20. Mai 2020 Bernhard Sander: Deutsch-französischer Schulterschluss
Mit der EU aus der Krise?
Mit einem Rückgang der wirtschaftlichen Leistung um -5,8% gegenüber dem Vorquartal ist Frankreich das wirtschaftlich am heftigsten von der Corona-Krise betroffene Land der EU. Mit 25.000 Toten, 25.000 Covid-19 Opfern in den Krankenhäusern und mit 3.800 beatmeten Patient*innen ist das Gesundheitssystem am Anschlag, in einzelnen Regionen auch jenseits der Kapazitätsgrenzen.
Während das Land versucht, je nach Département in einer Fünfstufenstrategie aus der Viruskrise herauszufinden, werden weitreichende Entscheidungen getroffen. So werden Aktienverkäufe erschwert, nachdem die Börsenkurse zu Beginn der Krise in den Keller gerauscht waren und Unternehmen damit anfällig für ausländische Übernahmen wurden.
Die La République en Marche-Fraktion (LREM) in der Nationalversammlung musste unterdessen eine weitere Abspaltung hinnehmen. Die Bewegung von Präsident Emmanuel Macron verliert damit ihre absolute Mehrheit, kann sich aber weiterhin auf die Funktionspartei Mouvement démocrate (MoDem) stützen. Zugleich haben sich 17 ehemalige Macronisten zu einer Fraktion »Ökologie-Demokratie-Solidarität« zusammengetan. Die Gruppierung sieht das Land an einem Gabelpunkt: »Das alte Produktions- und Konsum-Modell zu reparieren oder sich vom Stabilitätspakt trennen, um unsere Lebensweise zu reorganisieren, aus den fossilen Energien auszusteigen, im Respekt für die soziale Gerechtigkeit.« (Libération, 19.5.2020)
Man arbeite an der ökologischen Einheit mit den Grünen. Gegenüber der Linken sei man skeptisch, da diese für die sieben Mrd. Euro Beihilfe für Air France gestimmt habe, ohne ökologische Zugeständnisse zu fordern (beispielsweise das Verbot von Inlandflügen). An der grünen Flanke ist Macron nicht nur durch die Ergebnisse der Kommunalwahlen im März verwundbar, das hatten vorher schon der Rücktritt seines Umweltministers und ein Teil der Gelbwesten-Bewegung deutlich gemacht.
Bereits Ende März hatte EU-Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton, Manager und Finanzminister unter Chirac, in einem Interview die Notwendigkeit eines großen Investitionsprogramms deutlich gemacht: »Jetzt trifft es 456 Millionen Menschen und die Industrie. Wir müssen alles tun, um die Gesundheit der Menschen zu schützen und zugleich die Mittel bereitstellen, um die Industrie zu erhalten, die großen industriellen Ökosysteme aus Großkonzernen und Mittelstand, die das Herz unserer Wirtschaft bilden ... Die Krise wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Sie ändert die Art, wie wir arbeiten, lernen, produzieren. Die digitale Transformation wird durch diese Krise beschleunigt. Aber auch Themen wie der Umweltschutz drängen stärker nach vorne.« (FAZ, 31.3.2020)
Das Narrativ des französischen Staatspräsidenten lautet einerseits: »Diese Pandemie hat schon jetzt deutlich gemacht, dass es Güter und Dienstleistungen gibt, die außerhalb der Marktgesetze gestellt werden müssen.« Damit nimmt er der Linken viel Wind aus den Segeln. Vor allem die Gewerkschaft CGT verstärkt die Agitation gegen die Probleme des Lockdowns: steigende Arbeitsbelastung, hohe Infektionsgefahr des medizinischen Personals, aber auch in der Logistik. Sie ist dabei konfrontiert mit der schon beschlossenen gesetzlichen Verlängerung der Arbeitszeit und noch weitergehenden Forderungen der Arbeitgeber, zur Stabilisierung der Unternehmen auf bezahlten Urlaub zu verzichten.
Die Kapitalseite hat sich in der Coronakrise als unfähig erwiesen, eine ausreichende Produktion medizinischer Geräte und von benötigten Medikamenten zu organisieren. Daraus leitet die CGT die Notwendigkeit ab, einen großen demokratisch geführten öffentlichen Sektor zu bilden, der keinen Rentabilitätskriterien unterworfen werden darf. Mit dem Konzept der demokratischen Überführung der Unternehmen und des Managements in öffentliche Verantwortung will die CGT langfristig ein neues Wirtschafts- und Sozialmodell jenseits des Kapitalismus populär zu machen.[1]
Andererseits betont Macron: »Unsere Priorität ist es heute, mehr in Frankreich und in Europa zu produzieren.« (FAZ, 3.4.2020) Der überzeugte Freihändler Macron reagiert damit nicht nur taktisch auf die national-protektionistischen Angriffe seiner einzig relevanten politischen Gegner vom rechtspopulistischen Rassemblement National. Vielmehr beweist die Positionierung des US-Präsidenten im amerikanischen Corona-Chaos die von Macron seit seiner Sorbonne-Rede immer wiederholte These, Frankreich könne nur in einem starken und unabhängigen Europa seine Zukunft sichern.
Allerdings war bisher seitens der EU-Kommission nur Zaghaftes zu vernehmen. Die jetzt von Emmanuel Macron und Angela Merkel ergriffene Initiative für einen europäischen Wiederaufbauplan könnte für Frankreich tatsächlich ein Rettungsanker werden und Teilen von Macrons Opposition den Wind aus den Segeln nehmen.
Die deutsch-französische Initiative übertrifft im Volumen bisherige Vorschläge aus Brüssel (320 Mrd. Euro), bleibt aber hinter den französischen Vorstellungen (1,0 bis 1,5 Bio. Euro) weit zurück. Der jetzt vorgeschlagene Fonds soll in den EU-Haushalt integriert werden, also die Kommission gegenüber den nationalen Regierungen stärken. Er soll in Form von Zuschüssen, also nicht rückzahlungspflichtigen Krediten, zur Verfügung gestellt werden. Und er soll nach dem Grad der wirtschaftlichen Betroffenheit unter den Ländern verteilt werden. Die EU soll zur Finanzierung dieses Programms 2021 bis 2027 selbst an die Kapitalmärkte gehen können. Es werden also keine Haftungsverpflichtungen für nationale Altschulden übernommen oder neue nationalstaatliche Anleihen unter gemeinsamer Haftung der EU aufgenommen. Das erweiterte Budget muss in den nationalen Parlamenten ratifiziert werden. Für die Mitgliedstaaten könnte der Mechanismus befristet erhöhte Beiträge bedeuten, zumindest in Form von Garantien.
Der Vorschlag stellt für die deutsche Bundesregierung eine 180-Grad-Wende dar. Sie zieht damit aber offenbar auch gegenüber Frankreich und der Kommission die Notbremse. Kommissionspräsidentin von der Leyen war beauftragt worden, in der kommenden Woche ein Wiederaufbauprogramm vorzulegen.
Inhaltlich folgt der Vorschlag den Ideen Macrons. Merkel und Macron schlagen vor, die EU künftig mit gesundheitspolitischen Kompetenzen auszustatten. Dies soll einerseits mehr gemeinsame Forschung, andererseits gemeinschaftliche Lager- und Produktionskapazitäten für strategische Produkte und Arzneimittel ermöglichen. Dies soll die Kopiervorlage werden für andere »strategische« Industriezweige, um die Abhängigkeit vom außereuropäischen Ausland zu reduzieren. Das reparierte deutsch-französische Tandem nehme damit auch die Schaffung von industriellen Champions auf Weltniveau in den Blick. Die Initiative breche mit den Dogmen der EU bezüglich des Wettbewerbs, in der jede Nation zuerst an sich denke, hofft Le Monde.
Aktuell ist der Vorstoß nicht mehr als eine Diskussionsgrundlage für die Runde der 27 EU-Staaten, die einem solchen Vorgehen zustimmen müssen. Widerstand regt sich bei den sogenannten Nordländern um Österreich und die Niederlande, aber auch bei den osteuropäischen meist national-konservativ bis rechts-nationalistischen Regierungen.
Schon vor dem Corona-Einbruch der Konjunktur bestand die liberale Regierung in Amsterdam darauf, dass wirtschaftliche Struktur- und Belebungs-Programme künftig nur durch Kürzung bei anderen Ausgaben der EU finanziert werden sollten. Sie wehrte damit die Forderung nach Erhöhung der nationalen EU-Beiträge ab, die durch den Brexit und die Kompensation der britischen EU-Beiträge auf die Tagesordnung gesetzt worden waren. Frankreich und auch Teile der deutschen Sozialdemokratie forderten hingegen, eigene steuerpolitische Instrumente zur Finanzierung des EU-Haushaltes einzuführen. Dieser vertagte Streit wird nun auf die Wirtschaftsgemeinschaft mit neuer Heftigkeit zukommen. Mit der Rettung der Fluggesellschaft Air France-KLM (niederländischer Partner), die sieben Mrd. Euro kostet, hat Macron die niederländische Regierung gleichwohl ein wenig beruhigen können.
Wenige Tage nach dem zweifelhaften EZB-Urteil des deutschen Verfassungsgerichts stellt die deutsch-französische Initiative auch eine Absage an die Re-Nationalisierung dar, wie sie in Frankreich vor allem von Marine Le Pens rechter Sammlungsbewegung betrieben wird. Gelingt der massive Transfer in die Regionen, die wirtschaftlich am stärksten von der Pandemie betroffen sind, stelle dies einen enormen Fortschritt in der europäischen Integration dar, kommentiert Laurent Joffé, der Herausgeber der Libération.
[1] www.jungewelt.de/artikel/378188.gewerkschaften-in-frankreich-malochen-im-lockdown.html