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25. April 2023 Stephanie Odenwald/Jeffrey Butler/Klaus Kohlmeyer/Ulli Bochum: Zum Koalitionsvertrag von CDU und SPD in Berlin

Mehr Demokratie wagen?

In einer Befragung hat sich eine Mehrheit der Mitglieder des SPD-Landesverbands Berlin für eine Koalition mit der CDU ausgesprochen. Die Berliner SPD-Vorsitzende, Franziska Giffey, teilte mit, dass die Mehrheit ihrer Genoss*innen den Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD gebilligt habe. An der Abstimmung hätten 11.886 der 18.555 SPD-Mitglieder teilgenommen. 11.379 Stimmen seien gültig gewesen. Davon seien 54,3% Ja-Stimmen.

Gegen die Empfehlung für eine große Koalition hatte es in der SPD erheblichen Widerstand gegeben – auch deshalb, weil die bisherige rot-grün-rote Koalition trotz großer Verluste im Abgeordnetenhaus weiter eine rechnerische Mehrheit hat. Sie ist sogar größer als die einer großen Koalition. Außerdem gibt es in Teilen der Berliner SPD enorme Vorbehalte gegen Kai Wegner und seine CDU. Den Christdemokraten wird zum Beispiel ihr Verhalten nach den Silvesterkrawallen vorgeworfen – sie hatten damals nach den Vornamen der mutmaßlichen Täter gefragt.

Mehrere SPD-Kreisverbände – unter ihnen der von Giffey – hatten sich deshalb gegen eine große Koalition ausgesprochen. Die Jungsozialisten kritisierten den Koalitionsvertrag als »ein schwarzes Korsett mit roten Schleifen« und forderten eine Fortsetzung des bisherigen Bündnisses mit Grünen und Linken. Dafür hatten sich in den vergangenen Tagen auch führende Politiker*innen von Grünen und Linken ausgesprochen. Eine weitere Koalitionsoption wäre aber auch Schwarz-Grün gewesen.

Rot-Rot-Grün hat also nicht sein sollen. Wie die Sozialdemokratie diese innerparteiliche Spaltung verarbeitet, bleibt abzuwarten. Wir gehen im folgenden Beitrag auf wichtige Aspekte des nun auch von einer SPD-Mehrheit abgesegneten Koalitionsvertrags ein.


Herausforderung Wohnungsnot

Wie in anderen deutschen Metropolen und in ihrem Umfeld hat sich in Berlin die Wohnungsnot extrem verstärkt, die Mieten sind für viele Bürger*innen unerschwinglich geworden, und bezahlbare Wohnungen kaum zu finden. Berlin kann einen traurigen Rekord beanspruchen. Innerhalb des letzten Jahres betrug der Anstieg bei Neuvermietung 20%! Diese Herausforderung für eine Politik auf Landes- und Stadtebene soll bei der Einschätzung des Entwurfs des Koalitionsprogramms im Vordergrund stehen, obwohl hier der Begriff Wohnungsnot nicht zu finden ist. Natürlich ist die Wohnungsnot nur ein Teil der sozialen und ökologischen Notlage, mit dem alle Landesregierungen konfrontiert sind, wie Inflation, besonders steigende Energiepreise, Folgen der Corona Epidemie, Kinder, die in Armut leben und durch den langen Schulausfall viele Nachteile hatten, Hilfe für die vom Krieg geflüchteten Ukrainer*innen und andere Flüchtende, Klimakrise.

Die Berliner Landesregierung wird nicht nur durch das soziale Menschenrecht auf Wohnen zum Handeln herausgefordert, sondern ist auch an Artikel 28 der Landesverfassung gebunden: »Jeder Mensch hat das Recht auf angemessenen Wohnraum. Das Land fördert die Schaffung und Erhaltung von angemessenem Wohnraum insbesondere für Menschen mit geringem Einkommen sowie die Bildung von Wohnungseigentum.« Um dieses Recht zu gewährleisten hat die bisherige, 2021 gewählte rot-grün-rote Regierung beachtenswerte Anstrengungen unternommen, etwa bei der Unterbringung von Flüchtlingen und Obdachlosen, bei der Fortführung von Bauprojekten und der Planung neuer Projekte.

Dies alles ist nachzulesen in dem rot-grün-roten Koalitionsvertrag von 2021, für dessen Umsetzung fünf Jahre vorgesehen waren. Gerade mal 18 Monate sind vergangen, und vieles wurde erst angefangen. So wartet eine wichtige Frage immer noch auf ihre Lösung: Was wird aus dem Volksentscheid für die Vergesellschaftung von Wohnungen, über die bisher große Immobilienkonzerne bestimmen? Grade dieses Projekt wäre ein mutiger Schritt hin zu »Mehr Demokratie wagen«. Wie geht das jetzt weiter?

Rekapitulieren wir: Wegen der Pannen bei der Wahl 2021 – Berlin- und Bundestagswahl, sowie Volksentscheid »Deutsche Wohnen &Co enteignen« – wurde nicht nur in den 10% der Wahlbüros neu gewählt, wo eben diese Pannen aufgetreten sind, sondern in allen Wahlbüros. Allerdings wurde nur die Wahl für das Berliner Landesparlament und die Bezirksversammlungen wiederholt, nicht für den Bundestag. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit dieser Wahl steht noch aus. Wieder einmal wurde wie bei dem Urteil gegen den Berliner Mietendeckel rot-grün-rote Politik ausgebremst. Jedenfalls hat die CDU mit ihrem Wahlerfolg von 28,2% von diesem Desaster profitiert, da die SPD und Grünen mit nur 50 Wählerstimmen Abstand jeweils 18,2% erreicht haben. DIE LINKE landete bei 12,2% und die FDP unter 5,0%, die AfD bei 9,1% Prozent. Durch die geringe Wahlbeteiligung von 63% geht der Sieg der CDU auf nur 17% der wahlberechtigten Berliner Bürger*innen zurück.


Top-down Politik der SPD

Im Sinne des letzten SPD-Landesparteitages hätte auch die bisherige Koalition fortgesetzt werden können, da sie eine deutliche Mehrheit der Abgeordneten im neugewählten Landesparlament hätte. Dennoch haben sich die bisherige Bürgermeisterin Franziska Giffey und der Landesvorstand der SPD für Koalitionsverhandlungen mit der CDU entschieden und Giffey erklärte ihren Verzicht auf das Bürgermeisteramt. Innerhalb von drei Wochen wurde ein neues Koalitionsprogramm verhandelt und am 3. April der Öffentlichkeit vorgestellt. Weiterhin wurde auch schon die Verteilung der Regierungsposten geklärt. Das Lockangebot an die SPD: Sie kann fünf Senator*innen bestimmen, die CDU auch fünf plus zwei, nämlich Bürgermeister und Stellvertreter.


»Für Berlin das Beste. Aufbruch, Erneuerung, Regierungsprogramm für alle. Sozial, innovativ, verlässlich, nachhaltig.«

Es wird niemand erstaunen, dass diese werbewirksame Überschrift gewählt wurde. Natürlich präsentiert sich die CDU zusammen mit der SPD als weltoffen und modern, auch wenn der nach dem Bürgermeisteramt strebende Wegener anlässlich der Silvesterkrawalle durch einen rassistischen Kommentar aufgefallen ist. Innovativ wird genannt, was schon im Koalitionsprogramm von Rot-Grün-Rot enthalten war (siehe die Äußerungen zu Gleichberechtigung, Antidiskriminierung und Diversity). Das wird übrigens von der Berliner FDP heftig kritisiert.

Am Anfang steht die Aussage, die soziale Spaltung der Stadt überwinden zu wollen. Immer wieder wird das gemeinsame »Wir« beschworen. So heißt es im Vorwort zum Aktionsfeld »Kieze und Metropole erhalten« in allerschönster Prosa: »Berlin wird seine einzigartige Mischung nur dann behalten, wenn das Miteinander über dem Gegeneinander steht und das Bewährte mit dem Neuen zusammengeführt wird.« (S. 5) Ein Entwurf der Phrasen!

Auffällig ist die veränderte Reihenfolge der Politikbereiche. Im jetzigen Entwurf wird nach der Präambel ausführlich die beabsichtigte Verwaltungsreform vorgestellt, anschließend folgen die Abschnitte Vielfalt, Sicherheit und Ordnung, Justiz und Bildung. Erst dann wird das heiße Eisen Wohnungspolitik angefasst, allerdings ohne von Wohnungsnot zu reden.

Im rot-grün-roten Koalitionsvertrag von 2021 war die Behebung der Wohnungsnot noch ganz vorne angesiedelt. Ging doch mit der damaligen Wahl der Volksentscheid einher, ob die großen Immobilienkonzerne vergesellschaftet werden. 59,2% der Wählenden hatten dafür gestimmt. Ein deutlicher Ausdruck für den Willen der Bevölkerung und ein eindeutiger Auftrag an die Politik. Nichtsdestoweniger äußerte Bürgermeisterin Giffey kurz vor der Wahl 2023 offen ihre Ablehnung, wofür sie jetzt mit der CDU den richtigen Partner gefunden hat. Immerhin hat die für die Umsetzung des Volksentscheids eingesetzte Kommission in ihrem Zwischenbericht die Legalität einer Vergesellschaftung gemäß Grundgesetz bestätigt, d.h. Überführung in Gemeineigentum für einen Preis, der unterhalb des Marktwertes liegen kann. Was die Kommission zu dem Preis aussagen wird, ist bisher noch nicht bekannt. Der Endbericht ist für Mai 2023 angekündigt.

Im Koalitionsvertrag steht zum Volksentscheid unter dem Teil »Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen«( S. 45–54-): »Unter der Voraussetzung, dass die vom Senat eingesetzte Expertenkommission zur Umsetzung des Volksentscheids ›Deutsche Wohnen &Co enteignen‹ eine verfassungskonforme Vergesellschaftungsempfehlung abgibt, verabschiedet die Koalition ein Vergesellschaftungsrahmengesetz, das einen Rechtsrahmen und objektive qualitative Indikatoren, bzw. Kriterien für eine Vergesellschaftung nach Art. 15 GG in den Geschäftsfeldern der Daseinsvorsorge (z.B. Wasser, Energie, Wohnen) sowie Grundsätze der jeweils erforderlichen angemessenen Entschädigung definiert. Hierbei wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt. Das Gesetz tritt zwei Jahre nach seiner Verkündigung in Kraft.« (S. 51)

Die Konsequenzen dürften klar sein. Die Legislaturperiode wird dann längst um sein, denn sie dauert nur bis 2026. Sieht so verlässlich aus? Die für den Volksentscheid gestimmt haben, fühlen sich mit Recht hingehalten und betrogen. Eine große Bewegung für eine andere gemeinnützige Wohnungspolitik wird blockiert. Sieht so Miteinander und Aufbruch aus?

Außerdem stellt sich die Frage, wie das im CDU/SPD Koalitionsvertrag enthaltene Ziel (siehe S. 51) durchgesetzt werden soll, durch eine »strategische Ankaufspolitik« perspektivisch 500.000 Wohnungen, bzw. einen Anteil von 50% der Berliner Mietwohnungen im gemeinwohlorientierten Segment zu erreichen (einschließlich Genossenschaftseigentum). Wenn sie damit die jetzige Wohnungsnot bekämpfen wollten, wäre die Umsetzung des Volksentscheids das passende Instrument, ungefähr 240.000 Wohnungen betreffend. Das Ergebnis wäre etwa eine Verdoppelung des gemeinwohlorientierten Sektors, so wie angeblich »perspektivisch« von CDU/SPD gewollt. Nötig ist es hier und heute, um bezahlbaren Wohnraum zu garantieren.


»Bisher Bewährtes mit dem Neuen zusammenführen«?

Gebaut werden sollen »bis zu 20 000 neue Wohnungen pro Jahr, davon bis zu 5.000 Sozialwohnungen« (S. 45). 20.000 neue Wohnungen jährlich zu bauen, war auch das Ziel der bisherigen Koalition, allerdings »möglichst die Hälfte davon in dieser Legislatur im gemeinwohlorientierten und bezahlbaren Segment zu errichten« (Koalitionsvertrag Rot-Grün-Rot von 2021, S. 12). Ist das Neue und innovative demnach: weniger bezahlbare Wohnungen? Wo bleibt die Erkenntnis, dass bauen, bauen, bauen nicht funktioniert und nicht die Lösung für alles ist, was sich während der Corona Krise und seit über einem Jahr wegen kriegsbedingter Engpässe hinsichtlich Baustoffe und Energie gezeigt hat?

Müssen wir nicht erst recht aus dieser krisengeschüttelten Zeit lernen, dass bezahlbare Mieten im Zentrum stehen müssen, wie auch eine mieterfreundliche Bewirtschaftung des bestehenden Wohnraums? Das betrifft das Vorgehen gegen Leerstand und Abriss, Ausbau des Mieterschutzes und der aktuell stark erodierenden Sozialbindung, Zeit- und Kosten sparende Projekte der Nachverdichtung von Wohnquartieren. Zur Nachverdichtung heißt es, dass laufende und geplante Projekte fertig gestellt werden, ebenso soll die bereits geplante Entwicklung neuer Stadtquartiere vorangetrieben und beschleunigt werden. Aha: »Bewährtes« wird von Rot-Grün-Rot übernommen. Um die Bauziele zu erreichen, wird ein »Schnelles-Bauen-Gesetz« sowie eine Überarbeitung der Bauordnung angekündigt. Wobei »schnell« als »auf drei Jahre« verkürzte Planungsphase definiert wird. Also nicht mehr in dieser Regierungsdauer erreichbar!

Sinnvoll ist das Vorhaben, das kommunale Vorkaufsrecht abzusichern, da es durch eine juristische Niederlage gestoppt wurde. Wie wir wissen, hat sich unter Rot-Grün-Rot die Methode bewährt, die Wohnungen von Mieter*innen durch das kommunale Vorkaufsrecht gegen die Umwandlung in Eigentumswohnungen zu schützen, bis ein Gericht wegen Verfahrensfehler ein Urteil dagegen beschlossen hat. Diese rechtliche Schwachstelle muss dringend nachgebessert werden. Sinnvoll ist auch, wie unter Rot-Grün-Rot eingeführt, landeseigene Grundstücke nicht für private Nutzung und Bauvorhaben zu verkaufen.

Zum Mieterschutz wird auf die bestehenden Gesetze hingewiesen, die bekanntermaßen sehr unzulänglich sind. Die Absicht ist: »Die kostenfreie Mieterberatung in den Bezirken werden wir verstetigen, stärker bewerben, bis 2025 evaluieren und gegebenenfalls bedarfsgerecht verstärken. Wir bekennen uns zur Fachstelle gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, evaluieren ihre Arbeit und entwickeln sie bedarfsgerecht weiter.« (S. 49) Außerdem soll eine »Prüfstelle zur Einhaltung der Mietpreisbremse« angestrebt werden.

Die Berliner Mietpreisbremse wird nicht weiter erläutert, vielleicht wegen dem ihr innewohnenden Konfliktpotenzial? Es gibt nämlich neben dem bundesweiten, viel kritisierten Mietpreisbremschen, eine spezielle Verordnung für Berlin, eine 2014 durch die damalige SPD/CDU Landesregierung verabschiedete Verordnung zur Mietenregulierung, die anlässlich einer Klage dagegen inzwischen vom Landesgericht bestätigt wurde. Danach dürfen Mieten bei Neuvermietung nicht mehr als maximal 10% über dem aktuellen Mietenspiegel liegen. Wenn alle vom Mietwucher betroffenen Mieter*innen das einfordern sollten, würde eine Welle von Gerichtsverfahren ausgelöst.

Natürlich ist ein Ausbau der kostenlosen Mieterberatung überfällig und war auch Teil des alten Koalitionsprogramms. Es kann aber nicht dabei bleiben, das Bestehende besser zu verwalten und Beratung auszubauen, statt die ausufernde Ausbeutung von Mieter*innen strikt zu verbieten. Dazu passt auch, dass die beabsichtigte CDU/SPD Koalition »bekennt«, zu dem Bündnis für Wohnungsbau und bezahlbares Wohnen zu stehen. Der Berliner Mieterverein hat dieses Bündnis inzwischen verlassen, weil es so wirkungslos ist.


Infragestellung des Volksentscheids zum Tempelhofer Feld

Die Ankündigung, am Tempelhofer Feld eine Randbebauung zu planen und mit der Bevölkerung neu abzustimmen, wird für diejenigen eine Provokation sein, die beim Volksentscheid 2018 mehrheitlich dafür gestimmt haben, dass hier eine Freifläche erhalten bleibt. Inzwischen wird das Tempelhofer Feld von den Bürger*innen, vielfach genutzt und hat durch seine Ausdehnung eine ökologisch wertvolle Funktion für die hochbelastete Stadtluft und das Stadtklima. Die drumherum liegenden, eng besiedelten Stadtteile Tempelhof, Kreuzberg und Neukölln haben so eine große grüne Erholungsoase wie auch das Tempelhofer Feld zahlreiche Besucher von überall her anlockt, als Ausflugsort, als Ort für Sport und kulturelle Zwecke, als Ort für ökologische Initiativen. Die riesigen Gebäude des Flughafens sind immer noch nicht völlig ausgelastet, unter anderem standen sie als Unterkunft für Flüchtlinge zur Verfügung, beherbergen Ausstellungen, ein Museum zur Geschichte des Flughafens, das städtische Fundbüro, usw.

Die Befürworter einer Bebauung des großen Feldes verweisen auf die Wohnungsnot und dass nur die Randflächen, etwa ein Drittel, als Bauland dienen soll. Das ist zwar ein wichtiger Aspekt, ermächtigt dennoch nicht dazu, den Volksentscheid zu missachten und voreilig umzusteuern. Gegen eine schnelle Bebauung spricht auch, dass die Fertigstellung der schon unter Rot-Grün-Rot angeschobenen großen Zahl von Bauprojekten bis hin zu neuen Stadtteilen wie auf dem Tegeler Flughafen Vorrang hat. Diese Bauprojekte wurden entweder schon begonnen oder sind im Bau bereits fortgeschritten.

Verschwunden ist im neuen Koalitionsvertrag das Wohnprojekt »Dragonerviertel« im vorderen Kreuzberg hinter dem dortigen bezirklichen Rathaus, das sich durch eine sehr aktive Bürger*innen Initiative ausgezeichnet hat und Hunderte von neuen Wohnungen vorsah. Die Planung war schon veröffentlicht, der Prozess der Bürgerbeteiligung in vollem Gange. Die Nicht-Erwähnung ist irritierend und erweckt Misstrauen, ob die angekündigte Einbeziehung der Bürger*innen gemäß »der Leipzig-Charta« glaubwürdig ist.


Nicht entmutigen lassen!

Alles was an Beteiligungsformen genannt wird (wie Austauschplattformen, Tisch Liegenschaftspolitik, Stadtforum), besteht schon eine Weile und die Akteur*innen für das Recht auf Stadt werden sich hoffentlich nicht entmutigen lassen. Das Wagnis von mehr Demokratie durch die Bürger*innen ist bei jeder Regierungskoalition unentbehrlich. Jedenfalls hat die Berliner Mieterbewegung durch den Volksentscheid Geschichte geschrieben, die nicht auf Berlin begrenzt ist. Das im Grundgesetz verankerte Prinzip, dass Eigentum verpflichtet und für das Gemeinwohl auch vergesellschaftet werden kann, wurde mit Leben erfüllt. Das Ja zu der Vergesellschaftung von Wohnungen von über einer Million Berliner Bürger*innen ist sozusagen eine Ermächtigung, das Leben in der Stadt nicht der Macht des großen Geldes auszuliefern. Dahinter steht sowohl der individuelle wie kollektive Anspruch, dass die Menschen sich ihre Lebensqualität, ihr Umfeld, nicht nehmen lassen wollen.

Diejenigen, die schon da leben müssen, wo die Mieten noch bezahlbar sind, in den Außenbezirken und großen Siedlungen, wie Gropiusstadt, Marzahn, Märkisches Viertel geben mit ihrem Wahlverhalten pro CDU und pro AFD zu verstehen, dass sie mit den aktuellen Zuständen unzufrieden sind. Dafür gibt es genug Gründe: verwahrloste Häuser und Wohnungen, trostlose Beton-Umgebungen, Isolation und Vereinsamung von Menschen, zu wenige soziale und kulturelle Angebote, mangelhafte Verkehrsanbindung, die Notlage an den Schulen, Gewalt im Stadtviertel, Arbeitslosigkeit, Existenzangst. Diese Notlagen brauchen Beachtung, nicht nur in der Analyse, sondern auch im politischen Handeln, das sich im tagtäglichen Erfahrungsbereich der Menschen niederschlägt. So gibt es viele Beschwerden darüber, dass die Berliner Verwaltung nicht funktioniert.


»Funktionierende Verwaltung«

Im Koalitionsvertragsentwurf der schwarz-roten Bündnispartner nimmt die im Wahlkampf häufig angemahnte Verwaltungsreform eine hervorgehobene Stellung ein. Insbesondere bei der FDP wurde im Verlauf des Wahlkampfs wiederholt auf die angeblich nicht funktionierende Berliner Verwaltung eingedroschen, und die Verantwortung dafür der (noch) regierendenden rot-grün-roter Koalition zugeschoben. In der Öffentlichkeit war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, die mangelnde Kooperation zwischen den Bezirken und dem Senat, die dazu führte, dass es in ca. 10% der Wahllokale in Berlin Unstimmigkeiten bei der 2021er Wahl gegeben hat. Mit Recht wird auch darauf hingewiesen, dass auch die angestrebte Digitalisierung der Berliner Verwaltung eher schleppend vorangeht. Insbesondere für Menschen, die nicht »digital natives« sind, ist es oft schwierig, sich durch die verschiedenen Menues und Optionen im Internet zu kämpfen. Die Probleme in der Berliner Verwaltung liegen jedoch nicht nur bei der schleppenden Digitalisierung und der unzureichenden Kommunikation zwischen den Bezirken und den zentralen Verwaltungen. Sie liegen deutlich tiefer und können erst recht nicht der rot-grün-roten Koalition angelastet werden.

In Berlin ist der Optimierungsbedarf in Sachen Verwaltung seit Jahren offensichtlich und der Schlachtruf »Verwaltungsreform« ist auch nicht neu. Eine tiefergreifende Verwaltungsreform wurde Mitte der 1990er Jahre insbesondere in den Bezirken mit großem Aufwand und erheblicher externer Beratung vorgenommen. Schlagwörter aus diesem Versuch einer Verwaltungsreform lassen sich auch – über 20 Jahre später – im vorliegenden Vertragsentwurf wiederfinden, z.B. Job Rotation, Mitarbeiter-Vorgesetzen-Gespräche, Zielvereinbarungen, usw. Unklar ist, ob sie diesmal erfolgreicher umgesetzt werden können. Insbesondere die Bezirke litten damals unter eine größtenteils unsachgemäße Kosten- und Leistungsrechnung, die als einziges aus dem damaligen Reformprozess von Dauer war und nur ein Ziel hatte: »Produktkosten« zu senken, als ob die Verwaltung ein Unternehmen wäre. Dadurch, dass die Beschäftigten und ihre Vertretungen bei der damaligen Reform nicht ausreichend mitgenommen wurden, konnte die Verwaltungsreform durch eine mangelnde Unterstützung auf den mittleren und oberen Managementebenen verhindert werden.

Neben den Schnittstellen zwischen den Bezirken und den zentralen Verwaltungen ist das gegenwärtig vorherrschende Zuständigkeitsprinzip ein großes Problem in der Berliner Verwaltung. Der im Vertragsentwurf angestrebte »Kulturwandel« hin zu einem »ressort- und ebenen-übergreifenden Arbeiten«, wofür die Führungskräfte in die Verantwortung genommen werden sollen, steht im starken Kontrast zur überwiegenden Wirklichkeit in der realexistierenden Berliner Verwaltung, wo jede/r versucht sich möglichst auf das eigene eng definierte Zuständigkeitsgebiet zu beschränken. Dies führt dazu, dass Bürger*innen, deren Angelegenheiten etwas komplizierter sind, zwischen Stellen hin und her geschickt werden, die sich nicht für das Anliegen zuständig sehen. In den Bereichen, wo Kosten- und Leistungsrechnung (die nach Meinung der Koalitionäre beibehalten werden soll), ist Kooperation mit anderen Dienststellen konterproduktiv.

Bedenklich ist in jedem Fall der Hinweis, dass die Koalitionäre »die Aufgabenbereiche der Berliner (und bezirklicher?) Verwaltung auf Doppelzuständigkeiten prüfen und gegebenenfalls freiwerdende Kapazitäten effektiver einsetzen« werden. Hier wird u.U. außer Acht gelassen, dass Berlin sowohl eine fast Vier-Millionen-Stadt als auch ein Stadtstaat ist, der aus 12 mittleren Großstädten besteht. Hierdurch sind in vielen Bereichen doppelte Zuständigkeiten sachgerecht und sinnvoll, z.B. Gesundheitsberichterstattung und Gesundheitsförderung. In vielen Bereichen sind auch die Bezirke bereits zu groß, um ein sinnvolles und bürgernahes Verwaltungshandeln zu gewährleisten. Wie in vielen anderen Bereichen soll auch hier eine »belastbare und langfristige Personalplanung« erst am Ende der Legislaturperiode vorliegen. Was wollen sie bis dahin machen?

Auffällig im Entwurf des Koalitionsvertrags ist die Tatsache, dass das Kapitel zur Verwaltungsreform mit sehr vielen Buzz-Wörtern gespickt ist, die für normale Leser*innen – auch welche mit guten Verwaltungskenntnissen – ohne Lexikon meist nicht nachvollziehbar sind, aber immer »modern« bzw. »topaktuell« klingen (New Work, One Device Strategie, Diversity Check, One-in-One-out-Verfahren, Open by default, Datenschutzcockpit, Multi-Cloud-Strategie usw.).

Ansonsten zeichnet sich der Text durch das aus, was nicht an- bzw. ausgesprochen wird. Nicht angesprochen wird das Prinzip eines politischen Bezirksamtes, das die Bildung einer bezirklichen Regierung durch eine Koalition von Parteien vorsieht, die die Ressorts unter sich aufteilen, wie auf der Landes- oder Bundesebene üblich. Stattdessen wird daran festgehalten, dass jede Partei, die einen bestimmten Stimmenanteil erhält, Anspruch auf einen Stadtratsposten hat, so dass Resorts weiterhin von Parteien geführt werden können, die sich gegenseitig blockieren. Die Angst der ehemaligen Volksparteien davor, ihre Macht in den Bezirken zu verlieren, ist immer noch sehr groß. Die Idee wurde auch bereits in den 1990er-Jahren von CDU und SPD torpediert.

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