16. Juni 2023 Joachim Bischoff/Bernhard Müller: Größte Krise seit Gründung der UNHCR
»Meilenstein in der weltweiten Fluchtbewegung«
Der UNO-Hochkommissar Filippo Grandi erklärte, die aktuellen Zahlen zur Fluchtbewegung seien verheerend. »Es ist ein Armutszeugnis für den Zustand unserer Welt.« Es gebe immer mehr Krisen, aber kaum Lösungen. Nötig seien mehr Anstrengungen, um Fluchtursachen zu bekämpfen und Flüchtenden beizustehen.
Die Zahl der Menschen, die auf der Flucht vor Verfolgung, Gewalt und Krieg sind, hat laut den Vereinten Nationen einen neuen Höchststand erreicht. Der jährliche Bericht »Global Trends« des UNHCR, betrachtet die Flüchtlingslage jeweils im vorangegangenen Jahr. Demnach zählte das UNHCR Ende 2022 insgesamt 108,4 Mio. Geflüchtete. Im Mai dieses Jahres seien es schätzungsweise rund 110 Mio. gewesen, wie das UNO-Flüchtlingshilfswerk mitteilte.
Auf der Suche nach Schutz überquerten 2022 laut UNHCR etwa 35,3 Mio. Menschen eine internationale Grenze. Gut 62,5 Mio. Menschen suchten dem Hilfswerk zufolge innerhalb ihrer Heimatländer Schutzzonen, sind mithin Binnenflüchtlinge.
Kriege, Konflikte und Krisen verschärfen die Flüchtlingskrise weltweit. Mit erstmals mehr als 100 Mio. Menschen sind so viele auf der Flucht wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Die UN-Organisation spricht in ihrem Flüchtlingsbericht von einem »dramatischen Meilenstein«, der nicht zuletzt durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sowie die schwierige Lage in Afghanistan und anderen Ländern erreicht worden sei.
Die Vertreibung aus der Ukraine sei die am schnellsten wachsende derartige Krise seit Gründung des UNHCR 1951. Innerhalb von Wochen seien Ukrainer*innen zur zweitgrößten Flüchtlingsgruppe der Welt geworden, nach den Syrer*innen. 4,9 Mio. Menschen flüchteten bisher aus der Ukraine, aus Syrien waren es fast sieben Mio.
Die Zahl der weltweit Vertriebenen hat sich in den letzten zehn Jahren verdreifacht
Fast 20 Millionen mehr Flüchtlinge als im Vorjahr – laut dem Bericht des Uno-Flüchtlingshilfswerks ist die Zahl der Menschen auf der Flucht im vergangenen Jahr so stark gestiegen wie nie zuvor. Im Zehn-Jahres-Vergleich hat sich die Zahl der Vertriebenen, zu denen das UNHCR Flüchtlinge, Asylsuchende und intern Vertriebene zählt, sogar rund verdreifacht. Seit 2011 ist sie in jedem Jahr angestiegen. Haupttreiber des Anstiegs war im vergangenen Jahr der Ukraine-Krieg. In dessen Folge schwoll die Zahl der ukrainischen Flüchtlinge innerhalb weniger Monate auf knapp sechs Mio. an. Laut UNHCR haben seit dem Zweiten Weltkrieg nie so viele Menschen in so kurzer Zeit ihr Land verlassen müssen.
In den ersten fünf Monaten des laufenden Jahres ist die Zahl der Vertriebenen weiter angestiegen. Sie habe die Marke von 110 Mio. wohl bereits überschritten, hält das UNHCR fest. Allein im Sudan und in Somalia sind laut den Angaben in den vergangenen Monaten jeweils mehr als eine Mio. Menschen vertrieben worden.
Der 15. jährliche Anstieg in Folge
Ende 2021 sei bereits eine Rekordzahl von Menschen auf der Flucht erfasst worden: 89,3 Mio., 8% mehr als ein Jahr zuvor, berichtete das UNHCR. Es war der 15. jährliche Anstieg in Folge. Insgesamt waren mehr als doppelt so viele Menschen auf der Flucht wie vor zehn Jahren. Rund 60% der Vertriebenen fanden Zuflucht innerhalb der Grenzen des eigenen Landes.
Die Ukraine-Krise habe gezeigt, dass mit politischem Willen viele Menschen aufgenommen werden könnten. Regierungen müssten etwas dagegen tun, wenn Flüchtlinge als Menschen dargestellt werden, die der Bevölkerung nur Arbeitsplätze wegnehmen.
Steigende Lebensmittelpreise dürften Situation verschärfen
Deutschland war mit 1,3 Mio. Personen, die aufgenommen wurden, hinter der Türkei, Kolumbien, Uganda und Pakistan das größte Gastgeberland.. Abgesehen von den Nachbarländern Syriens ist Deutschland mit 621.000 Flüchtlingen das größte Aufnahmeland für Syrer*innen. Insgesamt hätten 87% aller Flüchtlinge weltweit in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen Zuflucht gefunden.
Die Krisen werden nach Angaben von Grandi immer vertrackter. Konflikte würden durch wachsende Ungleichheit geschürt. Schlechte Regierungsführung verhindere vielerorts Entwicklung. Der Klimawandel verschärfe etwa den Kampf um Ressourcen, zum Beispiel in der Sahel-Zone in Afrika, was schwelende ethnische Konflikte anheize.
Die explodierenden Lebensmittelpreise dürften noch mehr Menschen in die Flucht treiben, sagte er. Schon jetzt seien mit den Flüchtlingen, die in ihrer Heimat bedroht und nach dem humanitären Völkerrecht schutzbedürftig seien, immer mehr auch andere Migrant*innen unterwegs. Viele machten sich aus Perspektivlosigkeit und Verzweiflung, weil sie ihre Familien nicht mehr ernähren können, auf die Suche nach einem besseren Leben.
EU-Asylkompromiss
In dieser zugespitzten Situation wollen die EU-Staaten sich stärker gegen die Flucht- und Migrationsbewegung abschotten. Die EU-Innenminister haben sich auf eine grundlegende »Reform« des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) verständigt. Die entsprechenden Pläne dafür hatte die EU-Kommission vorgelegt. Sie haben sich auf eine Verschärfung des europäischen Asylverfahrens geeinigt.
Migration ist in allen Mitgliedsstaaten ein drückendes und umstrittenes Problem. In Deutschland klagen die Kommunen, dass sie an ihre Grenzen stoßen, in Brüssel schlafen Asylsuchende auf der Straße, weil es nicht genug Unterkünfte gibt, und Italien hat Mitte April den Notstand ausgerufen, weil in diesem Jahr mehr Migrant*innen ankamen als im Vorjahr. Daher haben die EU-Innenminister*innen jetzt u.a. einen restriktiveren Umgang mit Migrant*innen ohne Bleibeperspektive vorgeschlagen.
Durch die »Reform« des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) soll es erstmals möglich werden, Asylverfahren bereits an den EU-Außengrenzen durchzuführen. Dazu sollen Asylzentren in Grenznähe entstehen, in denen die Identität von Schutzsuchenden überprüft wird. Mit diesem sogenannten Screening soll erreicht werden, dass Migrant*innen mit geringen Aufnahmechancen erst gar nicht in die EU gelangen. Gleichzeitig sollen die Kriterien für sogenannte sichere Drittstaaten geändert und deutlich ausgeweitet werden. Damit gibt es deutlich mehr Länder, die als sicher eingestuft werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen auf der Flucht durch einen solchen Staat gekommen sind, ist groß.
Zunächst soll dieses Außengrenzverfahren nur bei Menschen aus Ländern angewendet werden, die im EU-Schnitt eine Anerkennungsquote von unter 20% haben. Das trifft etwa auf Migrant*innen aus der Türkei, Indien, Tunesien, Serbien oder Albanien zu. Ihr Asylantrag soll in den Zentren geprüft werden. Bis zu zwölf Wochen sollen sie dafür dort unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden können. Bei wem festgestellt wird, dass keine Aussicht auf Asyl besteht, soll umgehend zurückgeschickt werden.
Der Mehrheit der Flüchtlinge, die versuchen nach Europa zu gelangen, etwa aus Syrien, Afghanistan oder dem Sudan, soll weiter das Recht auf ein normales Verfahren in einem EU-Land gewährt werden. Außerdem soll bei den Asylverfahren an der EU-Außengrenze eine Drittstaatenregelung greifen. Das heißt, wer über einen sogenannten sicheren Drittstaat an die EU-Grenze gereist ist, kann sein Recht auf Asyl wegen politischer Verfolgung mit großer Wahrscheinlichkeit nicht geltend machen.
Abschiebungen
Italien, Griechenland und Österreich setzten sich mit der Forderung durch, abgelehnte Migrant*innen künftig grundsätzlich auch in sogenannte sichere Drittstaaten abschieben zu können. Dazu zählen Länder wie etwa Tunesien oder Albanien. Geplant sind in diesem Zusammenhang weitreichende Kooperationsprojekte mit Nicht-EU-Ländern.
Einzige Voraussetzung für eine Abschiebung in sogenannte sichere Drittstaaten soll sein, dass die Menschen eine Verbindung zu diesem Land haben. Wie diese aussehen muss, soll im Ermessen der EU-Mitgliedstaaten liegen, die für das jeweilige Asylverfahren zuständig sind. Diese Bestimmung würde es beispielsweise Italien ermöglichen, über das Mittelmeer kommende Migrant*innen etwa nach Tunesien zurückschicken, wenn sich die Regierung in Tunis damit einverstanden erklärt.
Ein weiterer Punkt der »Reform« ist die Verteilung von Geflüchteten innerhalb der EU. Die EU-Binnenländer sollen künftig freiwillig, aber verbindlich, im Rahmen eines »Solidaritätsmechanismus« die Aufnahme von Migrant*innen zusagen. Anhand einer Quote soll eine bestimmte Zahl von Schutzsuchenden festgelegt werden. Staaten, die keine oder weniger geflüchtete Menschen aufnehmen, sollen entweder Sachleistungen erbringen – etwa Hilfe im Verfahren – oder Geld zahlen. Die Kommission hatte ursprünglich 22.000 Euro pro nicht aufgenommenen Geflüchteten vorgeschlagen, in Luxemburg einigte man sich auf 20.000 Euro.
Einen verpflichtenden Mechanismus zur Verteilung von Geflüchteten soll es nur im Krisenfall geben, denn in Brüssel hat man im Zuge der Flüchtlingsbewegung 2015 schlechte Erfahrungen mit Quoten gemacht. Damals hatten die Mitgliedsstaaten beschlossen, bis zu 160.000 Asylbewerber*innen innerhalb der EU zu verteilen. Damit sollten Griechenland und Italien entlastet werden. Ungarn, Tschechien und Polen weigerten sich jedoch, Schutzsuchende aufzunehmen. Sie werden absehbar bei ihrer Blockade bleiben.
Kritik
Pro Asyl spricht in Bezug auf die geplante »Reform« von einem »Frontalangriff auf das Asylrecht«. Auch die Position der Bundesregierung sei ein »historischen Fehler«. Die Ampel-Koalition nehme in Kauf, dass Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ausverkauft würden. Und: Das neue EU-Asylrecht werde nichts an den derzeit katastrophalen Zuständen ändern, die Abschiebung in sichere Drittstaaten werde nicht durchgesetzt werden können, auch wenn die EU-Staaten finanzielle Anreize anbieten. Faktisch handele es sich um die »schärfsten Asylreformen seit Jahrzehnten« mit dem Ziel der Beschränkung des Asyl-Rechts.
Der Generalsekretär von Amnesty International Deutschland, Markus N. Beeko, kritisierte, die Verschärfungen seien ein Freibrief für Menschenrechtsverletzungen. Es sei eine Einigung auf Kosten der Menschenrechte und der Menschen, die weltweit am meisten Schutz benötigten. »Amnesty International ist fassungslos, wie die Bundesregierung die gestrige Einigung als ›politischen Durchbruch‹ feiern kann.« Es sei »kein Durchbruch, sondern ein menschenrechtlicher Tabubruch, eine Missachtung des verfassungsmäßigen Auftrags und ein gebrochenes Versprechen des eigenen Koalitionsvertrages«. Auch aus der grünen Partei gibt es ablehnende Bewertungen: Die EU-Vereinbarung könne zentrale Anforderungen nicht erfüllen, die man an eine Asylpolitik der Humanität und Ordnung stelle. Man werde sich im Dialog zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission für Verbesserungen einsetzen.
Die Parteiführung der Grünen war von Beginn der Verhandlungen an gespalten in Bezug auf die Asyl-»Reform« der EU. In der Parteiführung stimmten die vier Realos Omid Nouripour, Britta Haßelmann, Annalena Baerbock und Robert Habeck für den EU-Kompromiss, Ricarda Lang und Katharina Dröge vom linken Parteiflügel dagegen. Innerhalb der grünen Partei ist der Streit zwischen den Partei-Lagern seitdem in vollem Gange.
Es gibt zudem eine ganze Reihe von Kritikpunkten an der vorgesehenen Entscheidungssituation an den EU-Grenzen, vor allem an der faktischen Haft während des Asylverfahrens. Kritiker*innen erinnert dies an Zustände von Rechtlosigkeit wie in dem griechischen Flüchtlingslager Moria. Der Sinn dieser Grenzverfahren ist es, Menschen abzuschieben. Die Abschiebungen finden unter haftähnlichen Bedingungen statt, weil Asylsuchende als »nicht eingereist« gelten. Denn die Mitgliedstaaten sollen selbst für die Einhaltung der Verfahrensstandards zuständig sein. Befürchtet wird zudem, dass es keinen regulären Rechtsschutz geben wird, weil es an der EU-Außengrenze an spezialisierten Anwält*innen fehlt. Auch dies sind Erfahrungen von den griechischen Inseln.
Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann macht den innenpolitischen Sprengstoff sichtbar: Er warnt davor, dass Deutschland mit seiner liberalen Migrationspolitik in Europa bald alleine dastehen könnte. Darum begrüßt er den Asylkompromiss der EU. Der Krieg in der Ukraine, Verunsicherung wegen des Heizungsgesetzes, Fachkräftemangel, Inflation: Deutschland erlebe gerade einen »Schub an Multikrisen, der Ängste produziert«, argumentiert Kretschmann. Und das stärke auch die AfD: »Die AfD versammelt die Berufspessimisten und Unzufriedenen hinter sich. Aber vor allem kanalisiert sie die Ängste«, so der Grünen-Politiker.
Die Politik müsse als Reaktion darauf »die Dinge so ansprechen, wie sie sind, aber auch nicht übertreiben«. Als Beispiel fügte Kretschmann an: »Wir müssen nicht Angst haben, dass alles aus dem Ruder läuft. Aber dass wir materiell mit Wohlstandseinbußen rechnen müssen, ist auch klar.«
Angesichts dieser auseinanderlaufenden Positionsbestimmungen in den Parteien der Ampel-Koalition ist keine überzeugende, einheitliche Argumentation gegenüber den rechten Populist*innen zu erwarten.
Die AfD bestreitet die grundsätzliche Kritik an der Beschränkung des Asyl-Rechts: An dem vorgesehenen Grenzverfahren und den Abschiebungen sei nichts Menschenverachtendes, »was sie aber auch nicht weniger falsch macht. Denn zu kritisieren ist vielmehr, dass dieser Kompromiss eben kein ›sehr guter Anfang‹ ist, sondern im Endeffekt wirkungslos bleiben und die Probleme schlichtweg nicht lösen wird. Denn selbst nach der Verteilung innerhalb der EU werden vermeintliche Flüchtlinge weiter nach Deutschland kommen. Dies kann nur verhindert werden, indem unser Land die Strukturen für einen effektiven Grenzschutz schafft und die sozialen Anreize für Migration verringert, wie etwa Geld- durch Sachleistungen zu ersetzen. Aber diese Politik wird es nur mit der AfD geben.«
Zu befürchten ist, dass gegenüber diesem rigorosen rechten Populismus die Parteien des demokratischen Spektrums nicht aus ihrer Defensive herauskommen werden.