19. August 2019 Joachim Bischoff/Hinrich Kuhls: Opposition gegen die rechtspopulistische Zerstörung der EU
Misstrauensantrag gegen Johnson statt Chaos-Brexit
Der neue britische Premierminister Boris Johnson setzt seinen Konfrontationskurs gegen die Europäische Union fort. Seine Vorbedingung für Gespräche ist die Nichtigerklärung des Nordirland-Protokolls im Brexit-Abkommen, dessen Ratifizierung an den Rechtspopulisten und Nationalisten in der Konservativen Partei gescheitert ist.
Seinen Kurs der verweigerten Kommunikation wird Johnson nicht durchhalten können. Dem G7-Gipfel in Biarritz von 24. bis 26.8. werden erste Gespräche mit Merkel, Macron, Tusk und dem irischen Ministerpräsidenten Varadkar vorangehen. Zuvor hatte die neue britische Regierung Gespräche mit John Bolton, dem Sicherheitsberater des US-Präsidenten, geführt.
Übereinstimmung wurde erzielt in industriepolitischen Fragen (Huawai) und in geopolitischen Zielsetzungen (Iran-Hormuz-Krise). In beiden Fällen erfolgte eine Revision der Festlegungen der Regierung May. Bolton stellte zudem für den Fall eines ungeordneten Brexits den schnellen Abschluss von Handelsabkommen zwischen beiden Ländern in Aussicht. Es geht dabei nicht um ein umfassendes Handelsabkommen, sondern um sektorale Vereinbarungen, mit deren Durchsetzung zugleich das WTO-Regelwerk zerlöchert werden soll, ein strategisches Ziel der amerikanischen Administration.
Der Europäische Rat erleichtert mit seinem Beharren, erst den Brexit-Austritt abschließend vertraglich zu regeln, um dann in Vertragshandlungen für eine künftige Kooperation einzutreten, das Agieren der Regierung Johnson, die die Verantwortung für einen ungeordneten Brexit den Staats- und Regierungschefs der EU27 in die Schuhe schieben will. Zugleich nähren sie aber auch die rechtspopulistischen und nationalistischen Tendenzen im UK. Solange sie die Vorschläge der britischen Opposition nicht öffentlich diskutieren und bewerten und so einen anderen Weg für die Ratifizierung eines Abkommens öffnen oder eine rationale Begründung für die Rücknahme des Austrittsantrags unterstützen, schwächen sie die innerbritische Opposition und stärken die Rechtstendenzen in der EU.
Johnson hat sein Kabinett überwiegend mit Brexit-Hardlinern besetzt. Während des Kampfs um die Führung der Konservativen Partei hat Johnson u.a. Steuersenkungen für Besserverdienende versprochen sowie eine Erhöhung des Mindesteinkommens, ab dem Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden müssen. Hinzu kommen höhere Ausgaben für Polizei, Bildung, Gesundheit und Infrastruktur. Den Gesamtumfang schätzen Experten auf 20 Mrd. Pfund (25 Mrd. Euro) oder 0,9% des Bruttoinlandprodukts (BIP). Finanziert werden soll alles durch höhere Neuverschuldung. Johnson treibt die Planungen für einen No-Deal-Brexit energisch voran, wozu neben der Aufstockung eines Krisenfonds auch eine 100 Mio. Pfund teure Informationskampagne gehört. Der Premier will den Brit*innen die Furcht vor dem No-Deal nehmen, der nach gültiger Gesetzeslage am 31. Oktober eintritt. Zur Vorbereitung auf den Ernstfall kündigte er Ausgaben von 2,1 Mrd. Pfund an, zusätzlich zu den 4,2 Mrd. Pfund der Vorgängerregierung.
Am Drehbuch des Brexits gibt es für Johnson keine Zweifel oder offene Punkte: »Wir werden die EU verlassen, mit oder ohne Deal, wir müssen uns aber auch auf einen No-Deal-Austritt vorbereiten.« Nach seiner Einschätzung ist das britische Parlament grundsätzlich ebenfalls der Ansicht, dass Großbritannien die EU verlassen wird, nur sei dies Brüssel nicht ausreichend klargemacht worden. Es gehe darum, vollständig aus der EU auszusteigen und das Thema Brexit endgültig zu begraben. »Wir können und müssen das.« Es gibt bislang keine Ansätze, das umstrittene EU-Austritts-Abkommen neu zu verhandeln, was freilich wegen der Festlegungen der 27 EU-Mitglieder und der EU-Kommission als nahezu aussichtslos gilt. Daher verfolgt die Regierung das Ziel, einen ungeordneten Brexit Ende Oktober in Kauf zu nehmen mit anschließenden Neuwahlen. Und die Regierung agiert, als wäre das Land bereits offiziell im Wahlkampfmodus.
Das Ringen zur Abwendung des Chaos-Brexits
Bevor das britische Parlament sich bis zum 3. September in die Sommerferien begeben hat, hat es mit deutlicher Mehrheit einem Vorschlag zugestimmt, der es Johnson erschweren soll, Ende Oktober gegen den Willen des Parlaments einen vertragslosen Brexit durchzusetzen. Die Abgeordneten stimmten mit 315 gegen 274 Stimmen einer beiläufigen Ergänzung eines Nordirland-Gesetzes zu, mit dessen Kern die Aufhebung der Teilautonomie Nordirlands vorbereitet wird. Der Zusatz zwingt die Regierung, im September und Oktober regelmäßig Bericht über die Materie zu erstatten, und – das ist entscheidend – entsprechende Unterhausdebatten zuzulassen. Das ändert aber nichts an der Default-Situation, dass das Land am 31. Oktober aus der EU austritt. Zudem macht die Regierung deutlich, man könne den Widerstand einer Mehrheit der Abgeordneten im Unterhaus gegen einen No-Deal-Brexit umgehen, indem die Regierung die Queen in den Wochen vor dem Brexit-Stichdatum des 31. Oktobers auffordert, die sonst auf ein Jahr begrenzte, jetzt aber schon zweieinhalb Jahre laufende Sitzungsperiode des Parlaments zu beenden, um dann nach vollzogenem Austritt mit einer Regierungserklärung die derzeitige Legislaturperiode fortzusetzen
Der britische Premierminister hat also nicht ausgeschlossen, das Parlament zu umgehen, um einen No-Deal-Brexit zu erzwingen. Die Frage, ob das Parlament einen No-Deal-Brexit stoppen könnte, bejahte der Vorsitzende des Unterhauses, John Bercow, ohne zu zögern. Britische Verfassungsexperten sehen dies zum Teil anders. Seine jetzigen Warnungen an die Adresse des Premierministers sind jedenfalls ein klares Zeichen dafür, dass Bercow gewillt ist, mögliche verfahrenstechnische Vorstöße der Regierung im Parlament mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu konterkarieren.
Im Unterhaus steht die Regierungsmehrheit von Johnson auf Messers Schneide. Weil die Konservative Partei in der Parlamentswahl von 2017 eine eigene Mehrheit verfehlte, schmiedete sie ein Bündnis mit der nordirischen DUP. Einige Abgeordnete haben die Tory-Fraktion seitdem verlassen. Mit der aktuellen Verteilung von 320 Plätzen für die Regierungsseite und 319 Sitzen für die Opposition beträgt der Vorsprung nur noch eine Stimme.
Eine Mehrheit der Abgeordneten im Unterhaus will den No-Deal-Brexit verhindern, doch es herrscht keine Einigkeit darüber, wie das gelingen kann. Denkbar wäre, dass die Abgeordneten der Regierung die Kontrolle über den Parlamentskalender entreißen und eine Verlängerung der Brexit-Frist per Gesetz erzwingen. Aber auch ein Misstrauensvotum gegen Johnson und eine Übergangsregierung sind in der Diskussion. Für beides ist jedoch notwendig, dass sich die zerstrittene Opposition nicht nur auf ein gemeinsames Verfahren einigt, sondern auch aus der kleinen Schar proeuropäischer Tory-Abgeordneter Unterstützung erhält.
Der Vorsitzende der Labour Party und Oppositionsführer, Jeremy Corbyn, hat vorgeschlagen, mit einem Misstrauensvotum gegen Premierminister Johnson einen Brexit ohne Abkommen zu verhindern. Er hat in einem Brief an die Vorsitzenden der oppositionellen Parteien sowie an drei No-Deal-Kritiker der regierenden Konservativen den Vorschlag einer Abwahl unterbreitet. Corbyns Plan sieht vor, dass er selbst als vorübergehender Premierminister eingesetzt wird und dann eine Verschiebung des Brexit-Datums erreicht, Neuwahlen ausruft und ein neues Brexit-Referendum auf den Weg bringt. Dieser Vorschlag wird von der zweitgrößten Oppositionspartei, der schottischen SNP, und der walisischen Volkspartei voll unterstützt. Zögerlich sind die Liberaldemokraten, die sich nach den Erfolgen bei Kommunalwahlen und der Europawahl auch bei einer vorgezogenen Neuwahl auf eine Vervielfachung ihrer Mandate auf Kosten der Konservativen und der Labour Party setzen.
Genauso umstritten sind verschiedene Vorschläge für eine »Übergangsregierung der nationalen Einheit«. Die Abgeordnete der Grünen, Caroline Lucas, hat die Bildung eines Übergangskabinetts vorgeschlagen, das ausschließlich mit Frauen aus allen Fraktionen besetzt wird. Auch der proeuropäische Alterspräsident des Unterhauses, Ken Clarke, der sich selbst vergeblich um den Parteivorsitz der Konservativen Partei bemüht hatte, dann von 1993 bis 1997 als Finanzminister amtierte und heute überparteilich großen Respekt genießt, hat erklärt, dass er als Premier für eine Übergansregierung zur Verfügung steht. Der 79-Jährige reagierte damit auf einen Vorschlag der neu gewählten Vorsitzenden der Liberaldemokraten, Jo Swinson, die zunächst spontan Oppositionsführer Corbyn als Übergangspremier abgelehnt hatte, sich jetzt diesem Vorschlag aber nicht mehr ganz verschließen will.
Der Hintergrund für ihre Korrektur ist offensichtlich. Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU ohne Abkommen mit den chaotischen Folgen sowohl für EU-Bürger*innen im UK und UK-Bürger*innen in der EU, mit den Disruptionen in den gegenseitigen Handelsbeziehungen und den nachfolgenden zusätzlichen gravierenden Restriktionen für die in den Krisenabschwung eingetretenen Volkswirtschaften lässt sich bis zum 31. Oktober nur noch auf drei Wegen erreichen: Rücknahme des Austrittsantrags, Verschiebung des Austrittstermins oder Annahme des vorliegenden Abkommens. Die Regierung Johnson lehnt alle drei Wege rundweg ab. Die verbleibenden Sitzungstage reichen nicht aus, entsprechende Gesetzesinitiativen durchzubringen. Der einzige Ausweg zu Verhinderung des No-Deal-Brexits ist die Abwahl der amtierenden Regierung mit dem Ziel, mit dem Europäischen Rat eine Verschiebung des Austrittstermins zu vereinbaren.
Der Misstrauensantrag gegen die britische Regierung kann aber einzig und allein vom Oppositionsführer persönlich eingebracht werden. Corbyn, die Labour-Parteiführung und der Labour-Fraktionsvorstand sind allen anderen Oppositionsparteien mit dem Kompromiss, der mit dem Vorschlag der Unterstützung einer Labour-Übergangsregierung verbunden ist, weit entgegengekommen. Dabei haben sie den Bewegungsraum des Beschlusses zur Brexit-Politik des Labour-Parteitags vom September 2018 voll ausgeschöpft. Der Beschluss sah eine zeitliche Sukzession in der Abwehr eines No-Deal-Brexits vor: Zunächst Drängen auf ein Brexit-Abkommen mit Verbleib in einer Zollunion und enger Anbindung an den EU-Binnenmarkt; im Falle des Scheiterns Erzwingung von Neuwahlen; und Unterstützung eines neuen Referendums für den Fall, dass auch Neuwahlen nicht durchzusetzen sind.
Der Misstrauensantrag, der unmittelbar in der ersten Septemberwoche einzubringen ist, zielt darauf ab, dass innerhalb von 14 Tagen der jetzige Oppositionsführer im Parlament eine Mehrheit erhält, um eine Übergangsregierung zu bilden. Der Übergangspremier Corbyn hätte allein drei Aufträge umzusetzen: die Zustimmung aller EU27-Staaten zur Verlängerung der Austrittsfrist einzuholen; den Antrag zur vorzeitigen Auflösung des Parlaments zu stellen, der von zwei Drittel der Abgeordneten unterstützt werden muss, damit Neuwahlen stattfinden können; und die Vorbereitungen für ein zweites Referendum einzuleiten. Die Beschränkungen einer Übergangsregierung in Kauf zu nehmen, ist eine politisch heikles Manöver. Denn die Labour Party setzt ihre bisherige strukturelle Mehrheitsfähigkeit in beiden Brexit-Lagern, bei Befürwortern wie Gegnern, aufs Spiel.
Bei der Parlamentswahl 2017 war es der Labour Party gelungen, mit dem Schwerpunkt der Anti-Austeritätspolitik und einer alternativen Wirtschafts- und Sozialpolitik in beiden Lagern breite Unterstützung zu mobilisieren und in Mandate umzusetzen. Ihr Vorschlag zur Neupositionierung des UK in Europa war hierin eingebunden und zielte darauf ab, mit dem Verbleib in der Zollunion und bei enger Anlehnung an den Binnenmarkt nicht nur einen neuen gesellschaftlichen Konsens für die Entwicklung in Britannien vorzubereiten, sondern auch in der Europapolitik. Die Kehrtwende von der Gestaltung eines möglichst »weichen« EU-Austritts hin zur Unterstützung eines zweiten Referendums mit dem Ziel der Revision des Brexit-Votums gefährdet die Konsolidierung und Ausweitung der Wählerbasis für eine alternative Gesellschaftsentwicklung. Der Einsatz der Labour Party zur Verhinderung eines Chaos-Brexits ist exzeptionell hoch, und doch findet ihre Politik des Ausfallschritts auf dem Kontinent weder Anerkennung noch Unterstützung.
Die Blockade innerhalb der britischen Opposition hat nicht die Labour Party zu vertreten. Es ist grotesk, dass die einzige Person, die in ihrer durch Partei- und Parlamentswahl legitimierten politischen Funktion den Antrag zu Abwahl der nationalistischen Regierung mitsamt ihrer rechtspopulistischen Handlungsorientierung stellen kann, auf die Bildung einer Übergangsregierung verzichten soll. Corbyn warb beim EU-Referendum fürs »Bleiben und Erneuern«. Liberaldemokraten und konservative Johnson-Gegner*innen wissen, dass das »Erneuern« für die Abkehr von neoliberaler Austeritätspolitik steht. Sie können nicht beides haben: den Verbleib in der EU und die Fortsetzung der Austeritätspolitik, ohne auch nur die kleinste Perspektive für eine andere gesellschaftliche Entwicklung einzuräumen.
Die anhaltenden Denunziationen der Person Corbyn und der Anti-Austeritätspolitik der Labour Party seitens der politischen Gegner im UK und der nationalistischen britischen Medien befördern, dass bei vorgezogenen Neuwahlen oder in einem zweiten Referendum die Brexit-Befürworter der Neuen Rechten in Brexit-Partei und Konservativer Partei ihre Mehrheitsposition behaupten. Die Diskreditierung und Missachtung Corbyns und der britischen Oppositionsparteien insgesamt in nahezu allen europäischen Regierungen unterstützt diese Entwicklung, wobei die Rückwirkungen eines Chaos-Brexits auf die weitere Stärkung rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien in den EU27-Ländern unterschätzt werden. Das mediale Echo auf dem Kontinent, von der einst liberalen Neuen Zürcher Zeitung bis zur konservativen FAZ, verballhornt dann den Zusammenhang von nationalistischer Verschiebung vom Konservativismus zum Rechtspopulismus und zivilgesellschaftlicher und politischer Gegenwahr zur faden Geschmackslosigkeit, der »Altsozialist« und »EU-Skeptiker« Corbyn koche dasselbe Süppchen wie der »skrupellose Machtmensch« Johnson.
Der Brexit der englischen Nationalisten
Der No-Deal-Brexit wurde im Verlauf des Jahres 2019 mit dem Scheitern von Premierministerin Theresa Mays Austrittsvertrag im Parlament, dem Amtsantritt von Boris Johnson und der politischen Blockade im Unterhaus immer wahrscheinlicher. Über die zu erwartenden Folgen herrscht kein Konsens, sie dürften aber auf jeden Fall für Großbritannien schwerwiegender ausfallen als für die EU-Staaten. Unter Brexit-Befürworter*innen wird zwar argumentiert, dass in einem solchen Fall der Handel einfach nach dem Regelwerk der Welthandelsorganisation WTO ablaufen würde. Das mag theoretisch zutreffen, doch ein abrupter Übergang würde zu starken Störungen im wirtschaftlichen Verkehr zwischen Großbritannien und dem Kontinent führen, die beiden Seiten schaden würden.
Fakt ist aber auch, dass Premier Johnson mit seiner Regierung immer noch über großen Rückhalt in der Bevölkerung verfügt. Johnson bezeichnet den Ausstieg Britanniens aus der EU als eine tolle Chance für sein Land, global zu werden. Im Gegensatz zu den krisengeschüttelten 1970er Jahren, als sich Großbritannien der Europäischen Gemeinschaft (EG) anschloss, befinde sich das Land nun in einer beeindruckend soliden Verfassung. Seit zehn Jahren sei die Arbeitslosigkeit nicht mehr so tief gewesen, und auch die Direktinvestitionen seien nicht wie befürchtet eingebrochen, sondern hätten im vergangenen Jahr Rekordmarken erzielt, argumentiert Johnson. Kaum eine andere Metropole sei so vielfältig, prosperierend und eine so beliebte Destination für die Universitätsausbildung wie die Hauptstadt London, deren Bürgermeister Johnson von 2008 bis 2016 war. Im Gegensatz zur wirtschaftlichen Situation zu Zeiten des EU-Beitritts finde jedoch nun das Wachstum außerhalb des europäischen Wirtschaftsraums statt. Als Nicht-EU-Land könne Großbritannien nach eigenem Gutdünken Freihandelsabkommen mit anderen Ländern abschließen.
Den zähflüssigen Prozess des Brexits, der Großbritannien seit Monaten in einem Zustand des politischen Krisenfalls gefangen hält, erklärt sich Johnson mit dem kulturellen Zusammenprall zwischen dem parlamentarischen Prozess einerseits und dem Verdikt der britischen Bürger*innen, die sich in einem Referendum für den Brexit ausgesprochen hatten, andererseits. Eine Wiederholung der Abstimmung lehnt er ab, das sei eine sehr schlechte Idee und würde ohnehin das gleiche Ergebnis zeigen. Johnson verwies in seinen Ausführungen wiederholt auf Winston Churchill, den britischen Premierminister, der das Land während des Zweiten Weltkriegs geführt und sich nicht vor harten Entscheidungen gedrückt habe. Churchill habe auch mit den entsprechenden Konsequenzen gelebt. Darin erblickt Johnson offenbar Parallelen. Auch wenn er es nicht explizit sagte, erweckte er doch den Eindruck, dass er sich befugt fühlt, in dessen große Fußstapfen zu treten und Großbritannien aus der EU zu führen. Wie ambitiös er ist, zeigt sich auch darin, dass er den Brexit nicht einmal als die größte Herausforderung und das größte Risiko für sein Land bezeichnete – »das lösen wir«, sagte er –, sondern eine Regierung unter der Labour-Partei von Jeremy Corbyn.
Die Veränderungen, die der Kampf um den Brexit in Großbritannien in den letzten drei Jahren angerichtet hat, sind verheerend. Das Ansehen der Administration und des britischen Parlaments sind massiv erschüttert und am Überleben des Parteiensystems gibt es zurecht massive Zweifel. Hinter dem Ansehensverlust der Institutionen der britischen Demokratie steht ein grundlegender Verlust an Vertrauen in die britische Classe politique der letzten Jahrzehnte. Bei Teilen der Bevölkerung haben sich Überdruss, Wut und Apathie angesichts der Unfähigkeit der politischen Akteure ausgebildet. An die Stelle der britischen Kultur des argumentativen Disputs mit den gerühmten Tugenden von Pragmatismus und Common Sense hat sich ein sektenhafter Rigorismus breitgemacht.
Angesichts des Zieles der Rückgewinnung der nationalen Souveränität hat sich eine fundamentalistische, ausgrenzende Sichtweise durchgesetzt, deren Bindung an die Realität doch erhebliche Zweifel aufkommen lässt. Von daher wird der Widerspruch verständlich, dass die Verfechter einer nationalistischen Ökonomie und nationalistischen Souveränität selbst die Gefahr für den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs im Falle eines vertragslosen Brexits weitgehend ignorieren. Die Brexit-Hardliner adressieren die Abspaltung Schottlands, die neuen, bisher nicht vorhandenen Sezessionsbestrebungen in Wales und das Ende der konstitutionell verbrieften Konsenspolitik in Nordirland und setzen darauf, dass ihr als »Unionismus« verbrämter Nationalismus das Königreich zusammenhält.
US-Präsident Trump bedient die Klaviatur des amerikanischen Traums, die Sehnsucht nach einer Zeit, da jede/r Amerikaner*in reich werden konnte, wenn sie/er sich nur genug anstrengte. Boris Johnson fantasiert vor den Wähler*innen über die Ära des Empire, eine traditionelle Gesellschaftsordnung, in der alle glücklich waren am ihnen zugewiesenen Ort. Beide beschwören die Geister einstiger berühmter Verfechter von Freiheit (primär für weiße Männer) und nationaler Souveränität. Boris Johnson verspricht allen, was sie hören wollen. Nach dem Rücktritt Theresa Mays sagte er, mit ihm als Nachfolger werde Großbritannien Ende Oktober aus der EU austreten, »deal or no deal«. Tory-Hardlinern sichert er zu, er werde das Parlament auflösen, sollte es sich ihm in den Weg stellen. Gemäßigten Konservativen bietet er sich als Politiker an, der das Land einigen werde. Der Glaube, Johnson werde die Nation zusammenhalten können, ist reines Wunschdenken. Allerdings: Nicht der Politiker Johnson mit seinen Imaginationen, Halbwahrheiten und Übertreibungen etc. ist das Problem, sondern die Bürger*innen, die ihm folgen. Das politische Leben von Boris Johnson war durch nichts anderes geprägt als Geschwätzigkeit, Ruhmsucht und persönlichen Ehrgeiz. Politische Ziele und Werte, Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit oder das öffentliche Interesse, all das spielte keine Rolle. Die Quittung ist die Verwüstung der politischen Kultur.