1. August 2014 Redaktion Sozialismus: Oskar Negt zum 80.
Mit politischer Urteilskraft gegen Realitätsverkennung
Der öffentliche Gebrauch von Vernunft ist für Oskar Negt, der vor 80 Jahren am 1. August in der Nähe von Königsberg zur Welt kam, Leitlinie seines politischen Lebens gewesen. Das Kantsche Programm, das er Jürgen Habermas zu dessen 80. Geburtstag im Jahr 2009 attestierte, ist auch sein eigenes: Aufklärung als Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Zwischen dem politischen Intellektuellen und dem Wissenschaftler Negt brechen keine Gräben auf, sondern besteht weitgehende Identität.
Das war wohl angelegt im Elternhaus nahe Königsberg, dessen Vater »der einzige sozialdemokratische Bauer weit und breit« war, setzte sich fort in der Flucht mit zwei Schwestern im Januar 1945 nach Dänemark und prägte nach dem Besuch der Oberrealschule in Oldenburg seine wissenschaftlich-politische Vita: Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen, dann der Soziologie und Philosophie in Frankfurt a.M. bei Horkheimer und Adorno; Promotion bei letzterem über den Gegensatz von Positivismus und Dialektik bei Hegel und Comte; Assistent von Habermas in Heidelberg und Frankfurt von 1962 bis 1970 mit der Habilitation zur Theorie der Arbeiterbildung; dann der Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Hannover von 1970 bis zur Emeritierung 2002.
Damit verwoben die Arbeit im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) ab 1956, die ihn schließlich zu einem der Wortführer der Außerparlamentarischen Opposition ab 1966 machte. Hierbei war der Bezug zu Marxscher Theorie und Arbeiterbewegung essenziell. Weniger institutionell: Nach einem Praktikum in der Bildungsabteilung der IG Metall unter Hans Matthöfer war er nur kurze Zeit faktischer Leiter der DGB-Bundesschule Oberursel. Dafür sind Aufgaben, Themen und Methodik der Bildungsarbeit sein Arbeitsfeld bis heute, angefangen mit der Buchveröffentlichung »Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen«.
Oskar Negt hat auch immer wieder versucht, in kritischen Knotenpunkten der Nachkriegsentwicklung in der Sozialdemokratie eine selbstkritische Reflexion anzuregen: in der Zeit des Übergangs von einer Kapitalismuskritik einschließenden und antimilitaristischen Haltung, über die Anerkennung der kapitalistischen Marktwirtschaft, bis hin zur Logik einer Entfesselung des organisierten Kapitalismus im Zeitalter des Neoliberalismus.
Die mit Beharrlichkeit vorgetragenen Hinweise auf den Krisencharakter der Kapitallogik in der bürgerlichen Gesellschaft und die Notwendigkeit eines Utopieüberschusses bei der praktischen Gesellschaftsgestaltung haben allerdings kaum nachhaltige Wirkungen gezeitigt. Den erneuten Eintritt in eine Große Koalition mit den Christdemokraten lehnte Oskar Negt 2013 entschieden ab.
Diese Vita bleibt unvollständig ohne sein unermüdliches Wirken für reformpädagogische Ziele und Praxis mit der Gründung der Glockseeschule in Hannover 1972 – in »Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche« (Göttingen 1997) aufgearbeitet. Über zehn Jahre leitete Oskar Negt die wissenschaftliche Begleitung der Schule.
Das große Werk des politischen Intellektuellen Negt liegt frisch zu seinem 80. Geburtstag in einer 19 bändigen Werkausgabe bei Steidl in Göttingen zur erneuten und Neu-Rezeption vor. Dessen zeitdiagnostische Aktualität kreist um die Transformation von Krisen- in Erkenntniszeiten, die Überwindung von Erniedrigung, Ausbeutung und Ausgrenzung, die Sicherung und wirtschaftsdemokratische Fundierung sozialer und politischer Demokratie – und damit das Erbe der Aufklärung.
Zusammenfassend: »Die gravierende Polarisierung von Arm und Reich lässt sich mit der Situation vor der Französischen Revolution durchaus vergleichen: Wenige haben, damals wie heute, gewaltige Reichtümer angehäuft, viele sind verarmt, der Mittelstand erodiert. Dennoch haben wir es heute mit einer Form des Kapitalismus zu tun, der in die Subjekte buchstäblich übergegangen ist. Die Bindungen der Menschen sind gelockert, Loyalitäten lösen sich auf, ein Phänomen, das sich als kulturelle Erosionskrise umschreiben ließe. Gegenwärtig befinden wir uns in einem Orientierungsnotstand. Trotz intensiver Suchbewegung ist noch nichts Neues in Sicht. Erst wenn Alternativen sichtbar werden, wandeln sich Krisen- zu Erkenntniszeiten. « (Interview in Wiener Zeitung, 19.6.2014).
Wir gratulieren zum 80. Geburtstag!
Und dokumentieren aus diesem Anlass ein Interview mit Oskar Negt, das die Redaktion dieser Zeitschrift im Jahr 2011 geführt hat.