24. Februar 2023 Otto König/Richard Detje: Münchner Sicherheitskonferenz – der Westen gegen den Süden
Militärische Stärke statt Dialog
Die 59. Munich Security Conference (Siko) hatte ein überragendes Thema: den Ukraine-Krieg. Einig wie selten warben die versammelten westlichen Politiker*innen, Militärs, und Rüstungslobbyist*innen – darunter etwa 40 Staats- und Regierungschefs und über 80 Außen- und Verteidigungsminister – für das Ziel: Die Ukraine muss militärisch so lange wie nötig unterstützt werden. Sie müsse den vom russischen Präsidenten Wladimir Putin angezettelten Angriffskrieg gewinnen.
Damit verpasste die Münchener Sicherheitskonferenz die Chance, sich als ein international führendes Forum für Debatten über Sicherheitsfragen in der Welt zu erweisen. Stattdessen kehrte sie inhaltlich zu ihren Ursprüngen zurück – zu jener Zeit im Kalten Krieg, als sie noch »Wehrkundetagung« hieß und vorrangig der militärischen und rüstungsindustriellen Abstimmung innerhalb der NATO-Bündnisstaaten diente. So ging es in München in erster Linie um die Zurschaustellung militärischer Stärke statt um Dialog.
Waffen, Waffen, Waffen: Dies war die Botschaft der Vertreter*innen des militärischen-industriellen Komplexes in der bayerischen Landeshauptstadt. Schon heute hat die Unterstützung der USA für die Ukraine Schätzungen zufolge die Marke von 50 Milliarden US-Dollar überschritten.[1] Ukrainische Politiker wie Vizeministerpräsident Olexander Kubrakow nutzten die öffentliche Bühne und forderten Streumunition und Phosphorbrandbomben, um sie gegen die russischen Streitkräfte einsetzen zu können.
Für die Lieferung von Kampfjets sprach sich der Chef der Siko, Christoph Heusgen, vormals langjähriger außen- und sicherheitspolitischen Berater (2005–2017) von Bundeskanzlerin Angela Merkel, aus: »Ich glaube, dass die Lieferung von Kampfjets adäquat ist, um die Ukraine besser zu schützen gegen die Angriffe der Russen«, sagte er im ARD-Europamagazin. In Frage kämen hierfür unter anderem F16-Kampfjets – deren Hersteller, der US-Konzern Lockheed Martin, steht auf der Sponsorenliste der Siko, neben anderen Rüstungs- und Technologiefirmen wie Airbus, MBDA und Rheinmetall, u.a. auch zur »Deputinisierung« Russlands (RND, 16.2.2023).
Deutlich wurde, dass das Narrativ des Westens, von der russischen Aggression sei die gesamte Welt betroffen, nur in der eigenen Politik-Blase zwischen Washington, London, Paris und Berlin verfängt. Dagegen ist in vielen Teilen der Welt die Rollenverteilung von Opfer und Täter, Gut und Böse nicht so klar. So zeichnete der höchste außenpolitische Vertreter der Kommunistischen Partei Chinas, Wang Yi, in seiner Rede ein ganz anderes Bild, und zwar das von einer Konfrontation zwischen Russland und dem Westen. Es würden exklusive Blöcke gebildet. Das erzeuge »Spannungen, die strategisches Vertrauen untergraben und die Gefahr einer Eskalation erhöhen.« Wang Yi kündigte an, dass China sich mit einer neuen Initiative für ein Ende des Ukraine-Krieges einsetzen werde. »Grundlage einer auf Frieden orientierten Politik müsse die Wahrung der Souveränität wie auch der territorialen Integrität jedes Landes sein«, sagte Wang, der dies freilich erkennbar nicht bloß auf den russischen Überfall auf die Ukraine anwenden wollte, sondern beispielsweise auch auf die andauernde Einmischung des Westens in die inneren Angelegenheiten fremder Länder.
Mit seiner Ankündigung einer Initiative zur Beendigung des Ukraine-Kriegs stieß China umgehend auf Kritik im Westen, hingegen auf breite Zustimmung im Globalen Süden. Erst jüngst hatte Brasiliens Präsident Lula da Silva mitgeteilt, er setze sich für Vermittlungsbemühungen zur Einstellung der Kampfhandlungen ein. Konkret schlug Lula die Gründung eines »Friedensklubs« (»clube da paz«) vor. Dabei müsse es sich um einen Zusammenschluss von Staaten handeln, die keiner der beiden Kriegsparteien unmittelbar verbunden sind und die ein baldiges Ende des Ukraine-Krieges herbeiführen wollen.[2]
Ende Januar publizierte die Observer Research Foundation, eine einflussreiche Denkfabrik mit Hauptsitz in New Delhi, eine Studie über Möglichkeiten, den Krieg auf dem Verhandlungsweg zu beenden. Die globale Debatte müsse »von Kriegsstrategien zu Mustern für Frieden wechseln«, heißt es in dem Papier – alles andere sei »viel zu gefährlich für die Welt«.
Auf der Siko distanzierte sich die kolumbianische Vizepräsidentin Francia Márquez vom allgemeinen Tenor einer andauernden Militarisierung des Ukraine-Kriegs und forderte einen entmilitarisierten Ansatz in Sicherheitsfragen. Márquez sagte in einer Podiumsdiskussion über die »Verteidigung der UN-Charta und der regelbasierten internationalen Ordnung«: »Es ist nicht gut, weiter darüber zu streiten, wer in einem Krieg verliert, und wer gewinnt. Wir haben alle verloren, und wer in einem Krieg verliert, ist die Menschheit.« Márquez rief zu »einer neuen Weltordnung« auf, »die das Leben in den Mittelpunkt stellt und nicht die Militarisierung« (Amerika 21, 21.2.2023).
Im Vorfeld der Siko stellten deren Organisatoren in ihrem »Munich Security Report«[3] selbstkritisch fest: »Kein einziger Staat Afrikas oder Lateinamerikas ist Teil der lockeren Koalition, die Sanktionen gegen Russland verhängt hat.« Auch in Asien beteiligen sich nur drei Staaten plus Taiwan an der Sanktionspolitik – und damit am Bestreben, die alte, vom Westen dominierte Weltordnung zu stabilisieren. »Die unmittelbare Reaktion des Westens auf den Krieg in der Ukraine war sicherlich nicht hilfreich«, heißt es im Report. »Anstatt die Länder bei der Bewältigung der steigenden Lebensmittel- und Energiepreise zu unterstützen, tadelte der Westen sie dafür, dass sie nicht genug Solidarität mit Kiew zeigten.« Wolle man ernste Rückschläge im globalen Machtkampf gegen Russland und China langfristig vermeiden, so die Autoren, müsse man wenigstens einige der Länder im Globalen Süden zurückgewinnen.
Davon, geschweige denn vom so gern proklamierten »Dialog auf Augenhöhe«, war auf der Siko jedoch nichts zu spüren. Stattdessen drohten die G7 in Kolonialherrenmanier allen Staaten, die ihren Russland-Sanktionen zuwiderhandeln, mit »hohen Kosten«. Doch eine solche Politik verstärkt nur die Ablehnung der Staaten, die die westliche Dominanz abschütteln wollen und die vom Westen gepriesene »regelbasierte« Ordnung als »postkoloniale Dominanz« einstufen, die auf ein »Erhalten der globalen Führungsrolle der USA in der Welt« hinauslaufe.
In München kristallisierte sich heraus: Während Staaten des Globalen Südens zwischen Moskau und Kiew zu vermitteln versuchen und dazu Initiativen gestartet haben, lässt die Bundesregierung bislang kein Interesse an einer Verhandlungslösung erkennen. »Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen«, schwadronierte Verteidigungsminister Boris Pistorius. Berlin stellt sich damit nicht nur einer raschen Beendigung des Ukraine-Kriegs entgegen; es positioniert sich zugleich offen gegen den Globalen Süden.
Währenddessen mehren sich in Deutschland Stimmen, die eine Verhandlungslösung der Entscheidung auf dem Schlachtfeld vorziehen – u.a. versammelt im »Manifest des Friedens«, angeführt von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer. Der Aufruf »für umgehende Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine sowie gegen weitere Waffenlieferung ins Kriegsgebiet« wurde inzwischen von über 600.000 Menschen unterzeichnet. »Es ist zu befürchten, dass Putin spätestens bei einem Angriff auf die Krim zu einem maximalen Gegenschlag ausholt«, heißt es in dem Manifest. »Geraten wir dann unaufhaltsam auf eine Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg? Es wäre nicht der erste große Krieg, der so begonnen hat. Aber es wäre vielleicht der Letzte. Die Ukraine kann zwar – unterstützt durch den Westen – einzelne Schlachten gewinnen. Aber sie kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen. Das sagt auch der höchste Militär der USA, General Milley. Er spricht von einer Pattsituation, in der keine Seite militärisch siegen und der Krieg nur am Verhandlungstisch beendet werden kann. Warum dann nicht jetzt? Sofort! Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten. Mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern.«
Jürgen Habermas hat in einem Essay in der Süddeutschen Zeitung (15.2.2023) für Verhandlungen im Ukraine-Krieg geworben. Dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren dürfe, bedeute nicht, dem litauischen Außenminister zu folgen, der geäußert hatte: »Wir müssen die Angst davor überwinden, Russland besiegen zu wollen.« Was das Gerede vom langen Stellungskrieg bedeutet, macht Habermas mit Verweis auf Verdun 1916 klar: »die Auslöschung eines zivilisierten Lebens«. Und damit das Ende jener regelbasierten internationalen Ordnung, die einst als Schlussfolgerung aus zwei vernichtenden Weltkriegen gezogen und mit der Charta der Vereinten Nationen und dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag tatsächlich das Völkerrecht »revolutioniert« hatte.
Habermas warnt eindringlich davor, dass ein langer Krieg »uns am Ende vor eine ausweglose Wahl stellt: entweder aktiv in den Krieg einzugreifen oder, um nicht den ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen, die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen«. Nicht Aufrufe, zügig zu Verhandlungen zu kommen, sind naiv, sondern jene Vorstellungen, so etwas wie einen Siegfrieden erringen zu können.
[1] Die Bundesrepublik hat nach Angaben von Bundeskanzler Olaf Scholz bisher zwölf Milliarden Euro an Unterstützung geleistet.
[2] Otto König/Richard Detje: Lateinamerika und der Ukraine-Krieg. »Wir sind kein Land des Krieges«, Sozialismus.deAktuell 21.2.2023.
[3] Re:vision – Munich Security Report 2023, Februar 2023.