesunden Ernährung zu senken, wobei sie sich der begrenzten öffentlichen Ressourcen bewusst sind, die in vielen Teilen der Welt verfügbar sind.
Der Bericht wurde gemeinsam von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), dem Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD), dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF), dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) und der Welt Gesundheitsorganisation (WHO) verantwortet.
Die Zahlen zeichnen ein düsteres Bild
Bis zu 828 Millionen Menschen waren 2021 von Hunger betroffen – 46 Millionen Menschen mehr als ein Jahr zuvor und 150 Millionen mehr als 2019. Nachdem der Anteil der von Hunger betroffenen Menschen seit 2015 relativ unverändert geblieben war, stieg er 2020 sprunghaft an und im Jahr 2021 weiter auf 9,8% der Weltbevölkerung. Im Jahr 2019 waren es 8%, im Jahr 2020 9,3%.
Rund 2,3 Milliarden Menschen auf der Welt (29,3%) litten im Jahr 2021 unter mäßiger oder starker Ernährungsunsicherheit – 350 Millionen mehr als vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie. Für nahezu 924 Millionen Menschen (11,7% der Weltbevölkerung) bedeutete dies »Ernährungsunsicherheit auf schwerwiegendem Niveau«, ein Anstieg um 207 Millionen in zwei Jahren. Die geschlechtsspezifische Kluft ist im Jahr 2021 weiter gestiegen: Mäßige oder starke Ernährungsunsicherheit galt für 31,9% der Frauen auf der Welt, verglichen mit 27,6% der Männer – eine Lücke von mehr als 4 Prozentpunkten, verglichen mit 3 Prozentpunkten im Jahr 2020. Fast 3,1 Milliarden Menschen konnten sich 2020 keine gesunde Ernährung leisten, 112 Millionen mehr als 2019, was die Auswirkungen der Inflation der Verbraucherpreise für Lebensmittel widerspiegelt, die sich aus den wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und den zu ihrer Eindämmung ergriffenen Maßnahmen ergeben.
Schätzungsweise 45 Millionen Kinder unter fünf Jahren litten an Auszehrung, der tödlichsten Form der Unterernährung, die das Sterberisiko von Kindern um das bis zu Zwölffache erhöht. Darüber hinaus hatten 149 Millionen Kinder unter fünf Jahren Wachstums- und Entwicklungsstörungen aufgrund eines chronischen Mangels an essenziellen Nährstoffen in ihrer Ernährung, während 39 Millionen übergewichtig waren.
Beim ausschließlichen Stillen werden Fortschritte erzielt, wobei im Jahr 2020 weltweit fast 44% der Säuglinge unter sechs Monaten ausschließlich gestillt werden. Dies ist immer noch nicht das 50%-Ziel bis 2030. Zwei von drei Kindern erhalten nicht die minimale abwechslungsreiche Ernährung, die sie benötigen, um zu wachsen und sich zu ihrem vollen Potenzial zu entwickeln.
Prognosen gehen davon aus, dass im Jahr 2030 immer noch fast 670 Millionen Menschen (8% der Weltbevölkerung) von Hunger betroffen sein werden, selbst wenn eine globale wirtschaftliche Erholung unterstellt wird. Dies ist eine ähnliche Zahl wie 2015, als das Ziel, Hunger, Ernährungsunsicherheit und Unterernährung bis Ende dieses Jahrzehnts zu beenden, im Rahmen der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung ins Leben gerufen wurde.
Die Zahlen enthalten die aktuellen Kriegsfolgen aber noch nicht, denn sie bettreffen das Jahr 2021. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie in diesem Jahr nochmals deutlich höher liegt. Denn der Kreislauf der Krisen wird durch den Wirtschaftskrieg zwischen dem Westen und Russland verstärkt. Dieser Krieg treibt über die Preisexplosion der fossilen Energiestoffe die Lebenshaltungskosten weltweit in die Höhe.
Außerdem ist die Getreideausfuhr der Ukraine durch Verminung und Blockierung der Häfen unterbunden. Aus politischer Furcht vor einer langen Handelsblockade im Schwarzen Meer beginnen Staaten, die selbst vom Import abhängen, Grundnahrungsmittel zu horten. Indien stoppte die Ausfuhr von Weizen. Arabische Empfängerländer, von Katar bis Ägypten, blicken mit Schrecken auf das Geschehen. Die Nahrungsmittelpreise stiegen im Libanon im Jahresvergleich fast um mehr als das Dreifache, in Sudan um 145%, in der Türkei um 89%.
Der Hunger wird sich also laut den Vereinten Nationen weltweit weiter verschärfen. Ein Ende des globalen Elends ist laut aktuellem Welternährungsbericht nicht in Sicht. Am schlimmsten seien die Menschen im globalen Süden von der Ernährungskrise betroffen. Die Experten befürchten globale Destabilisierung und Massenmigration in einem noch nie dagewesenen Ausmaß. »Wir müssen heute handeln, um die sich anbahnende Katastrophe zu verhindern«, sagt WFP-Exekutivdirektor David Beasley. »Es besteht die reale Gefahr, dass die Zahlen in den kommen Monaten sogar noch weiter ansteigen werden. Der weltweite Preisanstieg von Lebensmitteln, Treibstoff und Düngemittel, ist das Resultat des Krieges in der Ukraine, der droht, Länder auf der ganzen Welt in Hungersnöte zu stürzen.«
Laut Welternährungsbericht 2021 hatte also fast ein Drittel der Weltbevölkerung, im Pandemiejahr 2020 keinen Zugang zu ausreichend gesunder Ernährung. Frauen waren deutlich stärker betroffen als Männer, und diese Ungleichheit hat sich im Pandemie-Jahr noch verschärft. Mit über einem Fünftel ist Anteil der Hungernden an der Gesamtbevölkerung auf dem afrikanischen Kontinent besonders hoch.
Auch 2022 drohen alle Warnungen vor dem Hunger erneut zu verhallen. Dabei war die Vergabe des Friedensnobelpreises an das Welternährungsprogramm im Oktober 2020 ein zugleich eine Warnung. Auf der Grundlage eines konservativen Szenarios prognostizierte der Bericht der Welternährungsorganisation FAO im Oktober 2021: Zwischen 2020 und 2030 werden weitere 22 Millionen Kinder in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen aufgrund der Pandemie in ihrer Entwicklung gehemmt sein. Und weitere 40 Millionen Kinder werden verhungern. Die Zahl der Hungernden steigt seit sechs Jahren an, wenngleich im Corona-Jahr 2020 besonders stark um mindestens 120 Millionen Menschen, wie bereits der UN-Welternährungsbericht 2021 feststellte.
Wir könnten durch energisches Handeln die sich anbahnenden Flucht- und Migrationsbewegung wenigstens in Bahnen lenken. Alle aktuellen Ursachenzusammenhänge wie Covid-Pandemie oder hohe Düngemittelpreise sowie die Kriegsbedingten Preisexplosionen können freilich nicht verdecken, dass die strukturellen Ursachen von Unterernährung seit Jahren nicht angegangen werden. Die Qualität von Böden verschlechtert sich massiv. Weltweit ist fast die Hälfte aller Böden betroffen. Die fruchtbare Bodenschicht (Humusschicht) wird immer dünner und es wird schwieriger, Nahrungsmittel anzubauen. Ein Grund: Die Landwirtschaft, insbesondere die industrielle Landwirtschaft, vernachlässigt die Böden.
Alternativen sind möglich
Agrarökologische Systeme hingegen fördern die Vielfalt über und unter der Erde. Die Böden können besser Wasser aufnehmen und speichern, die Pflanzen können tiefer wurzeln. Wenn eine Vielfalt von Pflanzen angebaut und der Boden nach der Ernte mit Ackerwildkräutern bepflanzt wird, wird Humusaufbau möglich. Ökologisch nachhaltige Landwirtschaft ist daher unverzichtbar, um Hunger langfristig und nachhaltig abzubauen.
Die Ansatzpunkte für eine kurzfristige Linderung des weltweiten Hungers sind bekannt, auch der Welternährungsbericht unterstreicht sie: Frühwarnsysteme, Notfallversorgung und Geldtransfers, um den Menschen zu ermöglichen, das Notwendigste auf den Märkten einzukaufen. Wassermanagement, Vorratsspeicherung und Notfallpläne zählen ebenfalls zu den wichtigsten Maßnahmen. Und der Lebensmittelsektor muss derart reguliert werden, dass nahrhafte Lebensmittel auch erschwinglich sind.
Die Anbausysteme müssen, soweit möglich, gegen die klimatische Schwankungen widerstandsfähiger gemacht werden. Nur 43% des Getreides dient als Lebensmittel. Der Rest wird zu Tierfutter, Sprit und Industrierohstoffen verarbeitet. Unser Ernährungssystem ist eine der wichtigsten Ursachen für den Klimawandel, das Artensterben, für Umweltverschmutzung, Wasserknappheit, vermeidbare Krankheiten, Kinderarbeit, Armut und Ungerechtigkeit. Dieses System ist krank.
Der Vizepräsident des Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung der Vereinten Nationen (IFAD), Dominik Ziller, umreißt die Handlungsalternativen: Der Krieg in der Ukraine muss enden, und auch der zuletzt stark zugenommene Protektionismus im Handel mit Agrargütern muss zurückgehen. Um den Hunger nachhaltig zu beseitigen, müssen die betroffenen Länder ihre Abhängigkeit von globalen Lieferketten reduzieren, etwa indem Kleinbauern stärker unterstützt und Wertschöpfungsketten zur Weiterverarbeitung vor Ort aufgebaut werden: Die Zahl der Konflikte muss zurückgehen und der Klimawandel eingedämmt werden – auch, indem die Menschen ihr Konsumverhalten beispielsweise in Bezug auf Fleisch überdenken. »Das sind dicke Bretter, die wir bohren müssen.«
Agrarstrukturen verändern
Landwirtschaft ist abhängig von Bodenqualität und Wasser, den Jahreszeiten und der Reproduktion der Lebewesen. Mit den enormen fossilen Inputs einer über Jahrzehnte betriebenen Landwirtschaft, die auf Ertragsmaximierung ausgerichtet ist und dabei zunehmend auf Hybridsaatgutsorten setzt, die mit umweltschädlichen synthetischen Düngemitteln und Pestiziden bearbeitet werden müssen, sehen wir nun die schädlichen Folgen.
Andere Agrarstrukturen können eine Alternative sein. Kurzfristig ist es essenziell, dass die Produktionsländer weiter exportieren, damit die Menschen in den Importländern Essen kaufen können. Langfristig ist es unvermeidbar, die heutigen Handelsstrukturen zu ändern: Viele Länder, gerade in Afrika, sind nicht deshalb so stark von Importen abhängig, weil bei ihnen nichts wächst, sondern wegen Dumpingimporten. So haben EU-Poulets in Westafrika die Hühnerhalter*innen ruiniert, und industriell produzierter Reis aus China ist billiger als der regionale. Es gibt einen Zusammenhang zwischen ausgeräumten Landschaften, Handelsstrukturen, die zu Foodwaste führen, zerstörter Biodiversität und unerträglicher Arbeit und Umweltschäden.
Nicht aus dem Blick geraten darf auch die Situation der Weltmeere. Die Botschaft der jüngst stattgefundenen UN-Meereskonferenz in Lissabon ist deutlich: »Der Ozean bedeckt 70% der Erdoberfläche, ist die größte Biosphäre des Planeten und beherbergt bis zu 80% des gesamten Lebens auf der Welt. Er erzeugt 50% des von uns benötigten Sauerstoffs, absorbiert 25% aller Kohlendioxidemissionen und fängt 90% der durch diese Emissionen zusätzlich erzeugten Wärme auf. Sie sind nicht nur die ›Lungen des Planeten‹, sondern auch seine größte Kohlenstoffsenke – ein wichtiger Puffer gegen die Auswirkungen des Klimawandels. […]
Die Wissenschaft ist sich sicher: Der Ozean ist durch menschliche Aktivitäten in nie dagewesenem Maße bedroht. Sein Zustand und seine Fähigkeit, Leben zu erhalten, werden sich mit dem Wachstum der Weltbevölkerung und der Zunahme menschlicher Aktivitäten nur verschlechtern. Wenn wir einige der wichtigsten Probleme unserer Zeit wie Klimawandel, Ernährungsunsicherheit, Krankheiten und Pandemien, schwindende Artenvielfalt, wirtschaftliche Ungleichheit und sogar Konflikte und Unruhen angehen wollen, müssen wir jetzt handeln, um den Zustand unserer Ozeane zu schützen.«